# taz.de -- Roman „Levys Testament“ von Ulrike Edschmid: Alles ist Jetzt
       
       > Ulrike Edschmids Œuvre führt vor, wie der Blick auf die Vergangenheit zu
       > Literatur wird. In „Levys Testament“ tun sich jedoch Grenzen auf.
       
 (IMG) Bild: Ulrike Edschmids neuer Roman wirft Fragen auf
       
       Was erzählt wird, ist in dem Moment, wenn es erzählt wird, immer schon
       vergangen. Das Erzähltempus Präsens, das heute bei vielen
       Neuveröffentlichungen verwendet wird, erzählt oft, als würde man neben der
       Handlung herjoggen. Man wird minutiös über alle Ereignisse informiert, und
       der Abstand zum Erzählten verändert sich nicht.
       
       Ulrike Edschmid verwendet in ihren Romanen das Präsens völlig anders. Im
       Moment des Erinnerns, der Schneisen in die Vergangenheit schlägt, ist die
       Vergangenheit immer wieder neu präsent.
       
       „Die Heizung in der Sozialbauwohnung wird am Nachmittag abgestellt. Erst am
       Abend springt sie wieder an. Ich friere, während die Mutter am Tisch eine
       Kiste mit Fotos öffnet. Es sind nicht einfach Fotos, wie sie in meiner
       Familie in irgendwelchen Schubladen oder Kisten liegen, vorteilhaft oder
       unvorteilhaft, aber stets dem Augenblick abgerungen. Diese Bilder sind eine
       Beschwörung.“
       
       Ulrike Edschmid hat eine eigene Antwort gefunden auf die Frage, wie
       Autofikion das Tagebuch verlässt. Ihr berichthafter Stil erzeugt Fragen an
       das Festgehaltene. Sie erzählt nicht von sich. Sie erzählt davon, wie sich
       ihre Blickachse auf das, was sie erlebt hat, verschiebt.
       
       ## Protagonist*innen sind Personen der Zeitgeschichte
       
       Oft wurde Edschmids Werk wegen dieser Notatenhaftigkeit für autobiografisch
       gehalten. Was sie schreibt, lässt sich anhand von Sachbüchern und
       Wikipedia-Artikeln nachprüfen. Oft sind die Protagonist*innen ihrer
       Bücher Personen der Zeitgeschichte, wie ihr ehemaliger Lebensgefährte
       Philip. S., beteiligt an der „Bewegung 2. Juni“, oder im aktuellen Roman
       der als Gründer des Frankfurter Gallus-Theaters leicht zu identifizierende
       Brian Michaels, ebenfalls zeitweiliger Lebensgefährte und langjähriger
       Freund Edschmids, dem schon „Nach dem Gewitter“ gewidmet war.
       
       In „Levys Testament“ erscheinen Momente, die in die Erzählzeit von „Philip
       S.“ passen: das Leben der Erzählerin in Frankfurt, die Rückkehr in die
       Fabriketage in Schöneberg. In einer Art „fehlende Teile“ füllt Edschmid in
       „Levys Testament“ Lücken in der Erzählung früherer Texte und lässt hier
       wohl wieder Lücken, die spätere Bücher füllen können.
       
       Sie folgt dem Theatermacher Brian Michaels, der im Buch nur „der Engländer“
       genannt wird, vom Moment ihrer Begegnung bis in die Jetztzeit und folgt mit
       ihm den Spuren seiner Familie in Fotos und berichteten Erinnerungen. Spuren
       bilden einen roten Faden des Romans, bis hin zur Lieblingsfußballmannschaft
       des Protagonisten, den „Spurs“.
       
