# taz.de -- Koalitionsoptionen nach der Wahl: Experiment mit Potenzial
       
       > Eine Ampelkoalition könnte die Grünen zur Kanzlerschaft bringen – und
       > funktionieren: Leistung, Ökologie und soziale Gerechtigkeit passen
       > zusammen.
       
 (IMG) Bild: Beim Thema soziale Gerechtigkeit scheinen die Gräben unüberbrückbar – aber sind sie das wirklich?
       
       Auch den Letzten dürfte die Flutkatastrophe die Augen geöffnet haben:
       Erdüberhitzung und Klimawandel sind nicht nur zu diskutieren, sondern
       bedürfen energischer politischer Entscheidungen. Eine Aufgabe, der sich die
       Bündnisgrünen seit Jahrzehnten zuwenden und die sie jetzt federführend
       anpacken könnten. Wenn da nicht das Problem wäre, dass die Überquerung der
       Ziellinie vor der Union im September [1][äußerst unwahrscheinlich] geworden
       ist.
       
       Und gehen sie im Herbst tatsächlich nur als zweite Sieger vom Platz, dann
       müssten sie entweder in einer schwarz-grünen Koalition den Kellner geben –
       oder anderweitig an die Kochhaube kommen. In einer grün geführten
       Ampelkoalition könnte dies durchaus der Fall sein. Sie würde die Chance
       eröffnen, eine sozialökologische Transformation tonangebend und nicht nur
       als Juniorpartner zu gestalten.
       
       Warum wird diese Möglichkeit nicht ausgiebiger in Erwägung gezogen? Eine
       zentrale Ursache liegt sicherlich darin, dass sich die Ökopartei und die
       „Freien Demokraten“ – der Freud’sche Versprecher Baerbocks („liberale
       Feinde“) lässt grüßen – in keiner Weise grün sind. Weder habituell noch
       inhaltlich. Erstaunlicherweise jedoch weniger in ökologischen Zielsetzungen
       – auch wenn die Liberalen eher auf einen marktwirtschaftlichen, technisch
       orientierten Klimaschutz setzen, der Innovationen in den Mittelpunkt rückt.
       
       Beim Thema soziale Gerechtigkeit scheinen die Gräben aber unüberbrückbar:
       Die Frage, wie man diesen „neoliberalen Porschefahrern“ abnehmen könnte, an
       Verteilungsgerechtigkeit interessiert zu sein, wird regelmäßig erwidert mit
       der Gegenfrage, wie man diesen „neidgetriebenen Eat-The-Rich-Öko-Müslis“
       abkaufen soll, sie würden das nicht verhandelbare
       Leistung-muss-sich-lohnen-Prinzip je respektieren.
       
       ## Es gibt einen Weg
       
       Eine Politik, die zugleich materielle Ungleichheiten reduziert, das
       leistungsorientierte Anreizsystem des Marktliberalismus achtet und dann
       auch noch auf Klimaschutz ausgerichtet sein soll, erscheint allen
       Beteiligten so aussichtslos wie die Quadratur des Kreises. Gibt es aber
       wirklich keinen Weg, Leistung, Ökologie und soziale Gerechtigkeit
       zusammenzubringen? Die Antwort lautet: Es gibt ihn sehr wohl.
       
       Um zu zeitgemäßen Modellen für eine solche Politik zu gelangen, schadet ein
       kleiner Ausflug in die Anfangszeit der Kohl-Ära nicht. Kaum hatte der
       Pfälzer mit den Liberalen 1982 der SPD die Kanzlerschaft abgeluchst, rückte
       das fast nebensächliche Feld der Studienförderung zügig in den Fokus des
       politischen Gestaltungsinteresses.
       
       Die leistungsorientierte Umgestaltung des BAföG war für die „bürgerliche“
       Koalition von immenser Bedeutung: Die typisch sozialdemokratische
       Unterstützung für sozial unterprivilegierte akademische Aufsteiger, die
       ursprünglich als Vollzuschuss vergeben wurde, sollte auf Effizienz getrimmt
       werden. An den des Müßiggangs und Langzeitstudierens verdächtigten
       „Arbeiterkindern“ wurde daher ein Exempel statuiert: keine Sozialtransfers
       mehr, ohne Meriten zu erbringen.
       
       Die Förderung stellte man dazu auf Volldarlehen um. So konnten sich die
       Schulden am Ende des Studiums auf bis zu 70.000 Mark summieren. Wer es
       allerdings in der Regelstudiendauer zum Abschluss schaffte, zu den besten
       30 Prozent seines Jahrgangs gehörte oder das Darlehen schneller als
       vorgesehen zurückzahlte, bekam ansehnliche Rabatte. Wenn man so will,
       sollte eine leistungskonforme Gerechtigkeit erzwungen werden.
       
