# taz.de -- Extremisten in Sicherheitsbehörden: Seehofers „geringe“ Fallzahl
       
       > 380 rechtsextreme Vorfälle in den Sicherheitsbehörden zählt ein Lagebild,
       > 1.064 bei der Bundeswehr. Ein strukturelles Problem? Nein, sagt Seehofer.
       
 (IMG) Bild: Sehen wenig Probleme: Thomas Haldenwang und Horst Seehofer bei der Pressekonferenz am 6. Oktober
       
       BERLIN taz | Horst Seehofer klingt fast erleichtert. „Wir haben kein
       strukturelles Problem in den Sicherheitsbehörden“, sagt der
       Bundesinnenminister am Dienstag in Berlin. 99 Prozent der BeamtInnen, und
       damit die „ganz, ganz überwiegende Mehrheit“, stehe „fest auf dem Boden des
       Grundgesetzes“. Die Behörden hätten sein „uneingeschränktes Vertrauen“, sie
       leisteten „eine hervorragende Arbeit“.
       
       Dabei ist das, was Seehofer an diesem Tag präsentiert, kein Aushängeschild
       für die BeamtInnen, ganz im Gegenteil. Der Minister präsentiert den vom
       Bundesamt für Verfassungsschutz verfassten Lagebericht „Rechtsextremisten
       in den Sicherheitsbehörden“, knapp 100 Seiten dick und eine Premiere. Die
       Bilanz: 319 Verdachtsfälle bei den Polizeien und Verfassungsschutzämtern
       der Länder, dazu 58 Fälle in den Bundesbehörden, etwa bei der Bundespolizei
       oder dem BKA. Und 1.064 Verdachtsfälle bei der Bundeswehr.
       
       Tatsächlich rissen zuletzt Meldungen zu rechtsextremen Vorfällen in den
       Sicherheitsbehörden zuletzt nicht ab. Entsprechende Chatgruppen wurden bei
       der Polizei in [1][Hessen], [2][NRW] und [3][Berlin] aufgetan, KSK-Soldaten
       wurden wegen Hitlergrüßen suspendiert, [4][rechte Verfassungsschützer]
       gemeldet, die eigentlich Neonazis beobachten sollten. Seehofer kritisiert
       diese Fälle deutlich, verweist auf die Vorbildfunktion der BeamtInnen:
       „Jeder erwiesene Fall ist eine Schande.“ Man kläre diese „ohne Wenn und
       Aber“ auf, verfolge sie „rigoros“. Insgesamt aber nennt Seehofer die
       Fallzahlen „gering“, gemessen an den rund 300.000 Sicherheitsbediensteten
       in diesem Land.
       
       Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang formuliert vorsichtiger,
       spricht von „Vorfällen, die über Einzelfälle hinausgehen“. Jeder Fall sei
       einer zu viel. Denn sie seien geeignet, das Vertrauen in den Staat zu
       erschüttern. Die Abwehr dieser Umtriebe sei für den Staat daher „eine
       existenzielle Schutzmaßnahme“.
       
       ## Langer Vorlauf des Lageberichts
       
       Seehofer und Haldenwang verweisen auch auf Konsequenzen, die bereits
       gezogen worden seien. So sei es bei den Bundesbehörden zu 23 Entlassungen
       wegen rechtsextremer Vorfälle gekommen, in den Ländern erfolgte dies in 48
       Fällen. Bei der Bundeswehr wurden 70 SoldatInnen entlassen. Insgesamt ging
       es bei den Vorgängen in den allermeisten Fällen um rechtsextreme Äußerungen
       oder Chatnachrichten. In den Ländern wurde nur ein Fall aufgedeckt, bei dem
       eine Person auch an rechtsextremen Veranstaltungen teilnahm. Immerhin zehn
       Personen hatten hier aber auch Kontakt zu bekannten Rechtsextremen oder
       Initiativen, zwei waren gar Mitglieder.
       
       Die Erstellung von Haldenwangs Lagebild war zäh. Bereits vor einem Jahr,
       nach Terrorvorwürfen gegen eine Preppergruppe, an der sich auch Soldaten
       und Polizisten beteiligten, und nach dem Attentat auf Walter Lübcke
       richtete der Verfassungsschutz eine [5][Zentralstelle zu Extremisten in den
       Sicherheitsbehörden] ein. Diese sollte den Bericht erstellen. Zuvor führten
       die Behörden in diesem Feld keine Statistik, weil die Vorfälle als
       Einzelfälle gewertet wurden.
       
       Doch die Erhebung holperte, mehrmals musste der Bericht verschoben werden:
       Sollten nur abgeschlossene Disziplinarverfahren zählen – oder bereits
       Verdachtsfälle? Die Länder entschieden sich zunächst für Ersteres und
       lieferten so wenige Fälle, dass Haldenwang auch die Nennung offener
       Verfahren einforderte. Dazu liegen nun die Zahlen vor.
       
