# taz.de -- Kinofilm „Border“: Mit ethnologischer Akribie
       
       > Ali Abbasis Spielfilm „Border“ bündelt Komödie, Thriller und Fantasy zu
       > einer klugen wie schrägen Reflexion. Es geht um Identitäten aller Art.
       
 (IMG) Bild: Eine Frau mit stoischer Würde: Tina (Eva Melander), die Heldin von „Border“
       
       Filmkritik hat oft etwas von Spielverderberei. Profitieren manche Filme
       doch sehr davon, wenn das Publikum vorab so wenig wie möglich über sie
       weiß. Und dann kommen diese Leute und nehmen all die schönen Szenen samt
       Pointen vorweg und analytisch auseinander. Nichtwissen ist da ein klares
       Privileg. Ali Abbasis „Border“ ist so ein Fall. Sie können daher das Lesen
       dieses Texts getrost nach diesem Satz beenden – Hauptsache, Sie sehen sich
       den Film an.
       
       Andererseits kann kein allzu großer Schaden beim Weiterlesen entstehen. Die
       entscheidenden Dinge, die man über diesen Film nicht wissen sollte, werden
       hier jedenfalls nicht vorkommen. Was der iranisch-schwedische Regisseur Ali
       Abbasi in „Border“ auf knapp zwei Stunden schrittweise entfaltet, ist eine
       Geschichte über Identität, die mit wunderbar überraschenden filmischen
       Mitteln einen Beitrag zu den hochaktuellen Fragen zur Diskriminierung von
       Minderheiten leistet, ohne die Dinge plump direkt anzugehen.
       
       Abbasi wählt stattdessen einen indirekten Zugang, mit dem er ethnische wie
       sexuelle Zugehörigkeit brillant ineinander verschachtelt. Die Heldin von
       „Border“, Tina, ist eine Außenseiterin. Das sieht man von der ersten Szene
       an. Ihr Gesicht wirkt auf fast entstellte Weise grob, ihr Habitus hat etwas
       Schwerfälliges. Tina hat jedoch noch etwas, das sie von ihren Mitmenschen
       unterscheidet: Die Grenzbeamtin hat ein untrügliches Gespür dafür, welche
       Leute bei der Einreise nach Schweden im Begriff sind, eine Straftat zu
       begehen, Waren schmuggeln und derlei krumme Dinge mehr.
       
       Eva Melander spielt diese seltsame Staatsdienerin mit stoischer Würde. Ihre
       Figur weiß, was sie kann und dass sie dafür geschätzt wird, ist sich
       umgekehrt jedoch über ihre Dauerstellung als Außenseiterin durchaus im
       Klaren. In Begegnungen mit anderen wird das immer wieder Thema sein.
       
       ## Zum Schreien komisch
       
       Ihr Vater etwa, der im Altersheim lebend von Demenz oder Ähnlichem
       gezeichnet ist, scheint bei aller Zugewandtheit zugleich etwas
       Bemitleidendes seiner Tochter gegenüber zu empfinden. Nur Vore (Eero
       Milonoff) scheint Tina einfach so zu akzeptieren, wie sie ist. Der sieht
       seinerseits nicht minder ungewöhnlich aus. Eine Zufallsbekanntschaft, die
       sich bald zu etwas höchst Eigenem auswachsen wird.
       
       Ali Abbasi studiert die Gesichter seiner beiden Außenseiter mit fast schon
       ethnologischer Akribie. Großaufnahmen insbesondere von Tinas Gesicht sind
       eine wiederkehrende Einstellung. Tina in Uniform bei der Arbeit, Tina nach
       der Arbeit beim Spaziergang im Wald, barfuß, wie sie mit den Händen ins
       Moos greift, unterwegs auf einen Fuchs oder einen Elch trifft. Mit diesen
       Arten kommt sie bestens aus.
       
       Überhaupt sind die Naturaufnahmen in ihrer fast haptischen Direktheit eine
       der weiteren Besonderheiten von „Border“. Tinas Tierbegegnungen mögen
       stellenweise an die grandios verstörenden Interaktionen von Wolf und Mensch
       in Nicolette Krebitz' Spielfilm „Wild“ erinnern. Abbasi dreht seine
       Geschichte allerdings noch einmal um ein paar Windungen weiter ins
       Surreale. Und man nimmt ihm diese Geschichte in ihrer sich zunehmend
       steigernden Versponnenheit irgendwie ab, selbst wenn oder gerade weil sie
       mitunter zum Schreien komisch ist. Dazu zählt eine der mutmaßlich besten
       Sexszenen des Jahres.
       
