# taz.de -- Energieversorgung in Deutschland: Gaskrise und Geldgeschenke
       
       > Geschlossene Pipelines, steigende Preise – wie geht es nun weiter? Fragen
       > über Brennstoffrationierung in der Zukunft und Hilfe vom Staat.
       
 (IMG) Bild: Erdgasspeicher Bierwang im Landkreis Muehldorf am Inn
       
       ## 1 Wie ist aktuell die Lage bei der Erdgasversorgung?
       
       Aus Russland kommt derzeit nichts mehr, wie die Bundesnetzagentur in ihrem
       aktuellen Bericht feststellt. „Null“ lauten die Mengenangaben für die
       Pipeline-Grenzübergänge bei Greifswald (Mecklenburg-Vorpommern), Mallnow
       (Brandenburg) und Waidhaus (Bayern). Die Röhre Nord Stream 1 liegt still,
       weil sie turnusgemäß gewartet wird.
       
       Zuletzt kamen noch etwa 30 Prozent des hierzulande verbrauchten Gases aus
       Russland, nun haben Norwegen, Belgien und die Niederlande komplett
       übernommen. Die unterirdischen Speicher sind laut Netzagentur zu gut 64
       Prozent gefüllt, Tendenz leicht sinkend. Der russische Staatskonzern
       Gazprom erklärte, man wisse nicht, ob Nord Stream nach der Reparatur ab 21.
       Juli wieder Gas transportieren werde.
       
       ## 2 Was passiert, wenn Russland mittelfristig nichts mehr liefert?
       
       Die Privathaushalte reduzieren ihren Gasverbrauch bereits. Das liegt
       einerseits an den hohen Temperaturen, andererseits wohl daran, dass weniger
       Warmwasser benutzt wird. Sollte sich die Gaskrise verschärfen, werden die
       Bürger:innen wohl reagieren, indem sie selbstständig noch mehr sparen.
       
       Bisher benötigen die Haushalte ein knappes Drittel des Gases, Industrie und
       Gewerbe etwa die Hälfte, der Rest verteilt sich auf Dienstleistungen und
       die Stromproduktion. Um den Verbrauch durch Unternehmen zu verringern, hat
       die Bundesregierung schon mehrere Gesetze verändert: Beispielsweise sollen
       wieder mehr Kohlekraftwerke Strom herstellen, weniger Gaskraftwerke. Firmen
       erhalten einen finanziellen Anreiz, Gas einzusparen.
       
       Die Frage für die Zukunft lautet aber: Welche Nutzergruppe soll der Staat
       als erste zu weiterem Verzicht verpflichten, wenn freiwillige Reduzierungen
       nicht mehr reichen? Wirtschaftsminister [1][Robert Habeck (Grüne) legte
       nahe], dass nicht nur die Unternehmen, sondern auch die Privathaushalte
       Einschränkungen hinnehmen müssten, obwohl diese einen gesetzlichen Vorrang
       bei der Versorgung genießen.
       
       Für Firmen wäre denkbar, dass sie zum Beispiel hiesige Fabriken abschalten,
       wenn sie über Werke in Spanien verfügen, die besser mit Flüssiggas
       beliefert werden können. Hinsichtlich der Privathaushalte könnte die
       Regierung die Immobilienbesitzer verpflichten, die Temperatur in den
       Heizungsanlagen um mehrere Grad zu reduzieren. Der Verband der
       Wohnungswirtschaft (GdW) hat als mögliche Untergrenze, die die Politik
       festlegen solle, bereits 16 bis 18 Grad genannt. Heute sind tagsüber 20 bis
       22 Grad Raumtemperatur üblich.
       
       Die EU-Kommission hält es außerdem für denkbar, dass öffentliche Gebäude im
       Winter nur noch mit 19 Grad beheizt werden. Einrichtungen wie Krankenhäuser
       kämen beim Sparen wohl als letzte dran.
       
       ## 3 Was kosten andere Lösungen?
       
       An der Börse sind die Preise für Erdgas im Vergleich zum Jahresbeginn 2022
       zwischen 100 und 200 Prozent gestiegen, je nach Laufzeit der Verträge. Der
       Preis steigt unter anderem deshalb, weil Europa riesige Mengen auf dem
       Weltmarkt nachfragt, die man nicht mehr in Russland kaufen will.
       
       Die Rechnungen vieler Privathaushalte haben sich schon verdoppelt,
       beispielsweise von 65 auf 130 Euro pro Monat. Darin sind die Auswirkungen
       des russischen Angriffs auf die Ukraine aber noch nicht enthalten. Die
       Tendenz dürfte weiter nach oben gehen. Netzagentur-Chef Klaus Müller rät
       den Privatleuten, sich auf eine Verdreifachung im kommenden Jahr
       einzustellen. Das wären dann beispielsweise 200 Euro pro Wohnung und Monat.
       
