# taz.de -- Ungarn und die Rechtsstaatlichkeit: EU-Parlament will Geld streichen
       
       > Wegen Streits über LGBT-Rechte wollen die Abgeordneten EU-Gelder für
       > Budapest schnell abdrehen. Doch die Kommission will sich bis Herbst Zeit
       > lassen.
       
 (IMG) Bild: Bekommt Ungarns Regierungschef Viktor Orbán noch im Sommer neue EU-Hilfen?
       
       BRÜSSEL taz | Der Streit über den Rechtsstaat in Ungarn wird zur
       [1][Machtprobe] zwischen dem Europaparlament und der EU-Kommission. Die
       Abgeordneten forderten am Mittwoch in Straßburg, den bereits seit Januar
       gültigen neuen Rechtsstaatsmechanismus endlich anzuwenden und die
       Streichung von EU-Geldern für die autoritäre Regierung in Budapest
       vorzubereiten.
       
       Man dürfe nicht länger warten, hieß es [2][vor dem Hintergrund des Skandals
       um LGBT-Rechte in Ungarn]. In einem neuen Gesetz, das am Donnerstag in
       Kraft treten soll, will Regierungschef Viktor Orbán jede Form von „Werbung“
       für Homosexuelle und andere sexuelle Minderheiten verbieten. Orbáns
       Vorgehen zeige, dass man jetzt einschreiten müsse, hieß es.
       
       EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen will sich jedoch noch bis Herbst
       Zeit lassen. Zwar habe ihre Behörde bereits begonnen, mögliche Verstöße
       gegen den Rechtsstaat zu prüfen, erklärte die CDU-Politikerin. Man wolle
       jedoch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs abwarten. Dort hatten
       Ungarn und Polen gegen den EU-Mechanismus geklagt. Das Urteil wird im
       Oktober erwartet.
       
       In Brüsseler EU-Kreisen besteht kein Zweifel daran, dass die Richter den
       neuen Sanktionsmechanismus billigen werden. Umso unverständlicher sei es,
       dass von der Leyen immer noch zögere, erklärte der grüne Europaabgeordnete
       Daniel Freund. Er legte ein von seiner Fraktion bestelltes Rechtsgutachten
       vor, demzufolge EU-Finanzmittel für Ungarn gestrichen werden sollten.
       
       In dem Gutachten bemängeln drei Wissenschaftler eine intransparente
       Verwendung von EU-Geldern, fehlende Verfolgung von Steuerhinterziehung
       sowie die fehlende Garantie unabhängiger Gerichte in Ungarn. Es habe sich
       gezeigt, dass öffentliche Aufträge an Freunde und die Familie von Orbán
       gingen.
       
       „Die EU-Kommission kann Ungarn die EU-Gelder streichen und muss diesen
       Schritt jetzt auch unmittelbar gehen“, sagte Freund der taz. Sonst würden
       „dreistellige Millionenbeträge in die Abschaffung der Demokratie in Ungarn“
       fließen. Gemeint ist Ungarns Anteil am Corona-Aufbaufonds „Next Generation
       EU“. Die Auszahlung soll bereits Ende Juli beginnen.
       
       Kann es also sein, dass Orbán noch im Sommer neue EU-Hilfen bekommt, bevor
       es im Herbst Finanzsanktionen setzt? Muss der Rechtsstaat so lange warten?
       Es sieht ganz danach aus. Denn genau diese Abfolge war beim EU-Gipfel im
       Dezember 2020 unter deutschem Ratsvorsitz festgelegt worden. Kanzlerin
       Merkel fädelte damals mit Orbán und von der Leyen einen umstrittenen Deal
       ein.
       
       Der Kompromiss sah vor, dass Orbán dem Rechtsstaatsmechanismus unter dem
       Vorbehalt zustimmt, dass er nicht sofort angewendet wird – und sein Land
       zunächst vor dem EU-Gericht klagen kann. Im Kern ist es ein
       Stillhalteabkommen: Orbán kann das Gesicht wahren, zugleich kann der neue
       Mechanismus in Kraft treten, wenn auch mit verspäteter Wirkung.
       
       ## Zeitliche Verquickung mit Corona-Aufbaufonds
       
       Was damals kaum jemand beachtet hat, ist die zeitliche Verquickung mit dem
       Corona-Aufbaufonds. Auch dieser 750 Milliarden Euro schwere
       schuldenfinanzierte Sonderfonds ist Teil des Deals. Er sieht für Ungarn
       ebenso wie für alle anderen EU-Länder neue Milliardenhilfen vor. Damit das
       Geld fließt, müssen jedoch noch alle 27 Mitgliedsländer zustimmen.
       
       In der Praxis heißt das, dass von der Leyen auf das „Ja“ von Orbán
       angewiesen ist. Auch dies sei ein Grund dafür, dass die Kommissionschefin
       mit Sanktionen zögert, heißt es in Brüssel. Würde sie schon jetzt gegen
       Orbán vorgehen, könnte dieser „Next Generation EU“ blockieren.
       
       7 Jul 2021
       
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