       Erfasst wurden Vorfälle von Januar 2017 bis Ende März dieses Jahres, und
       zwar solche, die Maßnahmen nach sich zogen, ganz überwiegend
       Disziplinarverfahren. Bei der Bundespolizei betrifft dies 44 Fälle, beim
       BKA sechs, beim Zoll vier, beim BND zwei, in Haldenwangs eigener Behörde
       gibt es einen Fall. Weit größer ist das Ausmaß bei der Bundeswehr: Von den
       insgesamt 1.064 Verdachtsfällen kamen allein im vergangenen Jahr 363 neue
       Fälle dazu. Gerade diese Fälle sind beunruhigend, weil sie Menschen
       betreffen, die mit Waffen hantieren.
       
       ## Wie groß ist das Dunkelfeld?
       
       In den Ländern meldete Hessen die meisten Fälle mit 59, es folgen Berlin
       mit 53, NRW mit 45, Bayern mit 31, Sachsen 28. Auf der anderen Seite
       meldete Bremen nur einen Fall und das Saarland gar keinen. Die Zahlen sind
       also mit Vorsicht zu genießen – weil hinter wohl ihnen ein größeres
       Dunkelfeld schlummert. Und sie sind teils auch überholt: Die 31 jüngst in
       NRW suspendierten PolizistInnen, die in rechtsextremen Chatgruppen aktiv
       waren, sind in der Statistik gar nicht mehr berücksichtigt.
       
       Auch in dem Lagebericht wird ein Dunkelfeld eingeräumt. „Dessen
       fortlaufende und konsequente Aufhellung ist eine herausgehobene Aufgabe für
       die Sicherheitsbehörden“, heißt es dort. Seehofer und Haldenwang betonen
       denn auch, dass die Statistik fortgeschrieben und auf den öffentlichen
       Dienst ausgeweitet werden soll. Haldenwang fordert zudem, nach der
       holprigen Ersterhebung, in Zukunft eine bessere Zusammenarbeit der
       Behörden.
       
       Offen bleibt die Frage, wie groß nun das Dunkelfeld ist. ForscherInnen
       verweisen auf einen Korpsgeist in den Behörden, bei dem sich KollegInnen
       bei Vorfällen oft decken oder wegschauen. Auch die jüngst bekannt
       gewordenen Chatgruppen in NRW flogen nur durch Zufall auf, obwohl sie teils
       seit 2015 existierten: durch Ermittlungen gegen einen Beamten, dem
       vorgeworfen wurde, Interna an einen Journalisten durchgestochen zu haben.
       Von den PolizistInnen in den Chatgruppen, darunter ein Dienstgruppenführer,
       hatte niemand gemeldet, dass dort Hitlerbilder oder Hakenkreuze geteilt
       wurden.
       
       Seehofer wendet sich daher mit einem Appell an die BeamtInnen: „Schauen Sie
       hin, verteidigen Sie unsere Verfassung, werden Sie aktiv. Auch passives
       Mitläufertum ist nicht erlaubt.“ Ein strukturelles Problem aber weisen die
       Behördenchefs kollektiv zurück, allen voran Bundespolizeichef Dieter
       Romann. Von den 51.000 Bundespolizisten beträfen die Vorwürfe nur 0,09
       Prozent, betont er. Rechtsextreme Netzwerke könne er nicht erkennen, auch
       ein Rassismusvorwurf gehe fehl. „Die Polizisten haben unser Vertrauen
       verdient.“
       
       ## Weiter Streit über Studie zur Polizei
       
       Experten wie die Grünen-Innenexpertin und Polizistin Irene Mihalic dagegen
       halten den Bericht erst für einen Anfang. Der Bericht dokumentiere nur die
       Oberfläche, so Mihalic. Sie und andere wiederholen daher die Forderung nach
       unabhängigen Polizeibeauftragten und einer wissenschaftlichen Untersuchung
       zu rechtsextremen Einstellungen bei der Polizei – was Seehofer am Dienstag
       erneut ablehnt.
       
       Das Thema sei universeller, sagt der Minister. Deshalb trete er für „eine
       fundierte Untersuchung für die gesamte Gesellschaft“ ein. Dazu fordert
       Seehofer noch einen ganzen Strauß weiterer Studien, die mit dem Lagebericht
       nur noch am Rande zu tun haben: zu Gewalt gegen PolizistInnen, zu deren
       Arbeitsalltag oder zu deren Motiven für den Berufseinstieg.
       
       Aber selbst der Bund Deutscher Kriminalbeamter erklärte am Dienstag, mit
       dem Lagebericht sei ein strukturelles Problem in den Behörden nicht
       widerlegt. Auch der Verband forderte eine gesonderte Studie dazu ein.
       Inzwischen gehen einige Länder hier bereits voran. So beginnen Hamburg, NRW
       und Niedersachsen demnächst mit einer anonymen Befragung von 3.000
       PolizistInnen zu Risikofaktoren, die Vorurteile und extreme Einstellungen
       in ihren Reihen begünstigen.
       
       6 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
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