       Fußball, eine Kindheit am unteren Rand der Mittelschicht. Eine Liebe, die
       sich nie verdichtet. Die politischen Unruhen der 70er, Hausbesetzungen, der
       Versuch, an der Basis (den Fabriken, den Schulen) etwas zu verändern. Dahin
       fahren, wo etwas zu tun ist, Portugal, die Nelkenrevolution, der spanische
       Kampf gegen Franco, eine bessere Welt nicht mit dem Urnengang oder einer
       Petition zu erreichen, sondern loszufahren und den Kampf vor Ort zu
       unterstützen.
       
       ## Edschmid erzählt oft von Fotos aus
       
       Als sich ihre Wege trennen, verlässt die Perspektive die Erzählerin und
       heftet sich an den Engländer. Auf Zwischenhalten erzählt er ihr von den
       Entdeckungen seiner Familiengeschichte. Die gelernte Dokumentarfilmerin
       Edschmid geht in ihren Büchern oft von Fotos aus. Das beharrliche Präsens
       in ihrem Werk, der Blick auf die Vergangenheit, zeigt, wie etwas zu
       Literatur wird: durch Festhalten und Loslassen.
       
       Wenn es funktioniert. „Levys Testament“ zeigt die Grenzen dieser
       Vorgehensweise. Die Beobachtungen und Erinnerungen ihrer früheren Texte
       erhielten Perspektive und Struktur durch Fragen danach, wie jemand zu einer
       gewaltvollen Person wird und was die Momente im Leben eines Menschen sind,
       die hängen bleiben. Die hier gestellte Frage wird dagegen als Plot erzählt.
       Wer hat wann was gemacht, gewusst, verschwiegen, und zudem: besessen,
       verkauft, unrechtmäßig erworben.
       
       Mit der Handlung um den jüdischen Patriarchen Levy in der ersten Hälfte des
       20. Jahrhunderts sind wir mitten in der kriminellen Unterwelt Londons,
       mafiöse Strukturen, unter denen einfache Leute, Arbeiter und Mieter zu
       leiden haben, und einem schiefgegangenen Coup im Jahr 1924.
       
       Aus dem Leben des Theatermachers aus England mit Wurzeln in Polen wählt
       Edschmid ausgerechnet das Jüdischsein seiner Vorfahren als Fluchtpunkt und
       Titel aus: Levys Testament. Das Jüdischsein wird dabei nicht als Religion,
       sondern rein als Herkunft erzählt, als eine Bewegung von
       Migrationsrouten. Und fast immer tritt es in Zusammenhang mit Geld auf:
       teuren Autos, Immobilienbesitz, den Rothschilds.
       
       Die Frage nach Urheberschaft und Schuld stellt Kausalitäten her, wo
       Edschmids Stärke im suggestiven Präsens sonst darin lag, Zusammenhänge im
       Kopf des Lesers entstehen zu lassen. Die Heimatlosigkeit des Engländers,
       seine Versehrtheit durch Schweigen, ein Thema, das den ganzen Text
       durchzieht, resultieren in dieser Engführung aus den kriminellen Handlungen
       jüdischer Banden.
       
       ## Antisemitische Topoi
       
       Levys Name findet sich „neben Rothschild auf einem Gedenkstein der
       Fieldgate Synagoge in Bethnal Green“. Dieser Name fällt auf in einem Text,
       der ohne die Nennung von Namen auskommt. Dieser Fokus wird noch verstärkt
       mit den antisemitischen Topoi des ewig wandernden Juden und des alle
       antisemitischen Verschwörungserzählungen prägenden Themas des Verrats.
       
       Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust ist nach Polen und Bulgarien
       ausgelagert, und es ist der Engländer, der kein Problem hat, in Frankfurt
       in der Fabrik zu arbeiten, die das Gas für die KZs hergestellt hat.
       
