# taz.de -- Die These: Wer gut leben will, muss fühlen
       
       > Empathie allein wird die Welt nicht retten. Aber ohne Empathie klappt die
       > Weltrettung auch nicht. Wir brauchen sie, auch als Handlungsimpuls.
       
 (IMG) Bild: Ein „Danke“ in Bad Münstereifel
       
       Zum Anfang eine Wahrheit: Man kommt nicht durchs Leben, ohne das Leid
       anderer zu sehen. Wer es sich leisten kann, mag sich Wohngegenden
       aussuchen, wo alles gut scheint. Mit Zäunen und Wachmännern, die das Leid
       und die Leute, die das Alles-gut-Gefühl stören könnten, abhalten. Aber
       selbst diese Orte müssen mitunter verlassen werden.
       
       [1][Ohnehin lauert das Leid überall]: auf der Straße, im Fernsehen, in der
       Kunst, in der Familie, im Internet. Es zeigt sich in der dritten
       Obdachlosen, die mich um eine kleine Spende bittet, während ich den zweiten
       Cappuccino bestelle. Im kleinen Jungen in den Nachrichten, der aus Syrien
       vor dem Krieg floh, um dann vor den Schüssen bewaffneter europäischer
       Grenzschützer wegrennen zu müssen. Im Onkel, der eine Krebsdiagnose
       bekommen hat.
       
       Das ist nur ein Bruchteil des Leids, das ich zuletzt gesehen habe, im
       echten Leben und auf verschiedenen Kanälen, manchmal im Vorbeiscrollen. Man
       gewöhnt sich nach und nach an die ständige Betrachtung von Leid – das ist
       die eine Sache, sie scheint unausweichlich. Woran ich mich aber nicht
       gewöhnen kann: dass nicht jedes Leid gleich behandelt wird.
       
       Ich ärgere mich oft wie Ewigdreizehnjährige über die Ungleichverteilung von
       Empathie. Da sangen etwa die Menschen in Wuhan zu Beginn der Pandemie aus
       ihren Hochhausfenstern, aber emotionale Regung spürte ich bei den Menschen
       hierzulande erst, als Italiener:innen auf ihren Balkonen das Gleiche
       taten. Warum?
       
       Da gab es die wirklich wunderbare Hilfsbereitschaft für Menschen im Westen
       Deutschlands, [2][die bei der Hochwasserkatastrophe viel zu viel verloren
       haben], während es für die Menschen im globalen Süden, die schon seit
       Jahren unter Fluten, die Auswirkungen der Klimakrise sind, leiden, selten
       für mehr als eine Spendenaktion reicht. „Man kann diese Dinge nicht
       vergleichen“, heißt es oft. Aber warum nicht?
       
       ## Mitgefühl ist keine einfache Sache
       
       Als ich vor ein paar Jahren den Journalismusberuf lernte, brachte man mir
       ein journalistisches Prinzip bei, das lautet: Was näher dran ist, berührt
       mehr. Oder: Was näher dran ist, ist relevanter. Dass dabei mit Nähe ein
       (angenommenes) Näheempfinden der Mehrheitsgesellschaft gemeint ist, wird
       selten ausgesprochen. Und überhaupt ist das Prinzip natürlich wahnsinnig
       unzeitgemäß, weil immer mehr Leute mit Menschen und Orten auf der ganzen
       Welt verbunden sind, familiär, freundschaftlich, beruflich. In Deutschland
       haben mittlerweile 40 Prozent der Kinder unter 18 Jahren einen sogenannten
       Migrationshintergrund, Tendenz steigend.
       
       Trotzdem will ich niemandem vorhalten, dass die Zerstörung des eigenen
       Zuhauses oder der Schmerz der Freund:innen stärker berührt, als das Leid
       von Menschen, denen man noch nie begegnet ist. Nicht alle müssen weinen,
       wenn auf der anderen Seite des Erdballs ein Regenwald brennt. Aber alle
       müssten sich in der Pflicht fühlen, etwas gegen das Feuer zu tun.
       
       Das mit dem Mitgefühl ist keine einfache Sache. Ich habe bis vor Kurzem
       geglaubt, eine der erstrebenswertesten menschlichen Aufgaben sei es, nicht
       hart zu werden in einer kaputten Welt. Das klingt schön und schaffbar, weil
       ich dabei nur bei mir bleiben muss. Das Mitgefühl zu schützen und den
       Weltschmerz, den man als Teenager so filterlos gespürt hat – das finde ich
       immer noch gut. Ausschlaggebend aber ist nicht das Mitgefühl an sich,
       sondern es in etwas ganz Konkretes und Hilfreiches zu übersetzen. Oder wie
       Susan Sontag schreibt: „Mitgefühl ist eine instabile Gefühlsregung. Es muss
       in Handeln umgesetzt werden, sonst verdorrt es.“
       
       Hier also die nächste Wahrheit: Empathie allein wird die Welt nicht retten.
       Aber ohne Empathie klappt die Weltrettung auch nicht. Oft ist sie
       Voraussetzung für den Willen, etwas zu tun. Bloß bleibt dann noch immer die
       Frage nach dem Wie.
       
       Auf den Handlungsimpuls indes muss es mehr als individuelle Antworten
       geben. Vielmehr müssen Strukturen gefunden werden, die Empathie fördern und
       dann in konkretes Handeln übersetzen. Und zwar solche, die nicht die Idee
       des Nationalstaats begünstigen, sondern eine globale Gesellschaft, die
       sich nicht nur in wirtschaftlicher Abhängigkeit verbunden sieht, sondern
       auch in sozialer Fürsorge.
       
