# taz.de -- Ausstellung zu Shoah-Überlebenden: Wo die Zeitzeugen sprechen
       
       > In einer Ausstellung des Berliner Centrum Judaicum geben Menschen Zeugnis
       > über ihre Verfolgung im NS-Regime. Sie ist eine Einladung zum Hören.
       
 (IMG) Bild: Die Gesichter Überlebender auf Monitoren in der Ausstellung „Ende der Zeitzeugenschaft“
       
       Zeitzeugen der NS-Verfolgung, bei diesem Wort stehen den allermeisten
       Menschen alte und uralte Frauen und Männer vor ihren Augen, Greise, die bis
       in die letzten Tage ihres Lebens von den Scheußlichkeiten des Nazi-Regimes
       und ihrem eigenen Überleben berichten. Es sind Menschen, die ihrer
       altersbedingten Gebrechen zum Trotz immer wieder vor Schulkassen auftreten,
       in Fernsehinterviews oder in Zeitungsartikeln, bisweilen auch bei
       öffentlichen Veranstaltungen geehrt werden.
       
       Dieser Eindruck ist gewiss nicht falsch, aber der verdeckt so einiges. Vor
       allem dies: Auch diese Menschen waren einmal jung!
       
       „Ende der Zeitzeugenschaft“, so lautet der Titel einer Ausstellung im
       Berliner Centrum Judaicum, die diesen ersten Eindruck zu korrigieren weiß.
       Zu Beginn stehen Stelen mit Videos, darauf Gesichter von Menschen, und wenn
       man den Kopfhörer einstöpselt, erklingen die Stimmen dieser Gesichter –
       ältere und ganz alte Überlebende, die von ihrer Verfolgung berichten. Ihr
       eigener Umgang damit ist auch davon anhängig, wie diese Menschen ihre
       Todesängste und den Mord an ihren Nächsten verarbeitet haben.
       
       Da gibt es diejenigen, die im Gespräch physisch dem Zusammenbruch nahe
       kommen – so wie Charlotte Kahane, ursprünglich aus Lemberg, wenn es um ihre
       im Holocaust getöteten Brüder geht. Auf der anderen Seite stehen die, die
       ihre eigene Erinnerung zur Mission ihres Lebens gemacht haben und fast
       schon professionell wiederholen, was sie Dutzende Male zuvor zu Protokoll
       gegeben haben.
       
       Und schließlich berichten wieder andere voller Stolz vom ihrem Kampf als
       Partisanen im besetzten Osten gegen das Mörderregime, so wie Samuel
       Makower. Die Aussagen machen zugleich deutlich, dass es eben nicht den
       Zeitzeugen der Verfolgung gibt, sondern welch unterschiedliche Strategien
       und Zufälle notwendig waren, um als einer von ganz Wenigen zu überleben.
       
       ## Gespräche als subjektive Zeugnisse
       
       Wer wie der Autor [1][das Glück hat, in den letzten zwei Jahrzehnten einige
       dieser Menschen interviewen zu dürfen,] weiß um diese Unterschiede, weiß
       auch darum, dass die Fragen die Differenzen ausmachen und solche Gespräche
       zwangsläufig zu subjektiven Zeugnissen werden lassen.
       
       Denn manche Fragen werden nicht immer gestellt, auch aus Respekt. Andere
       werden nicht immer beantwortet, auch aus Furcht vor einer Überwältigung.
       Ich habe mir so manches Mal einen Psychologen an meiner Seite gewünscht,
       [2][wenn meine Fragen alte Traumata berührten] und Menschen so aus der
       Fassung brachten, dass sie nicht mehr weitersprechen konnten.
       
       Auch das Leben dieser Zeitzeugen ist endlich – was geschieht, wenn sie
       nicht mehr da sind? Die Ausstellung streift die Versuche, computergestützte
       Videos zu erstellen, in denen bereits Verstorbene Auskunft auf konkrete
       Fragen des Zuschauers geben. Das sind wertvolle Ansätze gerade für die
       Jüngeren, denen die Verfolgten niemals mehr begegnen werden.
       
       Vor allem stellt die Schau unsere Vorstellungen vom Kopf auf die Füße. Denn
       Zeitzeugen waren es auch, die noch während ihrer Verfolgung damit begannen,
       Berichte und Dokumente zu sammeln, um diese zu bewahren. Nur dank der
       Bemühungen dieser damals ganz jungen Menschen lässt sich heute ein besseres
       Bild des NS-Regimes, aber auch der Strategien des Überlebens zeichnen. Sie
       legten den Grundstein für das, was heute Holocaustforschung genannt wird.
       
       ## Erinnerungen waren nicht gefragt
       
       Die vom Jüdischen Museum Hohenems und der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg
       konzipierte und von der Berliner Kuratorin Alina Gromova erweiterte Schau
       folgt der Spur der Zeitzeugen, macht Station in den bleiernen 1950er
       Jahren, als kaum jemand etwas von ihnen wissen wollte und Erinnerungen
       nicht gefragt waren. Als nächste Station folgen die großen NS-Prozesse der
       1960er Jahre, als die damals noch gar nicht so alten Überlebenden Zeugnis
       über das Mordsystem in Konzentrations- und Vernichtungslagern gaben und so
       manchen Täter identifizieren konnten.
       
       Die Schau führt weiter in die 1970er Jahre, als der Spielfilm „Holocaust“
       in der bundesdeutschen Öffentlichkeit eine breite Debatte bewirkte, und
       führt bis in die jetzige Zeit, in der die letzten lebenden Zeitzeugen
       einerseits hochgeehrt werden, andererseits aber angesichts der Vielzahl an
       Opfergruppen so etwas wie eine Konkurrenz des Opferstatus entstanden ist.
       
       All diese Stationen werden von Hörstationen begleitet, wo nicht nur die
       Überlebenden selbst zu Wort kommen, sondern auch über frühe Versuche
       berichtet wird, das Geschehene zu verarbeiten – etwa in dem vergessenen
       Film „Lang ist der Weg“ aus dem Jahr 1948, der unter Displaced Persons in
       den Westzonen spielt, oder in dem Film „Mord in Frankfurt“ über den
       Auschwitz-Prozess (1968) in dieser Stadt.
       
       Und so ist diese Ausstellung weniger eine Schau zum Sehen als eine große
       Einladung zum Hören. Wer von all den Gesprächen und Zeugnissen erfahren
       will, kann dort Stunden und ganze Tage verbringen. Und zuhören, was die
       Menschen zu sagen haben, denen lange Zeit niemand zuhören wollte.
       
       12 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) Klaus Hillenbrand
       
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