# taz.de -- Rechtsextreme Bewegungen: Ära der Konterrevolution
       
       > Radikalkonservative Freiheitsfeinde wie Putin machen sich daran, die
       > Uhren der Welt zurückzudrehen.
       
 (IMG) Bild: Protest mit Kunstblut: Umweltaktivisten vor dem Obersten Gerichtshof am 30. Juni in New York
       
       Abendnachrichten im Fernsehen gleichen mehr und mehr einem Horrorfilm. Aber
       bei [1][Dracula], Zombie und Co. ist es ein flüchtiger Schauer, weil
       Fiktion. News-Shows dagegen sind heute eine Direktübertragung vom
       Weltuntergang: [2][Krieg in der Ukraine], Liveschaltung zum Massaker des
       Tages.
       
       Danach wird schnell zur Innenpolitik gewechselt: [3][Im Herbst kann das Gas
       ausgehen]. Möglicherweise bleiben die Wohnungen kalt und die Fabriken
       werden abgestellt. Nächste Schaltung: Italien. Da trocknen die Flüsse aus,
       die Behörden können sich gerade noch aussuchen, ob sie die Stromproduktion
       stoppen oder doch besser die Bewässerung der Landwirtschaft.
       
       Womit wir schon bei der nächsten Krise wären: Putins Krieg provoziert eine
       [4][globale Hungerkatastrophe. Trockenheit, Hitzewellen] schon im Juni,
       Wassermangel, und ganze Wochen, während derer es in den Straßenschluchten
       der Städte kaum mehr auszuhalten ist. All das macht etwas mit uns. Ein
       Geist der Dystopie legt sich über alles. Aber das sind nicht einmal die
       korrekten Begriffe.
       
       Tief in die Psyche schleicht sich Panik, Gereiztheit und Hilflosigkeit ein.
       Diese Angst lähmt, gerade in einer Zeit, in der man eigentlich handeln
       müsste. All das ist teils direkt, teil mittelbar verbunden mit einer Ära
       der globalen Konterrevolution, in der rechtsextreme Bewegungen und
       konservative Revolutionäre alle Errungenschaften zurückdrängen wollen, die
       in den letzten 50, 60 Jahren erkämpft worden sind.
       
       ## Eine Gegenrevolution, die vorangetrieben wird
       
       Wir haben uns für diese neue Form der Reaktion alle möglichen Begriffe
       ausgedacht – Regression, populistische Revolte, was auch immer –, aber im
       Grunde ist es eine klassische, waschechte Gegenrevolution, die nicht
       einfach so geschieht, sondern die von Konterrevolutionären vorangetrieben
       wird. Diese Begriffe aus dem Geschichtsbuch wirken ja manchmal etwas
       angestaubt, aber die Flucht in neue Begrifflichkeiten ist oft auch eine ins
       Wolkenkuckucksheim.
       
       Konterrevolution also. Die vergangenen 50, 60 Jahre haben global durchaus
       widersprüchliche Entwicklungen gebracht, mit allen Ambiguitäten: Das
       Wachstum der Ungleichheiten in den reichen Ländern gehört genauso dazu wie
       die Entwicklung von relativ wohlhabenden Mittelschichten in einst armen
       Ländern, der ehemaligen Dritten Welt. Es gibt neue Ungerechtigkeiten und
       ökonomischen Stress, zugleich aber auch den Aufstieg von Milliarden
       Menschen aus bitterer Armut in neue Wohlstandslagen.
       
       Das ist die ambivalente, ökonomische Seite des neoliberalen Kapitalismus.
       Im Westen hatten wir seit den 1960er Jahren die Aufstiegskulturen der
       sozialen Wohlfahrtsstaaten, aber auch massive Freiheitsgewinne.
       Konformitätsdruck löste sich auf, einfach, weil die Lebenskulturen im
       Alltag viel heterogener wurden und weil sich ein Liberalismus des „Leben
       und leben lassen“ durchsetzte. Diversität ist in jeder möglichen Hinsicht
       heute viel akzeptierter als noch vor 20 Jahren.
       
