# taz.de -- Briefroman der Nachkriegstzeit: Hoffnung auf die Atlasameise
       
       > 70 Jahre nach ihrem Tod erscheint ihr letzter Roman: Susanne Kerkhoffs
       > Roman „Berliner Briefe“ berichtet von den Dämonen der Nachkriegszeit.
       
 (IMG) Bild: Die Schriftstellerin Susanne Kerckhoff (1918–1950) 1942
       
       Es war längst überfällig – aus literarischen, politischen,
       zeitdiagnostischen und nicht zuletzt aus Gründen historischer
       Gerechtigkeit: Im Frühjahr 2020, siebzig Jahre nach ihrem Tod, sind Susanne
       Kerckhoffs „Berliner Briefe“, ihr letzter Roman, im Verlag Das kulturelle
       Gedächtnis wieder erschienen.
       
       Lange ist es her, als 1948 der Schriftsteller Wolfgang Goetz den Roman der
       1918 in Berlin geborenen Autorin in seinem Wedding-Verlag veröffentlichte;
       zu lange wurde in Ost und West, sei es stalinistisch oder antikommunistisch
       motiviert, ihr Leben und Werk verschwiegen. Mit der Veröffentlichung dieses
       zeitdiagnostisch „beeindruckenden“ und „literarisch überzeugenden
       Zeitdokuments“, so im Nachwort des Verlegers und Herausgebers Peter Graf,
       gehört nun das Schweigen endgültig der Vergangenheit an.
       
       Die Schatten, die jahrzehntelang Leben und Werk der Schriftstellerin
       verdeckt hatten, wurden bereits mit [1][Ines Geipels] „Die Welt ist eine
       Schachtel – Vier Autorinnen in der frühen DDR: Susanne Kerckhoff, Eveline
       Kuffel, Jutta Petzold, Hannelore Becker“ (Transit Buchverlag 1999) oder mit
       dem von Monika Melchert herausgegeben Band aus Kerckhoffs Werk: „Vor Liebe
       brennen. Lyrik und Prosa“ (trafo Literaturverlag 2003) halbwegs aufgelöst.
       
       Endgültig vollzogen wurde es mit „Die verlorenen Stürme“, dem Nachdruck
       eines früheren Romans, der 1947 auch bei Wolfgang Goetz erschien, sowie mit
       „Das Susanne Kerckhoff Lesebuch: Prosa, Essays Feuilletons“, die Das
       kulturelle Gedächtnis für jeweils 2021 und 2022 angekündigt hat. Damit soll
       Kerckhoffs literarisches Werk, das bis jetzt noch zerstreut vorliegt und
       damit bisher zumeist nur engagierten Experten zur Verfügung stand, einer
       immer größer werdenden Leserschaft zugänglich gemacht werden.
       
       ## Das Ganze stinke zum Himmel
       
       Kerckhoffs „Berliner Briefe“ stehen von vornherein in einem ambivalenten
       Verhältnis zu deren Objekt und damit auch zu sich selbst. In ihnen spiegeln
       sich „Ratlosigkeit und Hoffnung“, schreibt sie in ihrer unter „Dezember
       1947“ datierten Vorbemerkung. „Die belletristische Form wurde gewählt, weil
       dieses Büchlein kein endgültiges, ausgereiftes Credo sein kann. Im
       Zeitgeschehen verdunkeln und erhellen sich die Erkenntnisse. Jeder Tag
       bringt neue Entscheidungen. Beständig bleiben nur die Wachheit des
       Gewissens und der Wille, die Wahrheit unermüdlich zu suchen und ihr zu
       dienen. Daher ist der vorliegende Versuch fehlerhaft – aber er ist
       ehrlich.“
       
       In den hingegen undatierten „Dreizehn Briefen“ an Hans, den in Paris
       lebenden, „humanitären“, imaginären jüdischen Freund, umreißt sie, nun als
       Helene, die Lage in Nachkriegsdeutschland als eine, die kaum schlechter,
       bitterer und verheerender sein könne. Opportunistische Sozialdemokraten,
       Christdemokraten oder korrupte SED-Genossen – das Ganze stinke zum Himmel.
       
       Die Anklage wird radikal erhoben: „Lege Dein Ohr an die deutsche Erde,
       Lieber – vernimm in den heimlichen Drähten den unmittelbaren Kontakt eines
       falschen Summens: Unehrlichkeit, Prahlerei. Es ist Zeit, und es ist zu
       späte Zeit, daß damit aufgeräumt wird. Ich will bei mir selbst anfangen und
       bei mir selbst aufhören, denn ich bin von niemandem zum Richter bestellt“,
       heißt es in ihrem dritten Brief.
       
       Und weiter: „Ach Lieber … Es wird doch immer schlimmer, je länger es her
       ist. Aus dem Wirren der Geschehnisse treten die Schatten dunkler hervor.
       Die Wirren schwinden, aber die Schatten werden größer. Die Gräber der in
       Auschwitz vergasten Freunde sind in mir.“
       
       Doch immer wieder scheint der an Thomas Manns Settembrini aus dem
       „Zauberberg“ geschulte Freund zu mahnen: „Bediene dich deines Verstandes!“,
       dessen verhängnisvolles Abschalten angesichts des Äußersten an jene Grenze
       stößt, in der es nach dem gleichnamigen Buch von Tzvetan Todorov „weder
       Helden noch Heilige“ gibt.
       