       ## 4 Wie kann der Staat die Bürger:innen unterstützen?
       
       Millionen Haushalte bekommen ernsthafte finanzielle Probleme. Wer etwa für
       zwei Personen nur 1.500 Euro netto pro Monat zur Verfügung hat, kann eine
       doppelte oder dreifache Gasrechnung schwer wegstecken, zumal auch Strom,
       Benzin und Lebensmittel teilweise deutlich teurer werden.
       
       Deswegen hat die Bundesregierung bereits zwei Entlastungspakete
       beschlossen, die staatliche Zuschüsse von teils mehreren Hundert Euro pro
       Kopf beinhalten. Weil das nicht die kompletten Zusatzkosten abdeckt, stellt
       die Regierung weitere Entlastungen in Aussicht. Die Details sind noch
       unklar, Politik und Öffentlichkeit diskutieren.
       
       Unter anderem die Verbraucherzentralen, die Linke und [2][die evangelische
       Diakonie fordern] Zuschüsse, besonders für Leute mit niedrigen Einkommen,
       etwa Bezieher:innen staatlicher Unterstützung – beispielsweise 100 Euro
       monatlich. Ohnehin hatten SPD, Grüne und FDP bereits in ihrem
       Koalitionsvertrag ein sogenanntes Klimageld zum Ausgleich von höheren
       Energiekosten vereinbart. Dies sollten alle erhalten, die weniger als 4.000
       Euro brutto pro Kopf und Monat verdienten, schlug Arbeitsminister Hubertus
       Heil (SPD) kürzlich vor.
       
       Eine weitere Variante bestünde darin, eine Obergrenze für den Gaspreis
       festzulegen – einen Deckel. Das regte Sebastian Dullien an, Chef des
       Instituts für Makroökonomie der Hans-Böckler-Stiftung. Der Staat müsste den
       Unternehmen dann die Differenz zwischen dem niedrigen Deckel und dem hohem
       Einkaufspreis zuschießen. Alle Privathaushalte würden auf diese Art
       unterstützt, auch die wohlhabenden, die eigentlich keine Subventionen
       brauchen. Die Unionsparteien und FDP-Finanzminister Christian Lindner
       befürworten eine Senkung der Einkommensteuer, von der alle
       Steuerpflichtigen profitierten.
       
       Bei allen diesen Überlegungen besteht das grundsätzliche Problem, dass der
       Staat gegenwärtig über keine zentrale Datenbank verfügt, in der alle
       Privathaushalte, ihre Einkommenssituation und die Kontonummern gespeichert
       wären. Gezielte Zuschüsse an alle Niedrigverdiener bis zu einer bestimmten
       Einkommenshöhe auszuzahlen, ist deshalb unmöglich.
       
       So behilft sich die Regierung momentan mit Zahlungen an bestimmte Gruppen,
       für die die nötigen Informationen vorliegen, etwa die Hartz-IV-Empfänger
       oder steuerpflichtigen Erwerbstätigen. Bis Jahresende 2022 will die
       Koalition zwar versuchen, einen allgemeinen „Auszahlungsweg über die
       Steuer-Identifikationsnummer zu entwickeln“. Ob das klappt, ist jedoch
       unklar.
       
       ## 5 Woher nimmt der Staat das Geld?
       
       Im aktuellen Bundeshaushalt für 2022 existiert wohl kein Spielraum mehr in
       der Größenordnung von zehn Milliarden Euro, die ein weiteres, spürbares
       Entlastungspaket vielleicht kostete. Infrage käme aber grundsätzlich ein
       neuer Nachtragshaushalt mit höherer Verschuldung.
       
       Finanzminister Lindner will das eigentlich nicht. Für 2023 beabsichtigt er,
       die Schuldenbremse wieder in Kraft zu setzen. Das schränkt die Möglichkeit
       eines sozialen Ausgleichs der Energiepreisinflation erheblich ein, zumal
       die FDP auch jegliche Steuererhöhung ausschließt. Wenn es in der Gaskrise
       ganz dicke kommt, würde die Schuldenbremse aber wohl außer Kraft gesetzt.
       
       16 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Sorge-vor-Engpaessen-im-Winter/!5859342
 (DIR) [2] https://www.weser-kurier.de/wirtschaft/diakonie-fordert-neuen-zuschuss-fuer-haushalte-mit-grundsicherung-doc7luia51mztk1dvnntifc
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hannes Koch
       
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