# taz.de -- Angeline Boulley über Bestseller-Jugendroman: „Es kommt auf die Nuancen an“
       
       > Autorin Angeline Boulley spricht über ihren preisgekröntes Buch
       > „Firekeeper’s Daughter“. Sowie Kultur und Gegenwart der First Nations in
       > den USA.
       
 (IMG) Bild: Die US-amerikanische Autorin Angeline Boulley bei einer Lesung im September 2022 in Berlin
       
       taz: Frau Boulley, Ihr Romandebüt wurde vielfach ausgezeichnet, eine
       Netflixserie ist geplant und das Time Magazin hat es in die Liste der 100
       besten Jugendbücher aller Zeiten aufgenommen. „Firekeeper’s Daughter“ steht
       dort neben Büchern wie dem „Tagebuch der [1][Anne Frank]“ oder [2][„Little
       Women“ von Louise May Alcott]. Wie fühlt sich das an? 
       
       Angeline Boulley: Ich habe es noch nicht ganz realisiert, fühle mich aber
       sehr geehrt.
       
       In Ihrem Buch hilft die 18-jährige Highschoolschülerin Daunis dem FBI bei
       einer verdeckten Ermittlung. Gleichzeitig sucht sie nach ihrem Platz in der
       Gesellschaft, insbesondere innerhalb einer indigenen Community. Wie
       entstand die Idee dafür? 
       
       Die Initialidee hatte ich bereits, als ich selbst noch zur Highschool ging,
       also vor fast vierzig Jahren. Ich war 17 oder 18 Jahre alt, als ich zum
       ersten Mal ein Buch las, indem überhaupt ein indigener Protagonist
       auftauchte. Dessen Darstellung beruhte auf sehr seltsamen Stereotypen,
       sodass ich anfing, mich mehr mit meiner Herkunft auseinanderzusetzen und
       Informationen zur Geschichte von Native Americans zu sammeln.
       
       Ist Ihr Roman also das Buch, das Sie selbst gern als Jugendliche gelesen
       hätten? 
       
       Genau das ist es. Ich wollte eine wahre Geschichte erzählen und den
       Menschen zeigen, wer wir sind und wie das Erwachsenwerden einer jungen
       Ojibwe-Frau aussehen kann.
       
       Ojibwe ist Ihre Native Nation, ihr Stamm ist der der Sault Sainte Marie
       Chippewa, der auf Sugar Island in Michigan lebt. Wie bei Ihrer Hauptfigur
       ist Ihr Vater Native American, Ihre Mutter nicht. Inwiefern hat Sie das
       geprägt? 
       
       Wie Daunis bin ich eher hellhäutig. Ich habe oft zu hören bekommen, ich
       sähe gar nicht aus wie eine Native American, was an einer von Stereotypen
       durchzogenen Vorstellung liegt, wie wir auszusehen haben. Ich selbst bin
       nicht in meiner Native Community aufgewachsen. Mein Vater zog uns mehrere
       Stunden entfernt auf. Wir besuchten häufig unsere Verwandten auf Sugar
       Island. Als ich jünger war, fühlte ich mich als Außenseiterin. In der
       Stadt, wo meine Geschwister und ich aufwuchsen, waren wir die einzigen
       indigenen Menschen. Wir waren gut in der Schule, waren in Sportvereinen und
       auch sonst aktiv in der Gemeinde, – wir kamen gut mit allen klar.
       
       Und wie war es, wenn Sie zu Besuch bei Ihren Verwandten waren? 
       
       Dort sah ich, wie schwer es für Native Americans sein kann. In Sault Saint
       Marie werden Indigene sehr schlecht behandelt. Meine Cousins wurden ständig
       überwacht, sobald sie ein Geschäft betraten. Diskriminierung spielt eine
       große Rolle, weshalb uns mein Vater dort nicht großziehen wollte.
       
       Irgendwann zogen Sie zurück, begannen im Bildungssektor innerhalb Ihrer
       Community zu arbeiten. Später leiteten Sie das Bureau of Indian Education
       im Bildungsministerium in Washington, D. C. Die Idee, ein Buch zu
       schreiben, hat Sie aber nie losgelassen, und so ist ihr Debüt eine Mischung
       aus Coming-of-Age-, Kriminalroman und Liebesgeschichte geworden. 
       
       Ich hatte eigentlich nie ernsthaft vor, Schriftstellerin zu werden. Aber
       die Idee für die Geschichte blieb bei mir. Ich behandelte sie wie ein
       Puzzle und versuchte herauszufinden, wie die Teile zusammenpassen. Als ich
       wusste, wohin es gehen könnte, war ich bereits 44 Jahre alt. Es zu
       versuchen und zu scheitern, wäre in Ordnung gewesen. Es aber nie versucht
       zu haben, war etwas, das ich nicht bereuen wollte.
       
       Hierzulande kochte unlängst eine Debatte über eine historische Buchreihe
       und deren Weitervermarktung [3][rund um einen fiktiven Native American]
       auf. Die Diskussionen zeigten, dass neben Rassismen, die bei der
       Darstellung von Native Americans immer wieder reproduziert werden, auch
       immer die Romantisierung indigener Kulturen eine Rolle spielt. Sie setzen
       dem etwas entgegen, in dem Sie Drogenkonsum, Armut und Gewalt gegen Natives
       ansprechen. 
       
