# taz.de -- Roman über Durchmarsch der Nazis: Wie konnte es dazu kommen?
       
       > Karl Alfred Loesers Roman „Requiem“ zeigt, wie die Nazis die Macht
       > übernehmen konnten. In Zeiten der AfD-Erfolge erkennt man manches wieder.
       
 (IMG) Bild: Mitläufer, Karrieristen, Strippenzieher: SA-Fackelzug am 30. Januar 1933 in Berlin
       
       Wann genau dieser Roman entstand, geht aus dem Nachwort seines Herausgebers
       nicht hervor. Der Autor schrieb ihn im Exil beziehungsweise in seiner
       [1][neuen Heimat Brasilien,] wohin Karl Alfred Loeser in den dreißiger
       Jahren geflüchtet war.
       
       Loeser, der Jude war, kehrte nach dem Krieg nicht nach Deutschland zurück.
       In São Paulo arbeitete er die Jahrzehnte bis zur Rente als Bankangestellter
       und schrieb nebenher Romane und Erzählungen, die zu seinen Lebzeiten
       sämtlich unveröffentlicht blieben. In den neunziger Jahren wurden sie von
       den Erben im Nachlass entdeckt.
       
       Dass Deutschland und das Trauma der Vertreibung trotz der vielen tausend
       Kilometer, die zwischen dem Autor und der alten Heimat lagen, dennoch
       ständig in ihm präsent war, bezeugt dieser nun erstmals veröffentlichte
       Roman sehr eindrücklich. „Requiem“ (ursprünglicher Titel: „Der Fall
       Krakau“) evoziert die angespannte Atmosphäre in einem westdeutschen
       Provinzstädtchen in den dreißiger Jahren.
       
       Die Nationalsozialisten haben bereits die Macht ergriffen, längst sind
       viele Juden von ihren Posten im öffentlichen Leben vertrieben, längst hat
       ein Strom von EmigrantInnen sich auf den Weg gemacht, die Heimat zu
       verlassen. Und trotz aller spür- und greifbaren Veränderungen wollen auch
       viele kluge Menschen nicht wahrhaben, was passiert.
       
       Zu ihnen gehört Erich Krakau, ein herausragender junger Musiker,
       Solo-Cellist am Theater der nicht sehr großen Stadt, in der dieser Roman
       spielt. Krakau, der nur für seine Kunst lebt und vorläufig durch seinen
       Starstatus geschützt ist, hat zwar miterlebt, dass andere jüdische Kollegen
       das Land verlassen haben. Er macht sich aber bislang vor, dass es so
       schlimm schon nicht kommen werde.
       
       ## Der SA-Mann will Cellist werden
       
       Da nimmt eine Intrige ihren Lauf: Fritz Eberle, der unscheinbare Sohn des
       Bäckermeisters und Mitglied des örtlichen SA-Sturmtrupps, hat nach einem
       einigermaßen geglückten Cello-Vorspiel vor wohlmeinendem Publikum auf
       einmal die Idee, ein Posten als Cellist im Stadttheater könne wohl zu ihm
       passen. Da trifft es sich ganz gut, dass der amtierende Solo-Cellist Jude
       ist und eigentlich längst demontiert gehört …
       
       Es ist weit mehr als ein Typenkarussell, das Loeser auffährt, um diese
       Intrige sich entwickeln zu lassen. Seine Charaktere mögen teilweise etwas
       überzeichnet sein, fügen sich aber insgesamt zu einer dichten, beklemmend
       lebensnahen Studie dessen, wie es möglich ist, dass ganz normale
       menschliche Bosheit, trifft sie nur häufig genug auf ganz normalen
       Opportunismus, sich leicht zu einem großen, ernsthaft bedrohlichen Bösen
       formieren kann.
       
       „Galt denn nichts mehr, was früher gegolten hatte, war denn alles anders
       geworden, so furchtbar anders?“, formuliert Loeser die fruchtlosen Gedanken
       der verzweifelten EmigrantInnen, die in seinem Roman auch auftreten.
       