       ## Von Kohl lernen
       
       Lässt sich das auf größere Handlungsfelder einer möglichen Ampelkoalition
       der Gegenwart übertragen? Betrachten wir dies an einem konkreten Beispiel:
       Die soziale Frage, zu der unter anderem die massive Ungleichheit der
       Vermögensverteilung und in den meisten Städten die Not, bezahlbaren
       Wohnraum zu finden, gehört, wird zunehmend auch im bürgerlichen Lager
       debattiert. Sie sorgt dort zu Recht für nachvollziehbares Grübeln, ob der
       reaktionäre Rechtspopulismus damit nicht in Verbindung steht.
       
       Zudem breiten sich Sorgen aus, dass die Habenichtse „euren geschminkten
       Frauen und euch und den Marmorpuppen im Garten eins über den Schädel
       hauen“, wie es Erich Kästner 1930 in seinem Gedicht „Ansprache an die
       Millionäre“ beißend formulierte. Kurzum, auch die FDP hat ihr
       wohlverstandenes Eigeninteresse entdeckt, die Vermögenspolarisierung und
       die Wohnungsnot nicht noch weiter anwachsen zu lassen.
       
       Wie könnte aber hier ein Lösungsansatz aussehen, der sozialökologischen und
       zugleich marktliberalen Zielsetzungen entspricht? Am Beispiel der
       Erbschaftssteuer auf Firmen lässt sich das aufzeigen: Diese teilweise
       immensen Hinterlassenschaften sind am wenigsten über den Erfolg
       individueller Leistung der Erben begründbar. Die Ampelkoalition könnte
       daher die Erbschaftssteuer auf große Vermögen deutlich erhöhen und bei
       Betriebsnachlässen festlegen, dass die Steuer in Form einer passiven
       Teilhaberschaft – also ohne jegliches unternehmerische Mitspracherecht –
       umgesetzt wird.
       
       Damit wäre zunächst einmal der Vorwurf, dem Betrieb würde durch den Staat
       zu viel Liquidität entnommen, der Boden entzogen. Denn als Mitbesitzer
       würde dieser weder Unternehmenskapital beanspruchen noch sich in die
       Geschäfte einmischen. Eine solche „stille Teilhabe“ berechtigte ihn jedoch
       dazu, regelmäßig einen Gewinnanteil einzuziehen.
       
       ## Rabattanreize mit sozialem oder ökologischem Charakter
       
       Es ist deswegen davon auszugehen, dass die allermeisten Firmeneigner, auch
       wenn sie den Betrieb „nur“ geerbt haben, die Staatsbeteiligung als einen
       „Stachel im eigenen Fleische“ betrachten, der baldmöglichst zu entfernen
       ist. Der leistungsorientierte und marktbasierte Ansatz würde Regeln
       schaffen, wie die weiterhin unternehmerisch tätigen Erben den „unliebsamen
       Partner“ so schnell wie möglich wieder loswerden können.
       
       Wie ginge das vonstatten? Neben dem schnöden Bezahlen der Erbschaftssteuer
       und dem Abkaufen der stillen Anteile – je schneller, desto höher wären die
       Rabatte – könnte man analog zu den Kohl’schen BAföG-Regeln Rabattanreize
       schaffen, die sozialen oder ökologischen Charakter haben. So ließen sich
       etwa Investitionen in dauerhaften nachhaltigen Sozialwohnungsbau oder in
       Biodiversität erhaltende Projekte gegenrechnen.
       
       Belohnt würden auch eine beschleunigte Hinwendung zu Klimaneutralität und
       nachhaltigem Wirtschaften. So könnte das auf Drangsalierung von
       Bildungsaufsteigern setzende Kohl’sche Modell doch noch einen positiven
       Nutzen bekommen. Und die FDP könnte zudem ihrer Vorliebe für
       Steuersparmodelle frönen.
       
       Die Furcht vor einem immensen Verwaltungsaufwand ist nicht abwegig. Aber am
       Beispiel der BAföG-Reform wissen wir auch, dass klar definierte und
       pauschalisierte Rabatte diesen in Grenzen halten können. Was bei ein paar
       Tausend Studierenden in den analogen 80er Jahren möglich war, wird in den
       digitalisierten 20er Jahren mit ein paar Tausend Unternehmensnachlässen
       nicht unmöglich sein.
       
       ## Erbschaftssteuer für genossenschaftlichen Wohnungsbau
       
       Wie könnte ein leistungsorientierter und sozialökologischer Ansatz
       aussehen, von dem Menschen profitieren, die keine Unternehmenserben sind
       und zuweilen große Schwierigkeiten haben, über die Runden zu kommen? Der
       Anteil der Erbschaftssteuer, der nicht sozialökologisch kompensiert,
       sondern realiter bezahlt wird, müsste samt den Gewinnanteilen aus den
       stillen Beteiligungen in genossenschaftlichen Wohnungsbau investiert
       werden. Dieser hätte den höchsten ökologischen Anforderungen zu
       entsprechen, die Mieten wären einkommensabhängig.
       
       Für Menschen, die nicht in eigenen Immobilien leben, könnte zusätzlich ein
       leistungsorientiertes Anreizsystem geschaffen werden: Mit der gezahlten
       höheren Erbschaftssteuer würde etwa ein – gerne auf Nachhaltigkeit
       setzendes – staatlich verwaltetes Fondssparen gefördert. Beiträge der
       einzahlenden weniger Begüterten werden dabei vervielfacht, was einen
       immensen Leistungsanreiz zur Vermögensbildung erzeugen würde.
       
