# taz.de -- Milo Rau an der Schaubühne Berlin: Brief an eine Schauspielerin
       
       > Die Theatersaison ist eröffnet. „Everywoman“ von Milo Rau und der
       > Schauspielerin Ursina Lardi entstand im Dialog mit einer kranken Frau.
       
 (IMG) Bild: Ursina Lardi in „Everywoman“ von Milo Rau
       
       Milo Rau, Autor, Regisseur und Intendant in Gent, [1][schrieb für diese
       Zeitung zuletzt im März aus Brasilien]. Er wollte dort [2][eine „Antigone“
       inszenieren, mit Indigenen und Aktivisten] der Landlosenbewegung arbeiten.
       
       Mit dabei war die Schauspielerin Ursina Lardi, beide wollten in Brasilien
       auch für ihr Projekt „Everywoman“ recherchieren, eine Auseinandersetzung
       mit dem „Jedermann“ von Hugo von Hoffmannsthal. Der wird seit 100 Jahren
       bei [3][den Salzburger Festspielen aufgeführt] und Milo Rau hatte aus
       Salzburg den Auftrag für die Inszenierung 2020 bekommen.
       
       Aber es kam anders. Corona durchkreuzte die Pläne. Lardi und Rau mussten
       nach Europa zurückreisen, Inszenierungen mit großen Menschengruppen sind
       zurzeit nicht möglich. Ein neues Konzept für „Everywoman“ entstand, als
       Ursina Lardi im Mai einen Brief erhielt.
       
       ## Uraufführung in Salzburg
       
       In „Everywoman“, das nach der Uraufführung in Salzburg die Spielzeit in der
       Schaubühne in Berlin eröffnet, ist Ursina Lardi allein auf der Bühne. Eine
       zweite Frau, Helga Bedau, spielt über eine Videoleinwand mit. Sie hatte an
       die Schauspielerin geschrieben, wie sehr sie, als alle Theater wegen Corona
       geschlossen bleiben mussten, das Gemeinschaftserlebnis vermisse. Und das
       besonders in dem Bewusstsein, dass diese Monate vielleicht die letzten in
       ihrem Leben sind, weil sie an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt ist.
       
       Lardi liest diesen Brief vor, bevor Helga Bedau im Bild erscheint. Zunächst
       noch in einer Szene aus dem „Jedermann“, in der dieser an einer voll
       besetzen Tafel seinen Tod ahnt und fragt: „Hört ihr die Glocken nicht?
       Warum habt ihr alle Totenhemden an?“ Lardi spricht die Sätze vor, Helga
       Bedau spricht sie nach, aber niemand aus der großen Familie, mit der sie am
       Tisch sitzt, kann ihr Antwort geben.
       
       Das Gespräch der beiden Frauen, die sich während des Projekts erst
       kennenlernen, ist intim, entstanden unter dem Bewusstsein der eigenen
       Endlichkeit. Lardi zieht ihm manchmal einen weltzeitlichen Boden ein, sie
       denkt an die zunehmend verlassen Täler in den südlichen Alpen, aus denen
       sie kommt.
       
       Wo oft nur noch ein paar alte Frauen leben, die sich beim
       Filterkaffeetrinken in der Bäckerei auf ihr eigenes Aussterben vorbereiten.
       Sie schaut bedrückt auf eine Welt, in der „wir alles kaputt gemacht“ haben.
       Aber dieser Blick, der alles zu umfassen sucht und der Milo Rau in vielen
       seiner politischen Großprojekte beschäftigt, ist hier mehr eine Folie, ein
       Echo des Sterbens eines Individuums.
       
       ## Sensibilität entwickeln
       
       Das Stück fokussiert auf eine Person, um dafür eine Sensibilität zu
       entwickeln. Helga Bedau, die am Ende der Berliner Premiere selbst auf die
       Bühne kam, fällt das Reden über sich selbst nicht leicht. Theatertext wäre
       ihr, die früher einmal als Statistin am Theater gearbeitet hat und lange
       Lehrerin war, lieber als das Reden über sich. Sind Lardis Fragen nicht zu
       zudringlich, fragt man sich manchmal als Zuschauerin und ist dann doch von
       Bedaus Aufrichtigkeit berührt.
       
