# taz.de -- Hinterbliebener über Hanau-Anschlag: „Polizei soll ihre Arbeit machen“
       
       > Am 22. August soll der Opfer des Anschlags vom Februar gedacht werden.
       > Die Demo wird sich auch gegen den Ermittlungsunwillen richten, erklärt
       > Çetin Gültekin.
       
 (IMG) Bild: Çetin Gültkin vor einem Mural in Gedenken an die Opfer des Anschlags von Hanau
       
       taz: Herr Gültekin, die Hinterbliebenen des Anschlags vom 19. Februar
       [1][rufen zu einer Demonstration auf], weil die Polizei „Warnsignale“
       ignoriert habe. Welche Warnsignale waren das? 
       
       Çetin Gültekin: Es gab viele. In den letzten Tagen vor der Tat hat Tobias
       Rathjen, der Mörder meines Bruder, ein Bekennerschreiben und ein Hassvideo
       im Internet hochgeladen. Der Generalbundesanwalt (GBA) Peter Frank hat bei
       einer Befragung im Hessischen Landtag bestätigt, dass die Hanauer
       Staatsanwaltschaft und der GBA im November 2019 Post von Rathjen bekommen
       haben. Darin hat er seine rechtsextremen Ansichten offengelegt. Ohne
       Folgen. Wenn ich zwei Seiten mit der Ankündigung vollschreibe, dass ich
       Deutsche umbringen will und das der Staatsanwaltschaft schicke, dann klopft
       zwei Stunden später die Polizei bei mir.
       
       Wie hätte bei Rathjen reagiert werden sollen? 
       
       Die Behörden haben nicht einmal Polizisten hingeschickt, um mal zu gucken,
       was das für ein Typ ist. Er konnte seine zwei Waffen behalten. Wenn ich das
       Recht habe, 600 Schuss Munition auf dem Schießstand zu verballern – wieso
       habe ich dann auch das Recht, die Waffe mit nach Hause zu nehmen, wo ich
       sie sowieso nicht benutzen darf? Er war seit Jahren im Schützenverein und
       die Waffenbehörde des Main-Kinzig-Kreises hat nach einer Überprüfung 2019
       seine Waffenbesitzkarte verlängert.
       
       Mit der Karte konnte er sich die Mordwaffe legal ausleihen. 
       
       Ja. Ich habe das Video von der Tat gesehen. Gökhan hatte mich eine halbe
       Stunde vorher angerufen und gesagt: „Ich bestelle Nudeln, wenn du Hunger
       hast, bestell ich dir was mit.“ Ich hab gesagt: „Ich hab schon gegessen,
       ich guck zu Hause Fußball.“ Zehn Sekunden, bevor Rathjen reinkam, stand er
       an der Theke und hat mit den beiden anderen Opfern, Mercedes Kierpacz und
       Ferhat Unvar, gegessen. In der nächste Sekunde schießt Rathjen ihm ins Herz
       und er ist tot. Hätte ich Ja gesagt, wäre ich auch tot.
       
       Die Hinterbliebenen haben die Mail von Rathjen an den GBA in den letzten
       Wochen öffentlich thematisiert. Wie waren die Reaktionen? 
       
       Ein CDU-Politiker hat uns beim runden Tisch im Rathaus von Hanau gefragt,
       ob wir wüssten, wie viel „wirres Zeug“ jeden Tag bei den Behörden ankomme.
       Was für eine Antwort ist das? Mir macht der Gedanke Angst, dass heute
       vielleicht wieder irgendwo „wirres Zeug“ ankommt und sie deshalb wissen,
       wer der nächste Attentäter ist und sie ihn aufhalten könnten, es aber nicht
       tun. Wenn 1.000 solcher Briefe ankommen, müssen eben 1.000 Absender
       kontrolliert werden.
       
       Mail, Video und Bekennerschreiben waren möglicherweise nicht die einzigen
       Hinweise – Hinterbliebene haben auf zwei Vorfälle aus den Jahren 2017 und
       2018 hingewiesen. Was ist da geschehen? 
       
       Damals kam ein vermummter Mann mit Kampfanzug aus einem Gebüsch zum
       Jugendzentrum in Hanau-Kesselstadt. Das ist der Stadtteil, in dem wir
       leben, und es ist auch der zweite Tatort vom 19. Februar. Der Unbekannte
       ging damals mit Waffen in der Hand auf Jugendliche zu und bedrohte sie. Die
       haben die Polizei gerufen. Die kam zwar und hat die Jugendlichen vernommen
       – aber keine Akte angelegt.
       
       Haben sie Rathjen damals erkannt? 
       
       Nein, die kannten ihn nicht. Und er war vermummt. Aber die Polizei hätte
       darauf kommen können. Denn Rathjens Haus ist nur wenige Meter von dem
       Jugendzentrum entfernt. Und er war ja als Waffenbesitzer registriert
       gewesen.
       
       Wie sind diese Vorfälle mit Rathjen in Verbindung gebracht worden? 
       
