# taz.de -- Nachruf auf Dagmar von Doetinchem: Erinnerungen an die Gräfin
       
       > Eine Persönlichkeit der Berliner 68er-Bewegung, Dagmar von Doetinchem,
       > ist am 26. Januar gestorben. Ein Auszug aus der Grabrede.
       
 (IMG) Bild: Dagmar von Doetinchem, 1947-2022
       
       Dagmar und ich gehören demselben Jahrgang 1947 an, [1][wurden 68er], trafen
       uns bei der Westberliner Roten Hilfe, gingen berufliche Umwege,
       beschäftigten uns seit den 1980er Jahren wieder mit dem
       Nationalsozialismus, wählten später eher CDU als Grüne und haben jeweils
       ein Kind bekommen, das etwas anders als erwartet wurde. Meine Tochter heißt
       Karline. Dagmars Sohn heißt Timm. Sie hat ihn geliebt und wollte für ihn
       möglichst viel Selbstständigkeit und Normalität. Das war ihr wichtig.
       
       Dagmars Geburtsjahr 1947 fällt in die sogenannte schwere Zeit. Unsere
       Eltern standen 1945 mit fast nichts da: materiell, ideell und moralisch
       entwurzelt und meist schwer traumatisiert: der Bombenkrieg, die vielen
       Gefallenen, Flucht, Vertreibung, Hunger. Über dem Land derjenigen, die den
       Krieg begonnen und Europa mit 19 Millionen deutschen Soldaten verwüstet
       hatten, lagen Starre und Orientierungslosigkeit. In den frühen 1950er
       Jahren folgte die von geschichtsabgewandter Betriebsamkeit geprägte Periode
       des Wiederaufbaus. Dabei herrschte in den meisten Familien eine merkwürdige
       Kälte. Oft fehlte es den späteren 68ern an dem, was man Nestwärme nennt,
       eine Generation emotional frierender Kinder.
       
       Dagmars Mutter Roswitha war 1943 mit 27 Jahren Witwe geworden. Ihr Mann,
       Kapitänleutnant Heinsohn, war mit seinem U-Boot samt 45-köpfiger Besatzung
       bei Neufundland versenkt worden. Da saß sie nun mit ihren beiden Söhnen,
       schwanger mit dem dritten, im besetzten Polen, in der Hafenstadt Gdynia,
       umbenannt in Gotenhafen. Im Sommer 1944 floh Roswitha Heinsohn mit den
       Kindern nach Blankenhagen in Hinterpommern, im Januar 1945 weiter nach
       Schleswig-Holstein. Dort wurden der Flüchtlingsfamilie eineinhalb Zimmer
       unterm Dach zugewiesen. Am 28. Dezember 1947 wurde Dagmar in diese
       Situation hineingeboren. Dagmars Vater war Dietrich Sigismund von
       Doetinchem de Rande, der Gutsherr von Blankenhagen, der ersten
       Fluchtstation der Mutter.
       
       Mit dem Wirtschaftswunder kam 1955 Bruder Andreas zur Welt. Dagmar schloss
       die Schule mit Mittlerer Reife ab. Dann geschah etwas, worüber sie später
       nicht sprach: Dagmar wurde als „Maid“ in die niedersächsische
       Landfrauenschule Obernkirchen gesteckt. Kaiser Wilhelm II. hatte dort seine
       Töchter hingeschickt, Richard Wagners Enkelin Verena und Hans-Dietrich
       Genschers Ehefrau lernten dort Hauswirtschaft, Gartenbau und Kleintierzucht
       – und eben auch, eingekleidet in Maidentracht samt Häubchen, unsere Dagmar,
       später von uns liebevoll „die Gräfin“ genannt.
       
       Klar ist, dass solche familiären Abgründe zur Rebellion herausforderten,
       zur Suche nach etwas Neuem, nach menschlicher Nähe. Dagmar fing damit früh
       an. Sie ging nach Westberlin, zog in die legendäre Kommune 1, dann in die
       Kommune 2, lernte dort ihren ersten Freund, Ulrich Enzensberger, kennen.
       Man kann über die Kommunen, über die Wege und Irrwege, die Verrücktheiten,
       Verblendungen und das Scheitern der ummauerten Westberliner 68er sagen, was
       man will: Das Aussteigen aus der alten, eingefrorenen, kalten und
       verlogenen Welt der bundesdeutschen 1960er Jahre war verständlich.
       