       ## Mutig exzentrische Erzählhaltung
       
       Was den Film, der bei den Filmfestspielen von Cannes im vergangenen Jahr
       den [1][Hauptpreis der Sektion „Un Certain Regard“] erhielt, dabei so gut
       zusammenhält, ist einerseits seine mutig exzentrische Erzählhaltung, die
       sich andererseits stets als symbolisch oder allegorisch zu erkennen gibt,
       ohne dabei ins Didaktische abzurutschen.
       
       Abbasi schafft es vielmehr sogar, an seinen beiden sozial isolierten
       Hauptfiguren den Konflikt zwischen identitärer Selbstbehauptung und
       Integration zu verdichten, ohne sich mit einfachen Antworten
       herauszumogeln. Ein „Wir gegen sie“, zeigt die Dynamik der beiden, ist
       keine Lösung. Eine gelungene Integration kann umgekehrt einen sehr hohen
       Preis haben.
       
       Allzu gern würde man diese Punkte am Material genauer darlegen. Dann würde
       aber exakt das eintreten, was eingangs ausgeschlossen wurde: Spoilern.
       Jeder weitere Satz läuft Gefahr, dem Film, genauer dem potenziellen
       Publikum, etwas wegzunehmen. Das soll nicht sein. So bleibt nichts anderes
       als der wiederholte dringende Appell, sich diesen einzigartigen Film selbst
       anzuschauen. Im Laufe der Begebenheiten wird alles klar werden.
       
       10 Apr 2019
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Archiv-Suche/!5503288&s/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tim Caspar Boehme
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Rezension
 (DIR) Kinofilm
 (DIR) Thriller
 (DIR) Fantasy
 (DIR) Komödie
 (DIR) Ali Abbasi
 (DIR) Spielfilm
 (DIR) Kino
 (DIR) Spielfilm
 (DIR) Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes 
 (DIR) Komiker
 (DIR) Deutscher Film
 (DIR) Kinofilm
 (DIR) Europäischer Filmpreis
 (DIR) Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes 
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Regisseur Ali Abbasi im Interview: „Ich will den Dreck zeigen“
       
       Der Regisseur Ali Abbasi hat mit „Holy Spider“ einen „Persian Noir“
       gedreht. Er spricht über die Proteste und die Tradition des Frauenhasses in
       Iran.
       
 (DIR) „A E I O U“ im Kino: Klauen an der Côte d’Azur
       
       Eine schicksalhafte Begegnung mit Sophie Rois: Im Spielfilm „A E I O U –
       Das schnelle Alphabet der Liebe“ von Nicolette Krebitz ist vieles möglich.
       
 (DIR) Thriller „The Innocents“ im Kino: Kleiner Kinder Spiele
       
       In Eskil Vogts perfide fesselndem „The Innocents“ zeigen sich
       Schutzbefohlene von einer unheimlich mächtigen Seite. Ein Kinderfilm ist es
       nicht.
       
 (DIR) Filmfestspiele in Cannes: Manson, Zombies und Delon
       
       Ein dezidiert politischer Wettbewerb, begleitet von Ärger über die
       Ehrenpalme für Alain Delon. Am Dienstag beginnt in Cannes das Filmfestival.
       
 (DIR) Spielfilm über Laurel und Hardy: Stan und Ollie mochten sich nicht
       
       In seinem Spielfilm erzählt Jon Baird die Geschichte der Schauspieler von
       „Dick und Doof“. Und zeigt: Lustig war das Leben der Komiker nicht.
       
 (DIR) Spielfilm über Wohnungsnot: Ausmisten am Main
       
       David Nawraths Spielfilm „Atlas“ zeigt die Underdogs im Frankfurter
       Gentrifizierungsgeschäft. Der Protagonist schleppt aber nicht nur Möbel.
       
 (DIR) Kinofilm „Destroyer“: Für ihr Kind geht sie über Leichen
       
       Im Thriller „Destroyer“ begeistert Nicole Kidman mit einem brutal
       nüchternen Auftritt. Karyn Kusama ist ein versierter Film Noir gelungen.
       
 (DIR) Europäischer Filmpreis: Wutfreie Zone
       
       In Sevilla wurde der 31. Europäische Filmpreis verliehen. Großer Gewinner
       ist das polnische Liebesdrama „Cold War“.
       
 (DIR) Kolumne Cannes Cannes: Die Zollbeamtin wühlt in der Erde
       
       Die erstaunlichsten Sexszenen liefert „Gräns“ von Ali Abbasi. Außerdem:
       Rock in der Sowjetunion und ein rührendes ägyptisches Roadmovie.