       Dennoch, der inszenierte Dialog zwischen der Schauspielerin auf der Bühne
       und Helga Bedau im Video hat manchmal etwas fast Gestelztes. Die Ebenen der
       Fiktion auf der Bühne und des realen Lebens im Video fließen nicht ganz so
       geschmeidig ineinander wie in anderen Inszenierungen Milo Raus. Auch die
       rhetorischen Floskeln, „versteht ihr mich“, mit denen sich Ursina Lardi in
       ihren Reflexionen über den Tod und seine Darstellbarkeit auf der Bühne an
       das Publikum wendet, zünden nicht immer.
       
       „Everywoman“ bildet eine Zäsur im Werk von Milo Rau. Die
       Theaterarbeitsbedingungen unter Corona mögen den Anstoß gegeben haben.
       Nicht zufällig ist in dem Text, den Rau und Lardi mit Helga Bedau zusammen
       entwickelt haben, oft von einem Moment des Innehaltens die Rede, von der
       Lücke, bevor etwas beginnt und noch offen ist, wohin die Reise gehen kann.
       Ursina Lardi erzählt von solchen Momenten, die ihr auf der Bühne die
       liebsten sind.
       
       Die Pause im Theaterbetrieb nehmen Lardi und Rau zum Anlass für [4][Fragen
       nach der Notwendigkeit von Theater und dem Notwendigen im Theater]. Was
       braucht es für das gemeinschaftliche Erleben im Theater, das Bedau so sehr
       vermisst hat, dass sie Lardi ihren Brief schrieb. Das Motiv der Begegnung
       mit dem Tod war schon durch Hugo von Hoffmannsthals „Jedermann“
       vorgegeben.
       
       ## Sterben und Alltag
       
       Aber während dort moralische und christliche Dispositive den erzählerischen
       Rahmen vorgeben, suchen sie nach einem Rahmen, über das reale Sterben zu
       reden, das im Alltag oft ausgeblendet wird, und dem Mitgefühl eine Form zu
       geben.
       
       Gegen Ende des Stücks gelingt ihnen dabei ein trostvoller und wunderbarer
       Moment. Lardi stellt die Regenmaschine an und spielt Bach auf dem Klavier,
       weil sich Helga Bedau zuvor vorgestellt hat, so zu sterben: zu Hause, bei
       offenem Fenster, wenn draußen ein Sommerregen niedergeht. In diesem Moment
       versteht man, was die „Ästhetik der Solidarität“ meinen könnte, von der
       Milo Rau in einem Interview spricht.
       
       Wer davon [5][viel verstand, war Christoph Schlingensief]. „Everywoman“
       weckt die Erinnerung an sein Stück „Kunst und Gemüse“, Premiere 2004 an der
       Berliner Volksbühne. Beteiligt war Angela Jansen, an ALS erkrankt, die zu
       der Zeit nur noch über die Bewegungen ihrer Augen kommunizieren konnte.
       
       Auf vielen Ebenen thematisierte Schlingensief den Verfall. Das Bewusstsein
       von der eigenen Sterblichkeit, mit dem Angela Jansen lebte und umgehen
       musste, riss in dem ausufernden Megaüberbau etwas auf. Eine Begegnung, die
       eigentlich unmöglich war, wurde möglich und lebt in der Erinnerung lange
       nach.
       
       Etwas Ähnliches geschieht in „Everywoman“. Es gibt in der Welt der
       Präsenzbekundungen in den sozialen Medien eine Floskel, „danke, dass du
       diesen Moment mit mir geteilt hast“. Aber diesmal passt es. Man möchte sich
       bei Helga Bedau bedanken, der „Everywoman“ ihre Geschichte geliehen zu
       haben.
       
       16 Oct 2020
       
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 (DIR) Katrin Bettina Müller
       
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