       Das klingt abstrakt, aber eigentlich ist es ganz einfach. Ich will nicht
       alleingelassen werden mit der Hilflosigkeit darüber, dass mein
       Kaufverhalten die Polkappen nicht vor dem Schmelzen retten wird, oder dass
       in Haiti bisher nicht einmal 1 Prozent der Bevölkerung eine
       Corona-Erstimpfung erhalten hat. Ich will auch, dass wir überall die
       gleichen ethischen Maßstäbe an Berichterstattung über Leid anlegen, und
       nicht nur dann Respekt vor Betroffenen einfordern, wenn sie unsere direkten
       Nachbar:innen sind.
       
       Dafür braucht es auch Verantwortung der Einzelnen, aber vor allem
       Regierungen, die endlich einsehen, dass die weltumspannenden Krisen sich
       nicht national wegverwalten lassen. Regierungen, die keine Patente
       zurückhalten und sich nicht nur für sich selbst und Bürger:innen mit
       Ausweisdokument verantwortlich fühlen.
       
       Ich weiß schon, spätestens das ist der Punkt, an dem viele mich für naiv
       halten werden. Ich weiß das, weil Deutschland ein Land ist, in dem Dinge
       häufig bereits für unmöglich erklärt werden, bevor man sie überhaupt
       ausprobiert. Die Angst vorm Scheitern ist hier oft so groß, dass man lieber
       beim Altbekannten bleibt. Sogar dann, wenn das Altbekannte sich als
       ziemlich instabil und inhuman erweist. Wäre ich Pessimistin, müsste ich
       jetzt sagen: Dann geht sie halt unter, die Welt.
       
       ## Mit Cocktail an der Poolbar
       
       Wir in Deutschland konnten uns sehr lange die guten Teile der
       Globalisierung herauspicken: Ein Kleid bestellen, das in Bangladesch genäht
       wurde. Und dann den Kopf schütteln, wenn dort eine Textilfabrik brennt
       ([3][#empathy]). Auf ethische Standards der Berichterstattung und Respekt
       pochen, wenn im Inland eine Katastrophe geschieht, die Menschenleben
       kostet. Aber kurz darauf Videos einer 8.000 Kilometer entfernten
       Katastrophe teilen, auf denen man anderen beim Ertrinken zugucken kann, im
       Namen der dringend politischen Botschaft ([4][#climatechangeisreal]).
       
       Alle großen Krisen – Klima, Covid-19, Rassismus, Flucht, Ungleichheit –
       betreffen die ganze Welt. Und doch treffen sie uns nicht alle gleich. Wir
       sitzen vielleicht alle in einem Boot, weil wir nun mal den gleichen
       Planeten bewohnen, aber manche hängen mit Cocktail an der Poolbar, während
       andere im Maschinenraum seit Jahren das Wasser nach draußen schöpfen. Wenn
       sich nichts ändert, gehen wir sehr wahrscheinlich alle unter. Wie absurd
       ist es da, dass noch immer so viele glauben, es wäre Ziel genug, bloß am
       längsten an Bord zu bleiben?
       
       Hier also eine letzte Wahrheit: Moral und Anstand sollten Grund genug sein,
       diese hässliche Weltordnung abzuschaffen. Doch selbst diejenigen, die
       lieber Kosten-Nutzen-Rechnungen aufstellen, müssten spätestens jetzt
       einsehen: Der Pandemie, den Tornados, dem Meeresspiegel, der Hitze und dem
       Feuer sind Landesgrenzen egal. Die Jahre der globalen
       Katastrophenbewältigung brauchen keine nationalen Wettkämpfe, im Gegenteil.
       Wer das nachhaltig gute Leben im Einzelnen will, kommt nicht mehr daran
       vorbei, am nachhaltig guten Leben für alle zu arbeiten.
       
       Empathie weltweit ist der erste, sie in Handeln umsetzen der zweite
       Schritt. Anders, und das schreibe ich als Optimistin, sind wir nicht zu
       retten.
       
       1 Aug 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Hochwasser-in-Deutschland/!5787157
 (DIR) [2] /Ertrunkene-Menschen-mit-Behinderung/!5785903
 (DIR) [3] https://t#empathywitter.com/search?q=%23empathie
 (DIR) [4] https://twitter.com/hashtag/climatechangeisreal?lang=de
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lin Hierse
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Empathie
 (DIR) Katastrophe
 (DIR) Flutkatastrophe in Deutschland
 (DIR) Globalisierung
 (DIR) GNS
 (DIR) IG
 (DIR) Nordrhein-Westfalen
 (DIR) Schluss jetzt
 (DIR) taz.gazete
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Hilfsbereitschaft für Geflüchtete: „Empathie ist fragil“
       
       Man kann emotionale Resonanz im Gehirn messen, sagt die
       Neurowissenschaftlerin Tania Singer. Ein Gespräch über die Chancen und
       Grenzen von Empathie.
       
 (DIR) Hochwasser in Nordrhein-Westfalen: Auf rutschigem Boden
       
       In der Gemeinde Heimerzheim werden manche Häuser nur noch vom Putz
       zusammengehalten. Um die Menschen steht es nicht besser.
       
 (DIR) Mitgefühl in der Pandemie: Blankliegende Nerven, harte Urteile
       
       Uns droht ein Empathieverlust durch Fingerzeigen. Alle sind schuld an
       irgendwas. Wenn Solidarität an Bedingungen geknüpft wird, ist sie
       hinfällig.
       
 (DIR) Ein Jahr Pandemie: Das Mitgefühl-Paradox
       
       Seit einem Jahr sterben täglich Menschen an einer Corona-Infektion. Während
       die Infektionszahlen steigen, sinkt die Anteilnahme.