       „In den Diskussionen der Betriebsgruppen argumentiert der Engländer aus dem
       Blickwinkel der Arbeiterklasse, nicht als Jude. Juden – das sind die
       Frankfurter Häuserspekulanten. Degussa ist ein Betrieb wie jeder andere, in
       dem Menschen ausgebeutet werden, besonders die Gastarbeiter.“
       
       Wenn der Text vom Schweigen des Vaters spricht, „das den Zugang zu seiner
       Vergangenheit verwehrt“, geht es um die Schuld des Großvaters: „Levys
       Testament hat Weichen gestellt – für Wohlstand oder Bedürftigkeit, für
       Zugehörigkeit oder Ausgeschlossensein. Der größte Teil der Verwandtschaft
       gehörte dem einen Leben an, die kleine Familie des Engländers war von dem
       anderen gezeichnet. Worin auch immer Jacob verwickelt war, er hat dafür mit
       dem Leben bezahlt. Sein Sohn Joseph hat seine Kindheit und Jugend
       hingegeben. Der Engländer hat die Last des Schweigens getragen.“
       
       ## Fokus auf jüdische Kriminalität wirft Fragen auf
       
       Über Schweigen und Heimatlosigkeit in der jüdischen Community zu schreiben
       mit dem Fokus auf jüdische Kriminalität, und die Nachwirkungen des
       Holocaust in Deutschland auszusparen, erzeugt eine Leerstelle im Text, die
       pochende Rückfragen an die Autorin stellt.
       
       Es muss nicht Antisemitismus sein, der dahintersteckt, aber als
       Dokumentarfilmerin muss sich Edschmid Fragen an die Auswahl und
       Zusammenstellung ihres Materials gefallen lassen.
       
       Die Frage nach Leerstellen und Auslassungen beschäftigte die Kritik schon
       einmal, als die Autorin Edschmid 1999 den Briefwechsel ihres
       Schwiegervaters Kasimir Edschmid mit der ins Londoner Exil gegangenen
       jüdischen Zeichnerin und Autorin Erna Pinner herausgab. Er trug den
       bezeichnenden Titel „Wir wollen nicht mehr darüber reden“.
       
       Sie habe „akzentuiert und skelettiert“, bis ein „Konzentrat“ freigelegt
       worden sei, schrieb Ulrike Edschmid im Vorwort, jedoch ohne dass diese
       Bearbeitungen für das Publikum nachvollziehbar oder kenntlich gemacht
       waren.
       
       Julia Schröder rätselte im Deutschlandfunk, „was mit dem so beschriebenen
       Verhältnis von Authentizität und Wahrheit gemeint sein soll“, während sie
       nach der Bedeutung der Leerstellen fragte, und Walter Hinck sprach in der
       FAZ von einem „editorischen Verdunklungsfall“.
       
       Der Titel entstammt einem Brief Kasimir Edschmids, in dem er auf Pinners
       Gedanken über ihre ermordete Familie und die Verwendung von Häuten als
       Lampenschirme eingeht, und lautet vollständig: „Wir wollen aber nicht mehr
       darüber reden, und ich will keine Missverständnisse.“
       
       ## Wozu dienen Auslassungen?
       
       Wo lassen Auslassungen frei? Und wen? Und wo erhellen Narrative? Und wo
       verdunkeln sie? Wo stellen sie Fragen, und wo schließen sie Fragen ab?
       Beruhigen sie? Wen beruhigen sie?
       
       Die Poetik Edschmids trägt große Teile des Romans, bevor sie sich in einem
       Plot verfängt, der mehr Whodunit ist als suchendes Fragen oder nüchterne
       Erinnerung, und der dem Roman den Titel gibt: den Umständen und
       Konsequenzen von Levys Testament.
       
       Ein Testament ist etwas, das etwas festhält, das weitergibt, aber auch
       auslässt. So weit entspricht es der Erzählstrategie Edschmids. In „Levys
       Testament“ geht es aber weniger um das Erinnern und Vergessen, sondern
       vielmehr um die Vergangenheit in der Gegenwart. Im Tempus Gegenwart
       erzählt, bis man die Distanz vergisst, die zwischen jetzt und dem Erzählten
       liegt.
       
