# taz.de -- Thriller „The Innocents“ im Kino: Kleiner Kinder Spiele
       
       > In Eskil Vogts perfide fesselndem „The Innocents“ zeigen sich
       > Schutzbefohlene von einer unheimlich mächtigen Seite. Ein Kinderfilm ist
       > es nicht.
       
 (IMG) Bild: Wollen sie nur spielen? Ida (Rakel Lenora Fløttum) und Ben (Sam Ashraf) in „The Innocents“
       
       Man mag dieses Mädchen nicht. Ida (Rakel Lenora Fløttum) ist gerade mal im
       Grundschulalter, aber von einer Gemeinheit, die ihresgleichen sucht. Der
       Film hat kaum begonnen, sie ist mit ihrer Familie auf dem Weg in die neue
       Wohnung in einem Hochhauskomplex, da kneift sie ihre ältere Schwester Anna
       (Alva Brynsmo Ramstad) gezielt in den Oberschenkel. Die Schwester macht
       sich lediglich durch eine Art Stöhnen bemerkbar, das nach einem vor sich
       hin brabbelnden Kleinkind klingt, zeigt jedoch keine erkennbare Reaktion,
       dass sie Schmerz empfindet.
       
       Dass sie den sehr wohl fühlen, dies aber nicht zum Ausdruck bringen kann,
       erfährt man im Spielfilm „The Innocents“ des [1][norwegischen Regisseurs
       und Drehbuchautors Eskil Vogt] in einer der nächsten Szenen. Anna ist
       autistisch, erzählen die Eltern beim Besuch einer neuen Therapiegruppe.
       Früher hat sie gesprochen, dann immer weniger, jetzt kommen bloß Vokale aus
       ihrem Mund.
       
       Idas Verhalten ist aber nicht einfach auf einen schlechten Charakter
       zurückzuführen, sondern, auch das erfährt man bald darauf, könnte Zeichen
       dafür sein, dass sie sich überfordert sieht. Sie muss oft die Verantwortung
       für ihre große Schwester übernehmen, etwa wenn sie gemeinsam ohne die
       Eltern nach draußen gehen. Ida hat ein Mobiltelefon, damit sie erreichbar
       ist und sich melden kann. Anna, obwohl fast eine Jugendliche, könnte damit
       nichts anfangen.
       
       In der neuen Siedlung ist wenig los, es sind Schulferien, viele Familien im
       Urlaub. Ida erkundet die Gegend mit ihrer Schwester, begegnet einem Jungen,
       der mit den anderen Kindern vom Spielplatz wenig zu tun zu haben scheint.
       Mit Ben (Sam Ashraf) erkundet Ida das Waldgebiet um die Betonbauten, er
       zeigt ihr einen Trick. So ganz verstehen Ida und das Publikum nicht, worin
       der besteht, doch wenn Ida vor Bens Augen einen Stein herabfallen lässt,
       ändert der auf halber Strecke plötzlich seine Flugbahn und fliegt seitlich
       weg, wird zum Geschoss.
       
       ## Superhelden der etwas anderen Art
       
       Ben ist nicht das einzige Kind in der Nachbarschaft mit sonderbaren
       Fähigkeiten. Auch Aisha (Mina Yasmin Bremseth Asheim), ein stilles Mädchen
       mit auffälligen Pigmentstörungen im Gesicht, ist anders. Sie hört andere
       Leute, die nicht da sind. Was normalerweise auf die Diagnose Schizophrenie
       hinausliefe, ist bei Aisha aber vielmehr eine große Empfänglichkeit.
       
       Wenn sie nachts im Bett liegt, horcht sie auf die anderen in den
       Hochhäusern, der Blick der Kamera schwebt dazu suchend aus dem Fenster
       hinaus, fährt die grauen Fassaden ab. Man könnte an die berühmte Szene mit
       den Engeln in Wim Wenders’ „Der Himmel über Berlin“ denken, die schützend
       auf Sendung mit den Bewohnern der Mauerstadt gehen. Auf kitschige Ideen
       kommt Eskil Vogt in seiner Geschichte allerdings nicht.
       
       Vielmehr findet „The Innocents“ mit der Idee der telekinetischen und
       -pathischen Begabung seiner Protagonisten einen eigenen Dreh für das Thema
       Außenseiter. Vogt deutet es eher an, doch neben der Autistin Anna sind Ben
       und Aisha als nicht norwegischstämmige Kinder ebenfalls Teil einer
       Minderheit auf dem Block. Sie behaupten sich als minderjährige Superhelden
       der etwas anderen Art. Und Superschurken. Harmlos schrullig geht es
       eindeutig nicht zu.
       
       Schon durch seine schleichenden Kamerabewegungen und die unaufdringlich
       dräuende Musik erzeugt „The Innocents“ stets eine Stimmung von nahendem
       Unheil. Das lässt im Film nicht allzu lange auf sich warten. Was Ben und
       Ida etwa beim Spielen mit einer Katze anstellen, es ist Aishas entlaufene
       Katze, was die beiden jedoch nicht wissen, ist nicht allein für Tierfreunde
       kaum zu ertragen. Bei der Gewalt gegen Tiere wird es nicht bleiben.
       
       Irgendwann bilden sich zwei Fraktionen, die sich gegenseitig bekämpfen.
       Denn Anna kann mit Aishas Hilfe kommunizieren, ihre Kräfte ergänzen sich.
       Ida, die anfangs wenig vorteilhaft gezeichnet war, durchläuft dabei eine
       Wandlung.
       
       ## Anders begabte Kinder
       
       Bei dem grausamen Spiel mit der Katze, das an dieser Stelle nicht näher
       beschreiben werden soll, merkt sie, dass Schluss mit lustig ist. Wird sich
       der eigenen Schuld bewusst und entscheidet sich für eine Seite im Kampf der
       anders begabten Kinder. Sie ist übrigens die Einzige im Quartett, die keine
       erkennbaren Superkräfte hat. Was sie keinesfalls kampflos macht.
       
       „The Innocents“ ist einerseits ein perfider Film, weil er einen in eine
       Kinderwelt entführt, die man in all ihren Dimensionen gar nicht unbedingt
       kennenlernen möchte. Andererseits ist er klar eine Allegorie, erzählt von
       Stimmen, die sich auf „normalem“ Weg kein Gehör verschaffen würden, ohne
       dass Vogt sich in Versöhnlichkeitsduselei verliert.
       
       Ein bisschen erinnert das an den grandiosen [2][schwedischen Fantasy-Film
       „Border“ von Ali Abbasi] über zwei höchst ungewöhnliche Außenseiter. Und
       bei Vogt verkörpern die jungen Darsteller ihre seltsamen Rollen so
       überzeugend, dass man ihnen einfach gebannt zusieht. Selbst wenn man
       manchmal wegschauen möchte.
       
       14 Apr 2022
       
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