       Ich wollte auch schwierige Seiten beleuchten, habe aber versucht, dabei ein
       Gleichgewicht beizubehalten. Es war stets eine sorgfältige Abwägung.
       
       Inwiefern? 
       
       Es kommt auf die Nuancen an. Und die sind in diesem Fall für eine
       nichtindigene Person schwerer zu finden als für jemanden, der weiß, welches
       indigene Wissen geteilt werden darf, wenn es um gelebte Erfahrungen geht.
       Ich habe ein Mantra: Ich schreibe, um meine Kultur zu bewahren. Ich habe
       frei geschrieben. Während der Überarbeitung habe ich darüber nachgedacht,
       ob ich diese Informationen weitergeben sollte. Und welche Verantwortung ich
       dabei gegenüber meiner Gemeinschaft als Trägerin indigenen Wissens habe.
       
       Wie waren die Reaktionen aus Ihrem Umfeld? 
       
       Ich sprach schon während des Schreibprozesses mit vielen und holte mir
       deren Meinung ein. Ich wollte sichergehen, niemanden vor den Kopf zu
       stoßen. Das Erfreuliche ist, dass das Buch innerhalb meiner Community
       durchweg positiv aufgenommen wird.
       
       Besonders die Reaktionen von anderen Native Women seien sehr positiv
       gewesen, sagten Sie in einem anderen Interview. Woran liegt das? 
       
       In meinem Buch spreche ich auch die sexualisierte Gewalt gegenüber
       indigenen Frauen an, in der Hoffnung, dass das Thema mehr Beachtung findet.
       Diesbezüglich habe ich viel Zuspruch erhalten. Es ist eine mehr als
       ungerechte Situation; nicht nur erfahren sehr viele Native Women
       sexualisierte Gewalt, auch erhalten sie kaum Gerechtigkeit durch die
       Justiz. ([4][Anm. d. Red.: Laut einem diesjährigen Bericht von Amnesty
       International erlebt mehr als die Hälfte der Native Women in den USA
       sexualisierte Gewalt in ihrem Leben])
       
       Warum ist dem so? 
       
       Die Zuständigkeiten zwischen US-Behörden und den Tribal Councils ist nicht
       einwandfrei geklärt. Zudem fehlen Ressourcen, um sexualisierte Übergriffe
       zu verfolgen. Das nutzen besonders nichtindigene Männer aus, um Native
       Women Gewalt anzutun.
       
       Ihrer Romanfigur Daunis liegt, obwohl sie nicht von allen akzeptiert wird,
       viel daran, ihre Community zu beschützen. Besonders zu den älteren Menschen
       pflegt sie enge Verbindungen. Warum war Ihnen wichtig, das herauszustellen? 
       
       Unsere Alten zu ehren und sich um sie zu kümmern, ist sehr wichtig in
       unserer Community. Ich wollte sie weder vergreist noch als romantisierte
       weise Älteste darstellen. Sie sollten Schwächen haben, grimmig sein dürfen.
       Aber auch liebevoll, immer noch neugierig und ein lebendiger Teil unserer
       Gemeinschaft. Gleichzeitig habe ich versucht, die Auswirkungen der
       historischen Traumata einzuflechten, die von Generation zu Generation
       weitergegeben werden.
       
       Diese Auswirkungen sind bis heute spürbar und manifestieren sich unter
       anderem in den Diskussionen über die Rückgabe von Artefakten, die indigenen
       Völkern einst geraubt wurden. Dieses Thema greifen Sie in Ihrem nächsten
       Roman auf, der kommendes Jahr in den USA erscheinen soll. Können Sie schon
       mehr verraten? 
       
       Während die Handlung von „Firekeeper’s Daughter“ in den Jahren 2004 und
       2005 stattfindet, spielt „Warrior Girl Unearthed“ zehn Jahre später. Statt
       Daunis Fontaine folgen wir einer ihrer im ersten Buch noch kleinen
       Cousinen. Es geht darum, wie Museen die Gebeine unserer Vorfahren und
       andere Artefakte aufbewahren. Wir haben schreckliche Geschichten über
       Knochen gehört, die mit Permanentmarkern beschriftet und in braunen
       Müllsäcken aufbewahrt werden. Würde irgendjemand wollen, dass seine
       Vorfahren auf diese Weise behandelt werden? Meine Figur beschließt deshalb,
       die Situation selbst zu korrigieren.
       
       Eine letzte Frage. In „Firekeeper’s Daughter“ schreiben Sie: „Wenn wir für
       unseren Tribe Entscheidungen fällen, denken wir sieben Generationen voraus
       und wägen die Auswirkungen auf unsere Nachfahren ab.“ Können Sie das
       präzisieren? 
       
       Wenn man bei uns Entscheidungen trifft, dann nicht nur im eigenen
       Interesse. Es geht darum, möglichst an die Enkelkinder und deren
       Enkelkinder zu denken und daran, [5][welche Welt man ihnen durch die
       Entscheidungen, die man heute trifft, hinterlässt.] Das ist ein
       Grundgedanke in unserer Native Community, der meiner Meinung nach aber auch
       außerhalb von ihr Anwendung finden sollte.
       
       10 Oct 2022
       
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