       Je geringer das Einkommen, desto höher müsste der Vervielfachungsfaktor
       ausfallen. Ein solcher Fonds wäre rein zweckgebunden und nicht vorab
       auszahlbar: Nach Eintritt ins Rentenalter würde damit zum Beispiel eine
       lebenslängliche drastische Mietreduzierung, im Idealfall sogar eine
       Mietfreiheit gewährleistet. So ließe sich Altersarmut nicht gänzlich
       abschaffen, aber sicherlich stark reduzieren.
       
       Wieso hört man aber nicht mehr von solchen keineswegs utopischen Debatten?
       Vermutlich wird selbst in der Ökopartei die Chance auf eine Ampelkoalition
       als sehr gering eingeschätzt. Sei es, dass die in jeder Koalitionsvariante
       vor sich hin schrumpfende SPD als des Regierens überdrüssig eingeschätzt
       wird. Sei es, dass eine pragmatische Überzeugung vorherrscht, mit den
       Schwarzen eine bessere Klimapolitik hinzubekommen – selbst wenn man nur
       Little Brother spielen darf – als mit zwei schwierigen kleinen
       Geschwistern.
       
       ## Lindner lässt Spielräume offen
       
       Sei es, dass die Grünen einfach nicht den dringenden Willen haben, die
       notwendigen und harten Veränderungen politisch zu verantworten. Oder sei es
       schließlich, dass gemutmaßt wird, mit der FDP würde eh kein Schuh daraus,
       weil diese sich spätestens in Koalitionsverhandlungen wieder
       verdünnisierte. Letzteres ist nach dem Sommerinterview von [2][Lindner]
       jedoch gar nicht so sicher: Er sieht zwar keine „hinreichenden
       Gemeinsamkeiten für ein Ampelmodell“, redet aber immerhin von einem
       „fiktiven Szenario“, welches er als „reine Spekulation“ kleinreden möchte.
       
       Gleichzeitig betont er aber immer wieder den auf das Regieren abzielenden
       liberalen Gestaltungswillen und hält die Für-uns-zählen-Inhalte-Fahne hoch.
       Seine Formulierung, die FDP habe sich „koalitionspolitisch noch nicht
       abschließend festgelegt“, lässt also genügend Spielräume, auch für eine
       grün geführte Ampel, offen.
       
       Ende September werden wir sehen, ob es für eine Ampel reicht, und falls ja,
       wie dann die Akteure realiter entscheiden werden. Dass es zu einer solchen
       Koalition kommt, ist unwahrscheinlich. Gleichwohl wünsche ich mir mehr
       Nachdenken über das Ausbalancieren von Freiheit, Gleichheit und Ökologie
       sowie über die Gestaltungsmöglichkeiten eines solchen Zweckbündnisses.
       Spannend wäre sein Zustandekommen allemal.
       
       31 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Die-Gruenen-im-Abwaertstrend/!5780923
 (DIR) [2] /FDP-beschliesst-Wahlprogramm/!5772489
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Helmut Däuble
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Bündnis 90/Die Grünen
 (DIR) FDP
 (DIR) SPD
 (DIR) Schwerpunkt Bundestagswahl 2021
 (DIR) Ampel-Koalition
 (DIR) Schwerpunkt Bundestagswahl 2021
 (DIR) Schwerpunkt Armut
 (DIR) Schwerpunkt Bundestagswahl 2021
 (DIR) Grünes Wachstum
 (DIR) Hochwasser
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Mögliche Koalitionen nach der Wahl: Rote Socken, gelbe Socken
       
       Jamaika war einmal. Zwei Wochen vor der Wahl stehen zwei andere
       Koalitionsmodelle im Fokus: Rot-Grün-Rot und die Ampel. Welches wäre
       besser?
       
 (DIR) Soziale Gerechtigkeit in Deutschland: Unterschätzte Errungenschaften
       
       Hauptsache, die Reichen zahlen mehr Steuern? Mitnichten. Um die
       Solidarsysteme auszubauen, sollte auch die Mittelschicht höhere Abgaben
       zahlen.
       
 (DIR) Unionspolitiker Andreas Jung: Ritter ohne Rüstung
       
       Nach der Wahl muss die CDU/CSU beim Klimaschutz ernst machen. Sie hat
       womöglich sogar den richtigen Mann. Aber ist er zu nett für den Job?
       
 (DIR) Klimaschutz im Kapitalismus: „Grünes Wachstum ist nicht möglich“
       
       Deutschland will bis 2045 klimaneutral werden. Aber geht das in unserem
       Wirtschaftssystem überhaupt? Ein Streitgespräch.
       
 (DIR) Grünen-Wahlkampf nach der Flut: Immer schön vorsichtig bleiben
       
       Wie thematisiert man die Flutkatastrophe, ohne die Opfer zu
       instrumentalisieren? Die gebeutelten Grünen tasten sich an die richtige
       Tonlage heran.