       ## Schwere existenzielle Krisen
       
       Die Um- und Rückwege, die wir dann genommen haben, endeten manchmal
       komisch, manchmal tragisch. Nicht wenige sind gescheitert, auf Abwege
       geraten oder psychisch krank geworden, manche haben sich das Leben
       genommen. Auch Dagmar hatte schwere existenzielle Krisen. Wie schnell die
       Revolte von 1968 jedoch gewirkt hat, kann man auch daran ermessen, dass die
       Landfrauenschule Obernkirchen 1970 geschlossen wurde, und zwar „infolge
       gesellschaftlicher Veränderungen der 1968er-Jahre“.
       
       Ich habe Dagmar 1971 bei der Roten Hilfe kennengelernt. Wir produzierten
       1972 die schreckliche Broschüre „[2][Vorbereitung der RAF-Prozesse] durch
       Presse, Polizei und Justiz“. Horst Mahler saß als Mitbegründer der RAF und
       Terrorist im Knast. Er erschien uns als eine Art Heiliger, seine groben
       Briefe hielten wir für diskussionswürdige Botschaften. Eine Erklärung, die
       Ulrike Meinhof 1972 als Zeugin [3][im Mahler-Prozess] vor dem Berliner
       Landgericht abgegeben hatte, fand in der Roten Hilfe kein kritisches Echo.
       Sie lautete: „Der Antisemitismus war seinem Wesen nach antikapitalistisch.
       (…) Ohne dass wir das deutsche Volk vom Faschismus freisprechen – denn die
       Leute haben ja wirklich nicht gewusst, was in den Konzentrationslagern
       vorging –, können wir es nicht für unseren revolutionären Kampf
       mobilisieren.“ Ein ähnlicher Satz ist von Dutschke überliefert.
       
       Wer die Lebenserinnerungen Marcel Reich-Ranickis liest, erfährt dort: 1964
       war Ulrike Meinhof die „erste Person in der Bundesrepublik“, die, am Ende
       unter Tränen, „aufrichtig und ernsthaft wünschte“, von Reich-Ranicki über
       dessen „Erlebnisse im Warschauer Ghetto informiert zu werden“. Als sie sich
       1976 im Gefängnis erhängte, wählte sie ausgerechnet die Nacht vom 8. zum 9.
       Mai. „Wäre es denkbar“, fragte Reich-Ranicki, dass es zwischen der
       deutschen Vergangenheit und dem Weg zum Terror „einen Zusammenhang gibt“?
       
       Aber es wird noch verrückter. Horst Mahler, der als Holocaustleugner und
       Rechtsradikaler jahrelang im Gefängnis saß, hatte sich 1967 zusammen mit
       Joseph Wulf, Heinz Galinski, Max Horkheimer, Nahum Goldmann, Léon Poliakov
       und Fritz Bauer dafür eingesetzt, die Wannsee-Villa in einen Ort zur
       Erforschung nationalsozialistischer Verbrechen umzuwandeln. Das Vorhaben
       scheiterte.
       
       1968 war in der alten Bundesrepublik auch der verzweifelte Versuch der
       ersten Nachkriegsgeneration, der deutschen Geschichte zu entrinnen.
       Plötzlich sprachen wir nicht mehr vom Nationalsozialismus und seinen
       Verbrechen, sondern vom internationalen Faschismus. Der hauste nicht so
       sehr in Deutschland, sondern in Washington, Saigon und Teheran, hieß Lindon
       B. Johnson, Reza Pahlewi, Nguyễn Văn Thiệu oder General Westmoreland. Der
       Vorteil: Sie alle hatten keine deutschen Namen und lebten Tausende
       Kilometer entfernt. Wir selbst schlugen uns auf die Seite der vermeintlich
       Guten, der Freiheitskämpfer, der Guerilleros.
       
       Man kann diese Ausweichmanöver verstehen. Schließlich waren wir die Kinder
       der 1933er, wir mussten plötzlich, unvorbereitet und ungeschützt in die
       Abgründe deutscher Geschichte und unserer Familien blicken. Das Beste an
       der Roten Hilfe war, dass sie sich ziemlich schnell sang- und klanglos
       auflöste. Danach landeten viele von uns wieder im Morast deutscher
       Geschichte.
       
       ## Dagmar wurde Hebamme
       
       Dagmar wurde nicht, wie von ihr einmal gewollt, revolutionäre Lehrerin,
       sondern Hebamme. Damit markierte sie, dass sie sich von revolutionären
       Utopien verabschiedet hatte. In einem nächsten Schritt setzte sie sich mit
       der ihr eigenen Gründlichkeit mit dem Nationalsozialismus auseinander,
       plante die Ausstellung und schrieb die wesentlichen Teile des Buchs
       „Zerstörte Fortschritte. Das Jüdische Krankenhaus in Berlin“.
       
