# taz.de -- Wikipedia wird 20 Jahre alt: Ungleich verteiltes Wissen
       
       > Wikipedia feiert seinen 20. Geburtstag. Mangelnde Diversität und ein
       > Rückgang aktiver Nutzer:innen gefährden jedoch das Gemeinschaftsprojekt
       > im Netz.
       
 (IMG) Bild: Wikipedia: bis heute eine der weltweit meistbesuchten Webseiten
       
       Es gebe da eine Idee, „ein kleines Feature zu Nupedia hinzuzufügen.“ Das
       kleine Feature, das Larry Sanger mit dem Betreff „Lasst uns ein Wiki
       machen“ [1][in einer teaminternen E-Mail vom 10. Januar 2001 ankündigt,]
       geht fünf Tage später, am 15. Januar, unter wikipedia.com online. Schon
       nach wenigen Jahren wird es das größte Online-Nachschlagewerk der Welt
       sein, das Wissen für alle kostenlos zur Verfügung stellt. Dabei stand es
       anfangs gar nicht im Fokus der Entwickler.
       
       Das eigentliche Projekt der Wikipedia-Gründer Jimmy Wales und Larry Sanger
       [2][war die Online-Enzyklopädie Nupedia], die sie 2000 gründeten. Weil
       Fachartikel auf Nupedia erst zwischen mehreren Gutachter:innen mehrfach hin
       und her geschickt werden mussten, wie es auch in der Wissenschaft üblich
       ist, entwickelte sich die Plattform nur sehr langsam: In drei Jahren
       entstanden 27 Artikel.
       
       Sanger und Wales überlegten sich also etwas Neues, Schnelleres. Zwar
       sollten Artikel auf Nupedia künftig immer noch aufwändig zwischen mehreren
       Gutachter:innen ausgetauscht werden, als Vorstufe [3][bauten sie aber auf
       das sogenannte Wiki-Prinzip]. Der Begriff ist aus dem Hawaiianischen
       entlehnt, wikiwiki steht dort für sehr schnell [4][und findet sich etwa auf
       Expressbussen am Flughafen Honululu]. Im Web bezeichnet er Seiten, die
       kollaborativ von User:innen bearbeitet werden können, die oft anonym
       agieren.
       
       Der Grundgedanke von Sanger und Wales, dass nämlich auf Wikipedia künftig
       nicht nur einige wenige Beiträge schreiben können, sondern alle, war die
       Demokratisierung von Wissen im Netz; er näherte sich der Vision von Tim
       Berners-Lee, der mit [5][seiner Erfindung des World Wide Web] ein freies
       und nichtkommerzielles Angebot schuf, das für alle verfügbar sein sollte.
       Wikipedia ist eines der wenigen Webprojekte, das nichtkommerziell geblieben
       ist. Mehr noch: Die niedrige Einstiegsschwelle und das kollaborative
       Schreiben machen das Nachschlagewerk zu einem einmaligen
       Gemeinschaftsprojekt im Netz.
       
       Klicken statt Blättern 
       
       Wikipedia überholte das eigentliche Hauptfeature Nupedia innerhalb weniger
       Monate. 2003 wurde Nupedia eingestellt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Wikipedia
       schon eine Million Beiträge. Bis heute ist es [6][eine der weltweit
       meistbesuchten Webseiten]. Leser:innen müssen, um etwas nachzuschlagen,
       keine veralteten Schmöker mehr durchblättern oder gar kaufen. Stattdessen
       aktualisieren Tausende User:innen freiwillig vorhandene Einträge, Lemmata
       genannt, in Echtzeit und verlinken sie untereinander. Innerhalb weniger
       Jahre verdrängte Wikipedia etablierte Enzyklopädien wie den Brockhaus oder
       die Encyclopædia Britannica und gilt mittlerweile als Massenmedium.
       
       Zu seinem 20. Geburtstag ist Wikipedia immer noch das größte digitale
       Nachschlagewerk [7][mit mittlerweile 53,73 Millionen Beiträgen] in fast 300
       Sprachen. Mit mehr als 2,5 Millionen Artikeln ist die deutschsprachige
       Wikipedia die weltweit viertgrößte Ausgabe. Am 11. Januar wurde sie mehr
       als 42 Millionen Mal aufgerufen. Hinter dem Projekt steht die Wikimedia
       Foundation mit Sitz in San Francisco. Sie garantiert den Betrieb, wirbt
       jährlich Spenden ein, greift aber nicht in die autonomen Wikipedias der
       einzelnen Sprachräume ein.
       