       Die Familie von Hamza Kurtović, einem der Opfer vom 19. Februar, hat darauf
       aufmerksam gemacht. Hamza war einer der Jugendlichen, die damals von dem
       Unbekannten bedroht worden sind. Die Polizei ist zu ihm nach Hause gekommen
       und hat ihn als Zeugen vernommen. Hamzas Vater war dabei. Die Polizei ist
       der Aussage aber nicht weiter nachgegangen. Der Vater hat sich bei uns
       gemeldet. Er ist davon überzeugt, dass Rathjen der Unbekannte war. Hamzas
       Vater hat dann Druck gemacht. Erst als wir im Landtag waren, wurde das BKA
       beauftragt, dem nachzugehen. Es hat dann herausgefunden, dass es diese
       Aussagen gab. Ohne Druck von uns wäre das einfach übergangen worden.
       
       Was folgt für Sie aus diesem Umgang mit den Hinweisen auf Rathjens
       Gefährlichkeit? 
       
       Hätte die Staatsanwaltschaft das ernst genommen, würde mein Bruder noch
       leben. Ich will, dass jeder, der an diesem Versagen beteiligt war, beim
       Namen genannt und zur Rechenschaft gezogen wird.
       
       Sie sagen, die Polizei habe auch während der Tat versagt. Inwiefern? 
       
       In der Nacht hat es sieben Stunden gedauert, bis man uns die Namen der
       Toten genannt hat. Die Polizei ist eine Institution, auf die wir keinen
       Einfluss haben. Aber die soll ihre Arbeit richtigmachen. Und jeder, der
       gefährlich ist und eine Waffe besitzt, dem muss man sie entziehen, egal ob
       Nazi oder Türke oder wer auch immer. Wenn deutsche Polizisten und Behörden
       ihre Arbeit richtigmachen würden, würde kein offener Rassist eine Waffe
       besitzen können. Dafür sind die doch da. Die müsse doch für die Sicherheit
       von jedem Menschen sorgen, nicht nur für die Sicherheit der Deutschen. Der
       Innenminister Peter Beuth sagte, Rathjen sei der Polizei nicht bekannt
       gewesen. Er versucht immer noch, alles schönzureden und behauptet, die
       Polizei habe exzellent gearbeitet. Als wüssten wir von nichts. Er hat
       seinen Laden nicht im Griff und deswegen wollen wir, dass er geht.
       
       Sie rufen deshalb für den 22. August in Hanau zu einer Demonstration auf.
       Dabei geht es auch um den Umgang mit den Hinterbliebenen während der noch
       laufenden Ermittlungen. Was erwarten Sie von den Behörden? 
       
       Der Anschlag ist sechs Monate her und es ist immer noch nichts passiert.
       Die Demo steht unter dem Motto „Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und
       Konsequenzen“. Wir wollen nicht akzeptieren, dass wir nicht auf dem
       Laufenden gehalten werden und nicht sehen können, was passiert. Es soll am
       Ende nicht heißen, „Keiner konnte was dafür“ – und dann werden nur wieder
       die Behörden geschützt. Wir befürchten, dass sie die Akten eine Weile offen
       halten und irgendwann kommen und sagen: „[2][Alles ist ermittelt“ – und
       tschüss.] Wir wollen Druck machen, bis der Innenminister seinen Rücktritt
       erklärt.
       
       Wie ist es Ihrer Familie seit dem Mord ergangen? 
       
       Wir waren keine türkische Familie mit sieben oder acht Kindern, Gökhan war
       mein einziger Bruder. Jeder wird sterben, das hat Gott so gewollt. Wäre er
       bei einem Unfall gestorben, könnte ich mit dem Schmerz leben. Es wäre ganz
       anders als jetzt, wo ich immer denke: Er müsste nicht tot sein, man hätte
       das verhindern können. Das wird mir niemals Ruhe lassen. Mein Vater war
       schwach, er hat das nicht verkraftet und ist am 28. März gestorben. Ich
       musste seine Leiche während der Coronazeit mit einem Frachtflugzeug in die
       Türkei schicken, ich konnte nicht mal mitfliegen. Wäre Gökhan nicht getötet
       worden, wäre mein Vater noch am leben.
       
       Ich habe nun zwei Tote zu beklagen. Meine Mutter hat eine Lungenentzündung
       bekommen und das in der Coronazeit. Sie hat gute Erinnerungen an
       Deutschland. Aber weil nach 55 Jahren Ehe ihr Mann gestorben ist und kurz
       davor ihr Sohn erschossen wurde, hält sie es in ihrer Wohnung nicht aus.
       Wir mussten aus Kesselstadt raus, aber wegen Corona waren die Hotels zu.
       Wir hatten deshalb die Stadt Hanau um eine Wohnung gebeten.
       
       Haben Sie sie bekommen? 
       
       Nein. Ich habe meine Mutter dann in die Türkei gebracht. Sie ist dort bei
       Verwandten. Am Sonntag fliege ich hin und wir feiern gemeinsam das
       Opferfest. Dann bringe ich sie zurück, damit sie bei der Demo dabei sein
       kann.
       
       Inwiefern spielt der „[3][NSU 2.0“-Skandal] eine Rolle für Sie? 
       
