# taz.de -- Instrumentalisiertes Auschwitz-Gedenken: Bizarre Interpretationen
       
       > 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz werden die Opfer zur
       > Manövriermasse. So wird das Gedenken zur Staffage.
       
 (IMG) Bild: Das Erinnern an die Ermordeten sollte sich nur um sie drehen
       
       Sie sind noch am Leben, die [1][letzten Zeitzeugen] von Konzentrations- und
       Vernichtungslagern der Nazis. Aber ihre Stimmen werden leiser. Und mit
       jedem Überlebenden, der verstirbt, verschwindet auch ein Stück der
       Erinnerung an diese Menschheitskatastrophe. Die Zahl der Dokumente über die
       Verbrechen und der Interviews mit den Opfern mag gewaltig sein, die
       Beweislast gegen die deutschen Täter erdrückend – aber nichts kann die
       Stimmen derjenigen ersetzen, die aus eigenem Erleben von den Gräueltaten
       berichten.
       
       Parallel zum Tod der letzten Zeugen aber ist zu beobachten, dass der
       Massenmord an Juden, Sinti und Roma zunehmend dazu benutzt wird, um daraus
       eigene Legenden zu entwickeln. Der Holocaust wird als bloße Oberfläche für
       nationale Narrative missbraucht, um den eigenen Staat als Inkarnation des
       Guten darzustellen, anderen Völkern aber eine Kollaboration mit den Nazis
       zu unterstellen, um sie so zum bösen Feind abzustempeln.
       
       Nichts anderes geschieht [2][derzeit zwischen Russland und Polen]. Wenn
       Wladimir Putin Polen unterstellt, unter ihnen hätten sich die schlimmsten
       Antisemiten befunden, dann geschieht dies, um die eigene historische
       Verantwortung zu leugnen. Wenn die polnische Regierung als Reaktion mit dem
       Hinweis auf die verheerenden Folgen des Hitler-Stalin-Pakts antwortet, hat
       sie recht. Aber sie minimiert auch die Bedeutung der sowjetischen
       Streitkräfte für die Befreiung Europas, wobei diese wiederum für viele
       Menschen den Beginn einer neuen Diktatur bedeutete.
       
       Mit einer Aufarbeitung von Geschichte hat all das nichts zu tun. Natürlich
       gab es in Polen starke antisemitische Tendenzen. Selbstverständlich hatte
       Stalins Pakt zur Folge, dass Polen als erstes Opfer zweier Diktaturen von
       der Landkarte verschwand. In diesen Erzählungen ist kein Platz für
       Differenzierungen. Tatsache aber ist: Es gibt keine „guten“ und „bösen“
       Nationen, und keine Bevölkerung – auch nicht in den deutsch besetzten
       Gebieten – ist gänzlich frei von Schuld.
       
       Zu den bizarren nationalen Interpretationen zählt, wenn Staaten jeweils
       für sich die höchste Zahl an jüdischen Opfer reklamieren, um damit den
       eigenen Opferstatus zu erhöhen. Die europäischen Juden sind von den Nazis
       aber nicht ermordet worden, weil sie den Pass dieses oder jenes Staates
       besaßen, sondern ausschließlich, weil sie Juden waren.
       
       So werden die Millionen Opfer 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz
       umstandslos zur Manövriermasse für Versuche, die eigene Politik im 21.
       Jahrhundert zu rechtfertigen und der jeweils eigenen Nation einen
       historischen Heiligenschein zu verleihen. Und auch [3][in Deutschland]
       fehlt es nicht an Versuchen, die Ermordeten für eigene Zwecke zu
       instrumentalisieren – was praktisch ist, denn diese können sich nicht mehr
       wehren. Dass das vor dem Hintergrund eines wachsenden Nationalismus,
       Rassismus und Antisemitismus in ganz Europa geschieht, ist kein Zufall,
       sondern Programm. Dass das Gedenken an die Ermordeten damit zur Staffage
       wird, ist eine Schande.
       
       23 Jan 2020
       
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