       Voraussetzung für ein erfolgreiches Wiki-Prinzip ist die Beteiligung von
       möglichst vielen freiwilligen Autor:innen mit unterschiedlichen
       Biografien. Das Problem: Seit Jahren geht die Zahl der aktiven Editor:innen
       zurück. Waren in der deutschsprachigen Wikipedia 2006 noch 8.614
       Autor:innen aktiv, waren es im Dezember 2018 nur noch 5.262. Aktive
       Wikipedianer:innen [8][sehen sogar nur circa 300 Menschen als den „harten
       Kern“] der deutschsprachigen Wikipedia an, die Artikel schreiben. Jeden Tag
       kommen 350 bis 400 neue Artikel hinzu. Viele andere aktive User:innen
       tragen mittlerweile kaum noch zum inhaltlichen Ausbau bei, sondern
       korrigieren Fehler in den Texten und liefern fehlende Belege; als
       „Putztruppe“ wird das wikipedia-intern auch bezeichnet. Weitere
       Fachbereiche sind User:innen, die Fotos für Artikel knipsen oder als
       Administratoren mit erweiterten Rechten angemeldete Nutzer:innen sperren
       oder Artikel bearbeiten oder löschen können.
       
       Während die Anzahl der Autor:innen abnimmt, steigt der Einfluss einiger
       weniger, fanden Forscher:innen heraus. Als „Super Editors“ bezeichnet
       [9][der Wissenschaftler Taha Yasseri] solche Autor:innen, die exzessiv
       viele Wikipedia-Beiträge schreiben und damit das Gemeinschaftsprojekt am
       Leben erhalten. Problematisch sei es, wenn „Super Editors“ vieldiskutierte
       Artikel dominieren, untereinander einen elitären Zirkel aufbauen und ihren
       Bereich „verteidigen“. Südkoreanische Forscher:innen haben 2016 in einer
       Arbeit festgestellt, dass sich einzelne User:innen regelrechte Grabenkämpfe
       in teils belanglosen Themenbereichen liefern; etwa, [10][ob die
       Beatles-Mitglieder alphabetisch oder nach Relevanz angezeigt werden
       sollen].
       
       Komplexes Regelwerk 
       
       Neuankömmlinge, die anfangs motiviert sind, sich einzubringen, haben es
       wegen des komplexen Regelwerks zunehmend schwer. Die über Jahre
       entwickelten Relevanzkriterien, also ob Personen, Ereignisse oder Themen
       zeitüberdauernd von Bedeutung sind oder nicht, und das neutrale Schreiben
       über einen Sachverhalt sind anspruchsvoll, und Stunden an Arbeit können
       manchmal kommentarlos gelöscht werden. Wissenschaftler:innen betrachten
       [11][in einer Studie] das raue Klima innerhalb der Wikipedia-Gemeinschaft
       zudem als einen Grund dafür, dass sich auch immer weniger Frauen
       einbringen.
       
       Die Wikipedia-Autor:innenschaft besteht ohnehin größtenteils aus Männern.
       [12][Laut einer Umfrage der Wikimedia-Foundation im Jahr 2018 sind es
       zwischen 80 und 90 Prozent.] Wikimedia versucht das Problem mit Maßnahmen
       wie kollektiven Schreibaktionen oder [13][der Gender Gap Force] anzugehen.
       Trotzdem bleibt Wikipedia ein Männerverein, der auch öfter über Männer
       schreibt, wie die Autorin Theresa Hannig im April 2019 kritisierte. Weil es
       auf Wikipedia eine Liste mit männlichen, aber keine mit weiblichen
       Science-Fiction-Autorinnen gab, verfasste sie selbst eine. Kurz darauf
       wurde ihre Liste zur Löschung vorgeschlagen mit der Begründung, [14][sie
       sei „komplett redundant“], „ein Feminismusprojekt“ und damit überflüssig.
       
       Umso fragwürdiger erscheint dies angesichts der Tatsache, dass es auf
       Wikipedia Listen über die ehemaligen Nebendarsteller der TV-Serie „In aller
       Freundschaft“ oder über die weitesten Schussentfernungen zur Tötung von
       Menschen durch Scharfschützen gibt. Nach hitzigen Diskussionen innerhalb
       der Wikipedia-Community ging Hannigs Liste schließlich wieder online.
       Andere Autor:innen [15][wurden indes Opfer von antifeministischen
       Hetzkampagnen.]
       