       Meine Anwältin Seda Başay-Yıldız bekommt Mails mit Morddrohungen und die
       Daten dafür wurden bei der Wiesbadener Polizei abgefragt. Mein Sohn ist 26
       Jahre alt. Er steht bei öffentlichen Auftritten immer neben mir. Ich habe
       Angst um ihn. Ich muss dafür sorgen, dass meinem Bruder Gerechtigkeit
       widerfährt. Und gleichzeitig muss ich die Zukunft meines Sohnes schützen.
       Das ist beides gleichzeitig nicht leicht.
       
       Was befürchten Sie konkret? 
       
       Ich denke zum Beispiel an Sätze wie an den des AfD-Fraktionsmitarbeiters
       Marcel Grauf aus Baden-Württemberg, der geschrieben hat: „Immerhin haben
       wir jetzt so viele Ausländer im Land, dass sich ein Holocaust mal wieder
       lohnen würde.“ Wenn die am Ende doch mit der CDU koalieren, habe ich Angst,
       dass wir nicht mal die Zeit haben werden, unsere Koffer zu packen.
       
       27 Jul 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://19feb-hanau.org/2020/07/19/sechs-monate/
 (DIR) [2] /Reaktion-auf-BKA-Papier-zu-Hanau/!5675606
 (DIR) [3] /Innenausschuss-zu-NSU-20-Drohschreiben/!5695710
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christian Jakob
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
 (DIR) IG
 (DIR) Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau
 (DIR) Polizei
 (DIR) Peter Beuth
 (DIR) Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
 (DIR) Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
 (DIR) Thüringen
 (DIR) NSU 2.0
 (DIR) NSU 2.0
 (DIR) Schwerpunkt Rechter Terror
 (DIR) Feminismus
 (DIR) taz.gazete
 (DIR) Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Hanau-Gedenken in Hamburg: Polizei lässt Demozug nicht starten
       
       Die Polizei störte in Hamburg das Gedenken an den Anschlag von Hanau. Die
       Demo durfte nicht loslaufen. Erst später wurde eine Kundgebung erlaubt.
       
 (DIR) Sechs Monate nach Hanau: Eine Frage des Vertrauens
       
       Ohne Vertrauen kann eine Demokratie nicht funktionieren. Aber was, wenn man
       es verloren hat – so wie unsere Autorin nach dem Anschlag von Hanau?
       
 (DIR) Rassistischer Anschlag vom 19. Februar: Stadt Hanau verbietet Gedenk-Demo
       
       Wegen steigender Corona-Infektionen muss die Kundgebung der Angehörigen des
       Anschlags ausfallen. Das stößt nicht nur auf Verständnis.
       
 (DIR) Erinnerung an Hanau-Anschlag: Wessen Normalität
       
       Knapp sechs Monate nach dem rassistischen Anschlag von Hanau fordert ein
       CDU-Politiker, wieder zur Normalität zurückzukehren. Was für ein Hohn!
       
 (DIR) Linken-Politikerin über rechte Gewalt: „Wie weit muss es kommen?“
       
       In Erfurt sollen zwölf mutmaßliche Neonazis drei Männer verprügelt haben.
       Die Verdächtigen sind wieder frei. Katharina König-Preuss kritisiert das.
       
 (DIR) Drohschreiben von „NSU 2.0“: Ex-Polizist weist Vorwürfe von sich
       
       Der in der Affäre um rechtsextreme Drohschreiben vorläufig festgenommene
       Ex-Polizist hat Vorwürfe zurückgewiesen. Bei ihm wurden Waffen gefunden.
       
 (DIR) Rechte Drohschreiben vom „NSU 2.0“: Zwei Festnahmen
       
       Wegen der rechten Drohmails des „NSU 2.0“ wurden ein Ex-Polizist und seine
       Frau festgenommen. Sie sollen im Juli sechs der Drohbriefe verschickt
       haben.
       
 (DIR) Jahrestag Wehrhahn-Anschlag: 20 Jahre ohne Klarheit
       
       Am 27. Juli 2000 verletzt in Düsseldorf eine Bombe zehn Menschen, darunter
       viele Juden. Ein ungeborenes Baby stirbt. Verurteilt wurde dafür bis heute
       niemand.
       
 (DIR) Expertin über Frauenhass und Rassismus: „Feminismus als Feindbild“
       
       Besonders Frauen haben in den letzten Wochen rechtsextreme Drohungen,
       unterzeichnet mit NSU 2.0, bekommen. Das ist kein Zufall, sagt Eike
       Sanders.
       
 (DIR) Gedenken zum 8. Mai: Hanau ist auch in Hamburg
       
       Die Morde von Hanau haben die Hinterbliebenen rassistischer Terrorakte seit
       den 80er Jahren zusammengebracht. In Hamburg und andernorts treten sie für
       ein umfassendes Gedenken am 8. Mai ein.
       
 (DIR) Kontinuität rechte Gewalt: „Weil Faschismus nicht Geschichte ist“
       
       In Erinnerung an den Terroranschlag in Hanau rufen migrantische
       Selbstorganisationen für Freitag zum „Tag des Zorns“ auf. Rechte Angriffe
       dauern an.