       ## Vor Dämonen verschanzt
       
       Erst dann schlägt die ins Unbedingte überspannte Empörung in deren
       „humanitäre“ Bedingtheit um. Und so hält sich die „Naturprotestantin“ wohl
       auch immer wieder an einem letzten Rekurs fest: an Luthers Tintenfass als
       aufblitzendem Licht von Vernunft, um sich zu befreien – „von untergründig
       kichernden Dämonen über den losgelassenen Freiheitsdurst, der mit so wilder
       Unschuld in neue Sklaverei lief“. Bloß nicht, gleich Naphta, liederlich
       werden. Nein! „Ich ziehe es vor, mit meinem Settembrini, vor Dämonen guter
       und böser Art verschanzt, auf der Kurpromenade zu plaudern, seiner
       prätentiösen Stimme zu lauschen, die mir nicht Göttin ist – wohl aber
       flächige, sehr geliebte Pflicht!“, womit Helene ihren elften Brief
       abschließt und damit zu einem philosophisch-ethischen Abwägen übergeht.
       
       „Wir Atlasameisen … Die Atlasameise ist ein Träger der Solidarität.“ So im
       darauffolgenden Brief. Ihr Antipode sei der Jäger – elegant und kaltblütig.
       Das Bild folgt Ernst Blochs Begriff des geteilten Lebens: warm –
       gemeinschaftsverbunden; kalt – gesellschaftlich bedingt. „Ich wünschte, mir
       wäre es anders, löschte ich mich selbst aus – den Sieg der Atlasameise. Ich
       bin auch überzeugt davon, daß die Atlasameisen sich vermehrt haben, daß das
       Zeitalter der Atlasameise im Kommen ist. Aber wie sollte ich es Jägern
       verübeln, daß sie ihr Jagdgebiet verteidigen!“
       
       Dennoch: „Deinem Brief nach scheinst Du mir auch eine Atlasameise zu sein.
       Was trennt uns eigentlich? Nur Deine Klugheit – sie ist verdächtig
       jägerlich.“ Und davor das klare Bekenntnis: „Mein Lebensgefühl als
       Sozialist[in] ist inattackabel.“
       
       Angreifbar, verwundbar bleibt sie dennoch, besonders durch das Bewusstsein
       ihrer Spaltungen, die ihr zum Verhängnis werden. Die Welt transzendentaler
       Obdachlosigkeit oder vollendeter Sündhaftigkeit, ein mögliches Schicksal
       von „Atlasameisen“, führt dazu, sich selbst auszulöschen.
       
       ## Der bittere Trank der Enttäuschung
       
       Alfred Seidel ähnlich, dem tragischen Philosophen aus der Weimarer Zeit,
       bleibt sich Kerckhoff radikal treu. Das ist die alte und neue
       Lebensverlegenheit: „Bewusstsein als Verhängnis.“ Da die geistigen,
       sozialen und politischen Prinzipien, die einst noch Zukunft verhießen,
       versagen und zu einer menschenverachtenden Rechtfertigungsideologie werden,
       leitet das Unbedingte den bevorstehenden Tod ein.
       
       Und dennoch, dieses leidenschaftliche Leben hat es offenbar vorgelebt, was
       sonst andere oft in einer an sich verzweifelnden Zeit nicht zu leben gewagt
       haben: „Nur was aus eigener Lebenserfahrung gespeist wird, kann auf fremde
       Lebenserfahrung ansprechen, nur der bittere Trank der Enttäuschung
       sensibilisiert. Der Schmerz ist das Auge des Geistes.“ So der Philosoph
       Helmuth Plessner 1953 in seinem Essay „Mit anderen Augen“.
       
       Am 15. März 1950 beendet die sozialistisch überzeugte 32-jährige Dichterin
       ihr Leben in Berlin. Die Autorin weiterer Romane wie „Tochter aus gutem
       Hause“ (1940), „Das zauberhafte Jahr“ (1940), oder „In der goldenen Kugel“
       (1944); von Gedichtbänden wie „Das innere Antlitz“ (1946), „Menschliches
       Brevier“ (1948) oder „Zeit, die uns liebt“ (1950 posthum „Ein Gedenkbuch
       für Susanne Kerckhoff, mit Beiträgen von Arnold Zweig und Paul Rilla“) wird
       schnell vergessen.
       
       Die Nachrufe verhallen in doktrinärem Getue oder zynischem Hohn. So notiert
       Der Spiegel am 23. März, acht Tage nach Kerckhoffs Tod: „[…] literarische
       Hoffnung des Kommunismus und Kulturressort-Chefin der östlich orientierten
       „Berliner Zeitung“ beging Selbstmord. […] Susannes Halbbruder Wolfgang
       Harich […] hat ebenfalls einen Nervenknacks“ und „zur Zeit eine neue
       Adresse“ – in einer Nervenheilanstalt Thüringens.
       
       Es liegt auf der Hand. So nimmt der kaltkriegerische Zynismus seinen Lauf,
       der auf der anderen Seite mit eisigem Schweigen quittiert wird. Im Westen,
       im Osten damals nichts Neues.
       
       3 Jun 2020
       
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