       Diese Distanz fehlt. Die Vergangenheit in der Gegenwart zu erzählen, wäre
       möglich gewesen, ohne sie in Eindeutigkeiten zu erklären. Ihre Auswirkungen
       zu zeigen, die Fragen, die sie ans Heute und im Heute immer noch stellt –
       nicht an die ungelösten Rätsel der Vergangenheit mit dem Ergebnis: Ach, so
       war das. Die (jüdische) Familie war schuld.
       
       ## Krimineller Hang zum Geschäftemachen
       
       Diese Erklärungen müssen immer der Frage standhalten: Wem nützen sie? Und
       gibt eine Erklärung für jüdische Versehrtheit und Orientierungslosigkeit,
       die deutsche Schuld ausspart und einen kriminellen Hang jüdischer Familien
       zum Geschäftemachen ins Zentrum stellt, die Wirklichkeit wieder? Diese
       Verbindung ist ein deutlich antisemitisches Stereotyp, das immer wieder
       verwendet wurde, um Juden Schuld an ihrem Ergehen zuzuweisen.
       
       Das Problem mit Auslassungen ist, dass sie einerseits durch die Freiheit,
       die sie dem Leser für eigene Gedanken lassen, Kunst ermöglichen, aber
       zugleich die Gefahr besteht, Wesentliches und mehr noch Problematisches
       auszusparen und den Fokus von blinden Flecken wegzulenken.
       
       Wie in allen ihren Texten funktioniert die eigenwillige Sprache der
       80-jährigen Autorin Edschmid für die Untersuchung, wie Leben erzählt werden
       kann, was die Erinnerung auswählt, und welche Brüche sie lässt.
       
       Mit den dadurch aufgeworfenen Fragen rutscht der Text in Kausalitäten, die
       nicht nur die präzise Beobachtung trüben, sondern auch den Stoff ersticken.
       Dass er das Jüdischsein des Protagonisten mit der Suche nach Schuldigen
       vermengt und außerhalb der Deutschen zu füllen sucht, wirft Fragen auf, für
       die der Text kein Gegengewicht hat.
       
       17 Jul 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anke Dörsam
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Buch
 (DIR) Roman
 (DIR) Antisemitismus
 (DIR) Juden
 (DIR) Erinnerung
 (DIR) Berlin im Film
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
 (DIR) Literatur
 (DIR) Literatur
 (DIR) NS-Verfolgte
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) „Notes of Berlin“-Regisseurin über die Stadt: „Berlin bleibt nicht mehr so attraktiv“
       
       „Notes of Berlin“ erzählt von kleinen und großen Dingen. Regisseurin
       Mariejosephin Schneider darüber, warum nicht mehr so viele Menschen in die
       Hauptstadt wollen.
       
 (DIR) Antisemitismus in Deutschland: Das Schweigen brechen
       
       Der Hass gegen Jüdinnen:Juden in Deutschland lebt. Er zieht seine Fäden
       durch die gesamte Gesellschaft – mal verhalten, mal ganz offen.
       
 (DIR) Buch „Die Kinder von Teheran“: Der lange Weg der Flucht
       
       Von der Flucht jüdischer Kinder in den Iran ist bisher wenig bekannt.
       Mikhal Dekel hat darüber ein fesselndes Buch geschrieben.
       
 (DIR) 150. Geburtstag von Marcel Proust: Auf der Suche war er von Anfang an
       
       Von Marcel Proust, Autor der „Suche nach der verlorenen Zeit“, wurden frühe
       Erzählungen entdeckt. Schon sie zeigen, wie skrupulös er mit Sprache
       umging.
       
 (DIR) Werkausgabe für Hermann Borchardt: Ein abgründiger Provokateur
       
       Für Brecht war er der größte lebende Satiriker in deutscher Sprache. Nun
       kann er wieder entdeckt werden: der Schriftsteller Hermann Borchardt.