# taz.de -- Prozess gegen SS-Wachmann: Kein Wort der Entschuldigung
       
       > In Brandenburg an der Havel beginnt der Prozess gegen einen ehemaligen
       > Wachmann des KZ Sachsenhausen. Der Angeklagte schweigt.
       
 (IMG) Bild: Ein Hundertjähriger vor Gericht: Prozess gegen ehemaligen Wachmann des KZ Sachsenhausen
       
       BRANDENBURG AN DER HAVEL taz | Leon Schwarzbaum sitzt ganz links im
       Gerichtssaal nahe der verklinkerten Wand. Der Mann im Rollstuhl ist 100
       Jahre alt, doch er hat es sich nicht nehmen lassen, zur Eröffnung des
       [1][Verfahrens gegen Josef S.] nach Brandenburg an der Havel zu reisen.
       Schwarzbaum hat Auschwitz überlebt. Er ist im Januar 1945 mit einem
       Todesmarsch nach Berlin gekommen, wurde in Spandau bei Siemens inhaftiert.
       Es war eines von vielen Nebenlagern des [2][KZ Sachsenhausen]. „Man hat das
       alles irgendwie überlebt“, sagt er vor Beginn der Verhandlung.
       
       Schwarzbaum hofft, dass der Angeklagte zu seinen Taten steht und sich vor
       Gericht äußert. Christoph Heubner, Exekutivpräsident des Internationalen
       Auschwitz-Komitees, spricht für ihn: „Schwarzbaum hat wie viele Überlebende
       lange auf die Gerechtigkeit warten müssen.“
       
       Josef S. benötigt keinen Rollstuhl. Der Angeklagte sitzt vielleicht dreißig
       Meter von Schwarzbaum entfernt nahe derselben Wand. Die beiden Männer
       teilen ihr biblisches Alter, aber sonst haben sie nichts miteinander
       gemein. Denn S. ' Arbeitsplatz war das KZ Sachsenhausen. Vom Oktober 1941
       bis Mitte Februar 1945 bewachte er, zuletzt im Rang eines SS-Rottenführers,
       die Gefangenen.
       
       S. macht in der zum Gerichtssaal umgebauten Sporthalle am Rande von
       Brandenburg einen rüstigen Eindruck. Um seinem Verfahren besser folgen zu
       können, stehen ihm Kopfhörer zur Verfügung.
       
       ## „Teil des Tötungsräderwerks“
       
       Josef S.' mutmaßliche Beteiligung an den Morden in Sachsenhausen ist fast
       80 Jahre lang absichtsvoll übersehen worden. Die Staatssicherheit in der
       DDR, wo er nach dem Krieg lebte, wusste davon, doch unternahm nichts. Nach
       der Wiedervereinigung wurde S. zunächst aber auch kein Fall für die
       bundesdeutsche Justiz, die sich nur bei nachgewiesener direkter Beteiligung
       an Morden bemüßigt sah, tätig zu werden. Diese langmütige Rechtsauffassung
       änderte sich erst vor knapp zehn Jahren. Und deshalb sitzt Josef S. jetzt
       im Alter von 100 Jahren vor Gericht, angeklagt wegen Beihilfe zum Mord in
       mindestens 3.518 Fällen. Mord verjährt nicht.
       
       Der Vorsitzende Richter Udo Lechtermann, ein schon etwas älterer Herr,
       führt die Verhandlung souverän. Mehrfach erkundigt er sich, ob der
       Angeklagte das Gesprochene auch gut hören könne. Dann hat Oberstaatsanwalt
       Cyrill Klement das Wort. Er verliest die Anklage.
       
       Josef S. wird darin vorgeworfen, als Angehöriger des
       SS-Totenkopfwachbattalions im Hauptlager Sachsenhausen bei Oranienburg
       „Teil des Tötungsräderwerks“ gewesen zu sein, die Morde gebilligt und von
       ihnen gewusst zu haben. Seine Aufgabe sei es gewesen, bewaffnet mit einem
       Gewehr auf einem der Wachtürme, auf Postenketten und bei der Bewachung von
       Arbeitskommandos dazu beigetragen zu haben, dass keiner der Gefangen
       flüchten konnte.
       
       Der Staatsanwalt listet die Mordmethoden auf. Tod durch Massenexekutionen,
       insbesondere an sowjetischen Kriegsgefangenen. Systematische Tötung durch
       die Herbeiführung „lebensfeindlicher Bedingungen“, Hunger, Kälte, fehlende
       ärztliche Hilfe. Vernichtung der Kranken und Gebrechlichen durch Erschießen
       und Vergasen. Morde in der Gaskammer. Rund 200.000 Menschen wurden bis 1945
       insgesamt in Sachsenhausen gefangen gehalten, Zehntausende sind gestorben.
       
       Der Angeklagte hört der Verlesung der Anklage aufmerksam über seine
       Kopfhörer zu. Er macht einen wachen Eindruck. Der Überlebende Leon
       Schwarzbaum hat im Zuschauerraum den Kopf gesenkt.
       