       Die Emigration, die der Autor aus eigener Erfahrung kennt, ist im Roman ein
       Nebenschauplatz, anschaulich gemacht in den Erlebnissen eines jüdischen
       Arztes, der die schwangere Frau des Cellisten noch behandelt, bevor er,
       sehr knapp dem Zugriff der Behörden entronnen, den [2][rettenden Zug nach
       Paris] besteigt. Das Schicksal des Arztes zeigt stellvertretend, dass auch
       mit der Emigration die existenziellen Probleme keineswegs aufhören, auch
       wenn die direkte Bedrohung für Leib und Leben vorbei sein mag.
       
       ## Strippenzieher und Schmierenjournalist
       
       In der Heimat aber sieht Lisa, die nicht-jüdische Ehefrau des Musikers,
       ganz klar, dass eine Flucht ins Ausland der einzige Ausweg aus der
       schwierigen Situation ist, in der ihr Mann steckt – obwohl gerade sie, die
       im Erzähltext oft „die kleine Frau“ genannt wird, von allen für zu zart und
       zerbrechlich gehalten wird, als dass man ihr die Wahrheit über den Zustand
       der Welt zumuten dürfte. Dieses Frauchen-Klischee, das Loeser großzügig
       ausführt, zertrümmert er glücklicherweise selbst mit dem Fortgang der
       Handlung.
       
       Unter den männlichen Charakteren ist Fritz Eberle, der Möchtegern-Cellist,
       der einzige Nazi. Doch geht es ihm vor allem darum, durch die Zugehörigkeit
       zur SA die eigene Bedeutungslosigkeit zu überwinden. Und auch der
       hauptsächliche Initiator der Anti-Krakau-Intrige, ein Schmierenjournalist
       und Strippenzieher, der für das örtliche Naziblatt schreibt, agiert nicht
       aus innerer Überzeugung, sondern wird getrieben von Karrierismus.
       
       Auf der anderen Seite gibt es jene Aufrechten, die immer noch glauben, in
       der Welt trotz allem etwas zum Guten bewegen zu können und die allmählich
       erkennen müssen, dass sie sich geirrt haben. Dazu gehören der Intendant des
       Stadttheaters, der durch den Fall Krakau empfindlich aus seiner Komfortzone
       geholt wird, und ein alter Kriegskamerad, den er um Hilfe ersucht: Dieser
       Kamerad ist inzwischen Gauleiter geworden, hat aber keine Ahnung davon, wie
       sein Stellvertreter, ein brutaler Judenjäger, agiert.
       
       Der Gauleiter ist eine eher blasse, dennoch sehr interessante Nebenfigur,
       hat Loeser darin doch einen Beamtentypus verewigt, wie er, zuverlässig und
       pflichtbewusst, von den Nazis noch eine Zeitlang instrumentalisiert wurde,
       da nicht alle wichtigen Verwaltungspositionen sofort mit
       Gesinnungsfaschisten besetzt werden konnten. Im Roman begeht der korrekte
       Beamte, da er eingesehen hat, dass er mit seinem Wegsehen Gewalt und
       Willkür Vorschub geleistet hat, Suizid.
       
       ## Mechanismen der Ausgrenzung
       
       „Requiem“ ist ein aus der Rückschau entworfener Versuch einer Antwort auf
       die Frage „Wie konnte es dazu kommen?“ Der Roman führt die sozialen
       Mechanismen der Ausgrenzung und der Korrumpierung der öffentlichen Meinung
       sehr nachvollziehbar vor. Loeser beschreibt zahlreiche für die Handlung
       eigentlich unbedeutende Nebenfiguren – etwa die gutmütig-einfältige
       Bäckersfrau, oder einen Polizisten, der im Theater Dienst tut –, um an
       ihnen zu zeigen, dass viele Menschen den Zeichen der neuen Zeit eigentlich
       ambivalent bis ablehnend gegenüberstehen.
       
       Und er zeigt gleichzeitig, wie auch diese Menschen, ob aus ökonomischer
       Notwendigkeit oder aus schlichtem Eigennutz, sich letztlich doch mit der
       nun herrschenden Ordnung arrangieren.
       
       Die Differenziertheit der (meisten) Charaktere bis in Nebenfiguren hinein
       verleiht diesem Kleinstadtdrama eine Allgemeingültigkeit, die über die
       historische Situation, die es beschreibt, weit hinausreicht. Gleichzeitig
       wird die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte genau dadurch auch
       empfindlich nah herangeholt.
       
       10 Jul 2023
       
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