       Den Titel hatte Klaus Hartung gefunden, ihr geschiedener Mann, der ihr
       zudem die Einleitung schrieb. Klaus sprach darin von „einer merkwürdigen
       öffentlichen Stummheit“, von „einer tonlosen Gegenwärtigkeit“, die über dem
       Thema liege, dem man „nun endlich mit größerer Sorgfalt“ nachgehe. Damit
       meinte er auch sich selber, unsere Generation, die damalige Neue Linke.
       
       Das Jüdische Krankenhaus bestand bis 1945 – immer mehr der Gestapo und SS
       unterworfen. Dagmar schrieb am Ende ihres Buchs: „Die Geschichte des
       Jüdischen Krankenhauses im Dritten Reich ist weniger die Geschichte einer
       Institution als die von bedrohten und verfolgten Menschen.“ Um das
       möglichst genau darzustellen, hatte sie Überlebende in großer Zahl besucht:
       in Berlin und Mainz, in New York und Chicago, in Lugano, London, Haifa, Tel
       Aviv und Jerusalem. Sie befragte dem Holocaust Entronnene, hörte ihnen zu,
       verlieh ihnen in Deutschland eine Stimme.
       
       Im Juni 1989 wurden Ausstellung und Buch im Jüdischen Gemeindehaus
       feierlich präsentiert. Dank Dagmars Arbeit waren etwa 40 Ehemalige des
       Jüdischen Krankenhauses nach Berlin gekommen, ältere Leute, teils
       hinfällig, „aber wache und energievolle Menschen sind es, die etwas wollen,
       voneinander und auch sonst“. So schilderte Klaus Hartung den Eröffnungstag
       in der taz.
       
       Als Dagmar zum Podium schritt, verhaspelte sich die sonst so selbstbewusst
       Auftretende, verlor den Faden und fand kein Ende. Aber es wäre falsch zu
       sagen, sie hätte eine schlechte Rede gehalten. Sie zeigte die tiefe, damals
       weit verbreitete Unsicherheit. Wir 68er hatten zu mehr als 90 Prozent
       Väter, die Soldaten der Wehrmacht gewesen waren. Etwa 30 Prozent waren
       Mitglieder der NSDAP, deutlich mehr hatten dem Führer zugejubelt. Dagmars
       Stimme versagte immer wieder vor so vielen ihr freundlich und offenherzig
       zugewandten Juden, die überlebt hatten und nun – dank ihrer Recherchen –
       nach Berlin gereist waren.
       
       Dagmar lebt von nun an in unserer Erinnerung. Wir erinnern uns mit einem
       Lächeln und mit Freude an ihre Eigenheiten und an ihre großen Stärken.
       
       15 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Neues-Buch-von-Sahra-Wagenknecht/!5764480
 (DIR) [2] /Eine-besondere-Beziehung/!5694500
 (DIR) [3] /Horst-Mahler-verlaesst-Haft/!5724323
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Götz Aly
       
       ## TAGS
       
 (DIR) 68er
 (DIR) Kommune 1
 (DIR) Horst Mahler
 (DIR) Radikale Linke
 (DIR) 68er
 (DIR) Antisemitismus
 (DIR) IG
 (DIR) Schwerpunkt Klimawandel
 (DIR) Nachruf
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Frauen in der 68er-Bewegung: „Die Mütter kamen schlecht weg“
       
       Die Rolle der Frauen in der 68er-Bewegung wird meist verschwiegen. Die
       Psycholanalytikerin Gabriele Teckentrup hat nach ihren Motiven geforscht.
       
 (DIR) Pionierwerk der Holocaustforschung: Das Unverstehbare rekonstruieren
       
       Léon Poliakovs „Vom Hass zum Genozid“ gilt als erste systematische
       Darstellung des Holocaust. Nun ist das Buch auf Deutsch erschienen.
       
 (DIR) Die Schuld der Uroma: „Laufe ich dann weg?“
       
       Durch Zufall erfuhr der Fotograf Stefan Weger, dass seine Urgroßmutter
       einen polnischen Zwangsarbeiter an die Nazi-Justiz ausgeliefert hat.
       
 (DIR) Klimabewegung und Radikalität: Brauchen wir eine grüne RAF?
       
       Der Koalitionsvertrag enttäuscht, die Mobilisierung läuft schlecht. Sollte
       sich die Klimabewegung radikalisieren?
       
 (DIR) Nachruf auf Filmerin Helga Reidemeister: Auf den Spuren von Rudi Dutschke
       
       Die Dokumentarfilmerin Helga Reidemeister ist tot. Ihr Interesse galt
       politischen Biografien, Berliner Arbeiterfamilien und dem Land Afghanistan.