# taz.de -- Kunst für die Komponistin Éliane Radigue: Visionärin zerdehnt die Zeit
       
       > Die Ausstellung „Infinité ∞²“ widmet sich der Synthesizer-Pionierin
       > Éliane Radigue. Zu sehen ist sie in der Berliner Galerie „Weisser
       > Elefant“.
       
 (IMG) Bild: Soundkünstlerin Svetlana Maraš zollt Éliane Radigue in ihrer Performance Respekt
       
       Ein Kind schießt seinen Ball am Tor vorbei, durch die Auguststraße
       (Berlin-Mitte) zwängt sich ein Lieferwagen, während ein Blatt nicht vom
       fast kahlen Baum lassen mag: Mittwochnachmittag in der [1][Galerie Weisser
       Elefant], das Fenster lehnt sich ans Himmelgrau an.
       
       Drinnen jedoch drehen sich auf einem länglichen schwarzen Tisch vier
       leuchtend farbige LPs, deren Endlosrillen allerhand Geräuschschleifen
       produzieren: Hellgrün entlockt sich ein majestätischer Glockenloop,
       Dunkelgrün ein Rascheln aus dem Unterholz, Korallenrot das Zischen einer
       Hi-Hat, Minimal-Techno nicht unähnlich. Eine sonnengelbe Platte schließlich
       wartet mit einem seltsam verschwommenen Pochen auf.
       
       Die sich verzahnenden Sounds können von Besuchern selbst gemixt werden, es
       empfiehlt sich, Zeit mitzubringen. Kopfhörer liegen bereit, und auf einem
       Wandboard stehen noch weitere Platten in Braun, Blau, Orange und Weiß. Und
       dann ist da noch etwas: Den LPs ist neben das Mittelloch ein zweites
       gebohrt, abspielen lassen sie sich in allen Geschwindigkeiten, der
       Möglichkeiten sind viele.
       
       „bausatz noto ∞“ hat Carsten Nicolai diese Installation genannt, sie bildet
       einen von insgesamt fünf Räumen der Ausstellung „Infinité ∞²“. Gewidmet ist
       sie der französischen Komponistin Éliane Radigue, seit den 1950er Jahren
       Protagonistin der elektronischen Musik. Wie Delia Derbyshire und Suzanne
       Ciani macht auch Éliane Radigue klar, dass der Synthesizer nicht allein den
       [2][bleichen, übernächtigten Jungs] gehört.
       
       ## Das Enkelkind als Musikinstrument
       
       Radigue hat bei Pierre Schaeffer, dem Urheber der Musique concrète, und
       seinem Partner Pierre Henry studiert. Wie jede gute Schülerin hat sie sich
       irgendwann von ihren Lehrern emanzipiert, ohne sie zu vergessen.
       Ehrensache, dass Radigues [3][Musik in der Ausstellung] zu hören ist: In
       die Mitte der künstlerischen Beiträge von Cécile Dupaquier und Harriet
       Gross ist ein Abspielgerät platziert, auf Wunsch können die Besucher:Innen
       sich Radigues Komposition „Biogenesis“ anhören.
       
       Eine Musik, die für ihre Komponistin charakteristisch sein mag: Sie wirkt
       statisch, ist es aber natürlich nicht, sie dehnt die Zeit und setzt auf
       Langsamkeit. Radigue hat „Biogenesis“ 1973 geschrieben und realisiert,
       indem sie mit einem Mikrofon und Stethoskop den Bauch ihrer schwangeren
       Tochter und den Herzschlag ihres künftigen Enkelkinds aufnahm. Ein Jahr
       später wurde das Werk aufgeführt, und kurz darauf konvertierte Radigue zum
       tibetanischen Buddhismus. Das Abspielgerät der Ausstellung ist Teil eines
       adäquaten Altars.
       
       Übrigens werden die Besucher gefragt, ob während des Anhörens die Tür zum
       Raum geschlossen werden soll. Eine klare Empfehlung auszusprechen, ist
       schwer. Einerseits leuchtet es ein, Musik von Radigue sollte möglichst
       konzentriert gehört werden. Andererseits empfiehlt die Komponistin, für
       eines ihrer Stücke zwei Abspielgeräte gleichzeitig einzusetzen.
       
       Und hier kommt die Anlage der Ausstellung ins Spiel: Bei geöffneter Tür
       nämlich mischen sich die Klänge der anderen Installationen und Objekte in
       Radigues Musik, und es entstehen, ähnlich Nicolais Raum, erstaunliche
       Überlagerungen und Verschachtelungen. Damit nicht genug, je nach Standort
       ändern sich die Sounds: Ein Schritt hinaus in den Flur, und unter das
       flächige Brummen mischt sich etwas wie ein Morsegerät in Zeitlupe.
       
       ## Exklusive Stücke der Künstlerin
       
       Wer sich zwischen die Räume von Robert Lippok und Svetlana Maraš stellt,
       kann ein Klangensemble vernehmen, das direkt aus dem legendären Album
       „Soliloquy For Lilith“ von Nurse With Wound stammen könnte, einem Klassiker
       der Drone-Musik. Radigue dem stilistisch zuzuschlagen ist strittig; ihr
       Einfluss auf die experimentellen Industrialbands von Steven Stapleton bis
       Coil steht fest.
       
       Am 24. Januar feiert Éliane Radigue ihren 88. Geburtstag. Dazu erscheint
       auch eine CD: „Infinité ∞² – pour Éliane Radigue“ in der edition galerie
       weisser elefant No. 4 mit exklusiven Stücken von alva noto, Robert Lippok,
       Band Ane, Schloss Mirabell. Svetlana Maraš wird in den Galerieräumen ein
       Konzert bestreiten. Die Komponistin ist künstlerische Leiterin des
       Elektronikstudios von Radio Belgrad. Und das wäre die nächste Geschichte,
       doch sie gehört auch zu dieser hier.
       
       26 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.galerieweisserelefant.de/
 (DIR) [2] /Club-Griessmuehle-in-Gefahr/!5655631
 (DIR) [3] /CTM-Festival-in-Berlin/!5657706
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Robert Mießner
       
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