       Nach der Verlesung der Anklage fragt der Richter den Angeklagten, ob er
       etwas sagen möchte. Dessen Anwalt Stefan Waterkamp erklärt, dass sich sein
       Mandant nicht zu den Vorwürfen äußern werde, sondern einzig zu seinen
       persönlichen Lebensverhältnissen.
       
       Damit ist der erste Prozesstag beendet. Leon Schwarzbaum sagt, bevor er die
       Sporthalle verlässt: „Ich habe mir etwas anderes erhofft. Kein Wort der
       Entschuldigung, kein Wort der Erklärung.“
       
       Das Gericht hat Verhandlungstage bis in den Januar 2022 terminiert. Der
       angeklagte Josef S. gilt aufgrund seines hohen Alters als nur eingeschränkt
       verhandlungsfähig, weswegen ein Prozesstag maximal drei Stunden dauern
       wird. Im nächsten Monat wird S. 101 Jahre alt.
       
       7 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Konzentrationslager-Sachsenhausen/!5750829
 (DIR) [2] /Gedenkstaettenleiter-ueber-NS-Erinnerung/!5494043
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus Hillenbrand
       
       ## TAGS
       
 (DIR) NS-Verbrechen
 (DIR) Konzentrationslager
 (DIR) Holocaust
 (DIR) Shoa
 (DIR) Gerichtsprozess
 (DIR) KZ
 (DIR) Justiz
 (DIR) Schwerpunkt Tag der Befreiung
 (DIR) Justiz
 (DIR) NS-Verbrechen
 (DIR) Sachsenhausen
 (DIR) NS-Verfolgte
 (DIR) Konzentrationslager
 (DIR) NS-Verbrechen
 (DIR) Juden
 (DIR) KZ Stutthof
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Prozess wegen Massenmords im KZ: Urteil in Sicht
       
       Einer der letzten NS-Prozesse gegen früheres KZ-Personal läuft in
       Brandenburg. Posthum wurde die Aussage des Häftlings Leon Schwarzbaum
       verlesen. ​
       
 (DIR) Prozess wegen Massenmord in KZ: Experte bezweifelt Erinnerungslücke
       
       Im Verfahren gegen einen 101-jährigen Angeklagten schildert ein Zeuge den
       unmenschlichen Alltag im Lager Sachsenhausen.
       
 (DIR) Streit um Straßennamen in Oranienburg: Erinnerungswerter Name?
       
       Ein Opfer kann sich auch mit Tätern gemein machen. Im Streit über die
       Gisela-Gneist-Straße hält Kommission aber am umstrittenen Namen fest.
       
 (DIR) Prozess gegen mutmaßlichen KZ-Wärter: Weitere Überlebende sollen aussagen
       
       Das Verfahren gegen den 101-jährigen Angeklagten wird mit Zeugenaussagen
       fortgesetzt. Der Mann bestreitet die Vorwürfe.
       
 (DIR) Prozess gegen SS-Wachmann: Leugnen jeder Schuld
       
       Ein 101-Jähriger wird beschuldigt, im KZ Sachsenhausen gearbeitet zu haben.
       Trotz belastender Dokumente bestreitet er das vor Gericht.
       
 (DIR) Prozess gegen KZ-Wachmann: SS-Mitgliedschaft bestritten
       
       Der 101-jährige Angeklagte steht wegen Beihilfe zu tausendfachen Mord vor
       Gericht. Er streitet bisher jede Schuld ab.
       
 (DIR) Jüdische Polizisten im Dritten Reich: „Einige mussten Trümmer räumen“
       
       Hamburgs Polizeimuseum zeigt eine Ausstellung über die Verfolgung jüdischer
       Polizisten im NS-Staat. Ex-Kommissar Bähr hat 47 Biographien recherchiert
       
 (DIR) Massentötungen im Konzentrationslager: Prozess wird unterbrochen
       
       Der Prozess um die Tötung von Tausenden Häftlingen im KZ Sachsenhausen
       zieht sich: Der Angeklagte muss zu einer Behandlung ins Krankenhaus.
       
 (DIR) Prozess gegen frühere KZ-Sekretärin: Sie will nichts gewusst haben
       
       In Itzehoe wird die Anklage gegen eine frühere Sekretärin des KZ Stutthof
       vorgetragen. Am Gerichtsgebäude tauchen auch vereinzelt Rechtsextreme auf.
       
 (DIR) Alltäglicher Judenhass: Die Mär vom fremden Juden
       
       Der antisemitische Angriff auf Sänger Gil Ofarim zeigt: Ausgrenzung ist
       kein jüdisches Problem, sondern das der nichtjüdischen
       Mehrheitsgesellschaft.
       
 (DIR) Verzögerung bei Prozess: Flüchtige KZ-Sekretärin gefasst
       
       Am Donnerstag sollte der Prozess gegen eine 96-Jährige beginnen, die im KZ
       Stutthof arbeitete. Erst gelang ihr die Flucht, nun wurde sie festgenommen.
       
 (DIR) Prozess zum Konzentrationslager Stutthof: Die Schuld der Sekretärin
       
       Irmgard F., Beruf: Rentnerin, frühere Tätigkeit: Chefsekretärin im KZ. 75
       Jahre lang blieb sie unbehelligt. Ende des Monats beginnt der Prozess.