       ## Demokratien setzen sich durch
       
       Frauenemanzipation, zunehmend gleiche Lebenschancen gehören zu diesen
       Fortschritten, [5][liberalere Abtreibungsregelungen], und auch ein Konsens
       darüber, dass bestimmte „Gewohnheiten“, die lange als normal angesehen
       wurden, einfach nicht mehr gehen – diese ganze MeToo-Kiste, salopp gesagt.
       Dazu: gleichgeschlechtliche Ehen und Partnerschaften (vor 15 Jahren nahezu
       undenkbar) und eine selbstverständlichere Akzeptanz von ethnischer
       Heterogenität.
       
       Natürlich gibt es noch unendlich viel [6][Diskriminierung und Rassismus],
       aber man muss nur Wertestudien des Jahres 1990 mit jenen aus jüngster Zeit
       vergleichen, dann sieht man – da liegen überall Welten dazwischen. In Ost-
       und Mitteleuropa setzten sich nach 1989 stabile (manchmal auch labile)
       Demokratien durch. Weite Teile der Welt, nicht zuletzt Lateinamerika,
       erlebten eine regelrechte Woge der Demokratisierung, gesellschaftlicher
       Liberalisierung und Modernisierung.
       
       Linke neigen ja dazu, diese Fortschritte zu übersehen, einige wegen einer
       gewissen stalinoid-autoritären Schlagseite („ist doch nur bürgerliche
       Demokratie“), häufiger aber auch wegen einer kritischen Grundmentalität. Da
       man stets – und mit gutem Recht – den Status quo kritisiert, übersieht man
       gelegentlich, dass es schon genug gibt, was auch wert ist, verteidigt zu
       werden.
       
       ## Mit Gewalt die Uhr zurückdrehen
       
       Es gibt politische Akteure, die fest entschlossen sind, die Uhr
       zurückzudrehen. Wladimir Putin ist mit seinem Hohn über „Gayropa“ und den
       dekadenten Westen, mit seinem Bild von „echten Männern“ und „echten Frauen“
       und seinem Prinzip der gefakten Demokratie zum Paten des rechten
       Extremismus in aller Welt geworden wie hierzulande der „Alternative für
       Putin“. Dazu gibt es ein paar doofe Linke, die ihn zum Widerstandskämpfer
       gegen westlichen Neokolonialismus fantasieren.
       
       Im [7][Obersten Gerichtshof der USA] sitzen seine Brüder im Geiste, die
       dort von mehreren Präsidenten mit teuflischer Vorausschau platziert worden
       sind. Entschiedene Konterrevolutionäre, die gerade das Recht auf Abtreibung
       aushebelten. Die konservative Partei hat sich einem kriminellen Putschisten
       ausgeliefert, der immer noch tun kann, was er will (in einer wehrhaften
       Demokratie wäre er längst im Knast).
       
       Das sind Radikale, die sich nicht mit dem behutsamen, konservativen Bremsen
       des Wandels begnügen. Sie wollen die Uhr der Welt zurückdrehen, auch mit
       Gewalt. Orbán, Salvini und auch Sebastian Kurz, sie alle sind Teil dieser
       globalen konterrevolutionären Bewegung, so wie milliardenschwere
       Technofaschisten wie Elon Musk und Peter Thiel.
       
       Viel zu lange war im Grunde die weit verbreitete Deutung, dass diese
       Regressionen hilflose Reaktionen auf einen säkularen Fortschritt seien, der
       am Ende nicht aufhaltbar sei. So etwas wie Schmerzen des Übergangs,
       Geburtswehen, die aber die Richtung der Entwicklung nicht infrage stellen.
       Ärgerliche, aber zweitrangige Reaktionen auf den mächtigen Strom der
       Geschichte. Das war falsch. Die globale Konterrevolution marschiert. Breite
       Allianzen müssen sich ihr entgegenstellen.
       
       7 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=e05Gz3C8IYk
 (DIR) [2] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
 (DIR) [3] /Bundesregierung-ruft-Alarmstufe-aus/!5859879
 (DIR) [4] /G7-Gipfel-in-Elmau/!5862858
 (DIR) [5] /Abschaffung-von-Paragraf-219a/!5863365
 (DIR) [6] /Schwerpunkt-Rassismus/!t5357160
 (DIR) [7] /US-Gericht-zu-Schwangerschaftsabbruechen/!5863360
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Robert Misik
       
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