# taz.de -- Migrationsforscher über Systemrelevanz: „Ohne diese Menschen geht es nicht“
       
       > Plötzlich sind Branchen wie die Pflege „systemrelevant“. Gerade dort
       > arbeiten viele Migrant*innen unter prekären Bedingungen, sagt Frank
       > Kalter.
       
 (IMG) Bild: Plötzlich unerlässlich: Ein Bahn-Mitarbeiter putzt in einem ICE, um das Coronavirus einzudämmen
       
       taz: Herr Kalter, seit Corona kennen die meisten Menschen das Wort
       „systemrelevant“. Was macht diesen Begriff für einen Migrationsforscher
       interessant? 
       
       Frank Kalter: In der Finanzkrise 2008 galten ganz andere Bereiche als
       systemrelevant als heute. Damals waren das die Banken, „too big to fail“.
       Jetzt sehen wir: In dieser Krise kommt es unter anderem auf die Pflege, die
       Reinigung oder den Lebensmittelsektor an. Also auf Berufe, in denen
       traditionell viele Migrant*innen arbeiten. Wir wollten schauen, wie das
       statistisch genau aussieht. Das Ergebnis ist unser [1][Report
       „Systemrelevant und prekär beschäftigt: Wie Migrant*innen unser Gemeinwesen
       aufrechterhalten“].
       
       Was haben Sie herausgefunden? 
       
       An unseren Ergebnissen sieht man: Ohne Migrant*innen funktioniert unsere
       Gesellschaft nicht. Gerade in solchen Zeiten. Es zeigt sich aber auch, dass
       Systemrelevanz und Anerkennung nicht Hand in Hand gehen. Und damit meine
       ich sowohl die formale Anerkennung, also etwa einen [2][guten Lohn und gute
       Arbeitsbedingungen]. Ich meine aber auch die gesellschaftliche Akzeptanz
       der Menschen, die in diesen Berufen arbeiten.
       
       In vielen Branchen sind Migrant*innen und Menschen mit
       Migrationshintergrund eher unterrepräsentiert. Bei den systemrelevanten
       Berufen sieht das anders aus? 
       
       Es gibt ja eine breite Palette von Berufen, die jetzt als systemrelevant
       definiert wurden. Neben den bereits genannten sind das ja auch Verwaltung,
       Polizei, Verkehrsbetriebe und so weiter. Wenn man die alle zusammennimmt,
       dann sind Migrant*innen dort etwa ihrem Anteil am Arbeitsmarkt entsprechend
       repräsentiert. Was aber auffällt: In bestimmten dieser Berufe sind sie
       unterrepräsentiert, in anderen aber sehr stark überrepräsentiert.
       
       Können Sie das an Beispielen erläutern? 
       
       Gerade im prekären systemrelevanten Bereich sind sehr viele Migrant*innen
       beschäftigt. Sie machen da 35,5 Prozent aus – das liegt weit über ihrem
       Anteil am Arbeitsmarkt, der beträgt in den verwendeten Daten 22,9 Prozent.
       Neben Pflege und Reinigung wären hier etwa Post, Zustellung und
       Fahrzeugführung im Straßenverkehr zu nennen.
       
       Kann man also sagen, die Migrant*innen machen die prekären Jobs? 
       
       Ganz so einfach ist es nicht. Wir sehen da eher eine U-Form: Auch in der
       Human- und Zahnmedizin sind Menschen mit Migrationshintergrund zum Beispiel
       überrepräsentiert. Aber generell muss man feststellen: Gerade unter den
       Berufen, die jetzt als systemrelevant gelten, sind prekäre
       Beschäftigungsverhältnisse insgesamt stärker ausgeprägt als im sonstigen
       Arbeitsmarkt. Diese Tendenz hat sich durch Deregulierung in den vergangenen
       zwanzig Jahren verstärkt. Und von diesen Entwicklungen sind Migrant*innen
       besonders betroffen.
       
       Woran liegt das? 
       
       Um das zu beantworten, muss man noch mal differenzieren, über wen man
       spricht. Der Begriff „Menschen mit Migrationshintergrund“ meint ja sowohl
       die erste Generation, die selber Migrationserfahrung gemacht hat, als auch
       deren Kinder. Es ist gerade die erste Generation, die diese Probleme hat:
       Sie sind im Ausland geboren, haben ihren Bildungsabschluss im Ausland
       gemacht. Der ist für den deutschen Arbeitsmarkt unter Umständen zu niedrig
       [3][oder wird hier nicht ausreichend anerkannt].
       
       Außerdem fehlen diesen Menschen gerade zu Anfang weitere wichtige
       Ressourcen: soziale Kontakte und Netzwerke oder Sprachkenntnisse etwa. Das
       müssen sie sich hier erst erwerben. Diese Menschen finden wir dann deutlich
       häufiger in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Die Nachteile gehen dann
       über die Generationen tendenziell verloren.
       
       Und „Migrationshintergrund“ ist auch ein sehr weiter Begriff, oder? 
       
       Natürlich. Im Extremfall vergleichen wir einen syrischen Jugendlichen, der
       gerade als Flüchtling hergekommen ist, mit einer schwedischen
       Austauschstudierenden. Das sind dann doch sehr unterschiedliche
       Startvoraussetzungen. Und: Weit mehr als ein Drittel der Menschen in
       Deutschland, die einen Migrationshintergrund haben, sind beispielsweise
       EU-Bürger*innen. An die denken die meisten aber nicht, wenn sie den Begriff
       hören.
       
       Sehen Sie Handlungsbedarf? 
       
       Dass Menschen, die neu zuwandern, spezielle Ressourcen erst mal fehlen, ist
       ein Fakt. Wir wissen, dass sie das nachholen. Das braucht aber Zeit. Die
       andere Seite der Medaille ist: Gibt es überhaupt Angebote, damit sie diese
       Dinge lernen oder erwerben können? Sprachkurse etwa? Ist die
       Anerkennungspraxis so ausgestaltet, dass sie mit ihren Abschlüssen auf dem
       deutschen Arbeitsmarkt Chancen haben?
       
       Auch da wird inzwischen viel in die richtige Richtung getan, wenn ich mir
       die Integration von Fluchtzuwanderern im internationalen Vergleich
       anschaue. Und auch der deutsche Arbeitsmarkt und die Betriebe haben
       gemerkt, wie [4][dringend notwendig diese Menschen als Arbeitskräfte sind].
       Wenn Corona eins gezeigt hat, dann, dass wir auf Migration definitiv nicht
       verzichten können.
       
       16 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.dezim-institut.de/fileadmin/Publikationen/Research_Notes/DRN_3_Systemrelevante__Berufe/ResearchNotes_03_200525_web.pdf
 (DIR) [2] /Prekaer-Beschaeftigte-in-Coronazeiten/!5680834
 (DIR) [3] /Migrationsexperte-ueber-Einwanderung/!5652161
 (DIR) [4] /Integration-von-Gefluechteten/!5667932
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dinah Riese
       
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