       Claudia Wagner von der Universität Koblenz untersuchte 2016 [16][in einer
       Studie], wie sich die Geschlechterungleichheit in der Gesellschaft in
       Wikipedia-Inhalten widerspiegelt und verglich dazu die Biografien von
       Männern und Frauen in der englischsprachigen Version. Von den knapp 1,5
       Millionen Biografien der englischen Wikipedia waren 2018 nur 17,7 Prozent
       Frauen.
       
       Schwächen des Systems 
       
       Die Forscher:innen kamen zu dem Ergebnis, dass Frauen prominenter und
       relevanter als Männer sein müssen, damit ein Beitrag über sie erstellt
       wird. Alle Wikipedia-Einträge müssen aus mehreren verlässlichen und von den
       Autor:innen unabhängigen Quellen bestehen. So sollen auf der Enzyklopädie
       keine Trivialitäten und Desinformation landen.
       
       Dass das System Schwächen hat, zeigt der Fall Donna Strickland. 2018 gewann
       die Physikerin den Nobelpreis, hatte zum damaligen Zeitpunkt aber keinen
       Wikipedia-Eintrag. Dieser war zuvor von einem Editor abgelehnt worden, weil
       große Zeitungen noch nicht viel über Strickland geschrieben hatten.
       Strickland wurde in ihrem Fachgebiet aber bereits vor der Preisverleihung
       als weltweit führend angesehen. Ihr Forschungspartner Gérard Mourou hatte
       indes bereits seit zehn Jahren einen Eintrag.
       
       Eine automatisch aktualisierte Liste des kollaborativen Schreibprojekts
       „Women in Red“ zeigt weitere Biografien über Frauen, die wegen mangelnder
       Relevanz nicht veröffentlicht worden sind. So wurde am ersten Januar 2021
       der Beitrag zur britischen Forscherin Fawzia Gilani-Williams zu islamischer
       Kinderliteratur mangels verschiedener Quellen nicht freigegeben. Relevante
       Inhalte werden durch die strengen Standards als irrelevant entfernt.
       
       Larry Sanger schrieb in seiner Mail am 10. Januar 2001 zum neuen Feature
       namens Wikipedia: „Absolut jeder andere kann jede Änderung daran vornehmen,
       die er möchte.“
       
       Diesem Leitgedanken wird Wikipedia derzeit nicht gerecht.
       
       15 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://web.archive.org/web/20030414014355/http:/www.nupedia.com/pipermail/nupedia-l/2001-January/000676.html
 (DIR) [2] https://en.wikipedia.org/wiki/Nupedia
 (DIR) [3] https://en.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:WikiProject_Countering_systemic_bias/Gender_gap_task_force
 (DIR) [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Wiki#/media/Datei:HNL_Wiki_Wiki_Bus.jpg
 (DIR) [5] http://info.cern.ch/hypertext/WWW/TheProject.html
 (DIR) [6] https://ahrefs.com/blog/most-visited-websites/
 (DIR) [7] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/195081/umfrage/anzahl-der-artikel-auf-wikipedia-weltweit/
 (DIR) [8] https://www.deutschlandfunk.de/wikicon-2018-wiki-und-die-starken-sprueche.684.de.html?dram%3Aarticle_id=429906
 (DIR) [9] https://scholar.google.com/citations?user=AiLoMKwAAAAJ&hl=en
 (DIR) [10] https://www.informationisbeautiful.net/visualizations/wikipedia-lamest-edit-wars/
 (DIR) [11] https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/0002764212469365
 (DIR) [12] https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:WikiProjekt_Frauen/Frauen_in_der_Wikipedia
 (DIR) [13] https://en.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:WikiProject_Countering_systemic_bias/Gender_gap_task_force#Participants
 (DIR) [14] https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Redundanz/M%C3%A4rz_2019/Archiv#Liste_deutschsprachiger_Science-Fiction-Autoren_-_Liste_deutschsprachiger_Science-Fiction-Autorinnen
 (DIR) [15] https://netzpolitik.org/2018/its-a-mans-world-wie-weibliche-editorinnen-von-der-wikipedia-verdraengt-werden/
 (DIR) [16] https://epjdatascience.springeropen.com/articles/10.1140/epjds/s13688-016-0066-4
       
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