# taz.de -- Antisemitismus in Norddeutschland: Die Aufhebung von Mein und Dein
       
       > Sparen um jeden Preis: Sven Hamann hat eine Studie zu Raub und
       > Entschädigung jüdischen Eigentums im Norden verfasst. Sie schließt eine
       > Lücke.
       
 (IMG) Bild: Dieses Foto wurde 1930 in der Mühlenstraße in Kappeln aufgenommen (Fotograf unbekannt)
       
       Der Unterschied zwischen ‚Mein‘ und ‚Dein‘ ist im Dritten Reich aufgehoben,
       wenn es sich um jüdischen Besitz handelt. Und wo die staatlichen Mittel
       nicht genügen, wo das Recht des Juden nicht mit legalen Mitteln, sei es
       auch nur mit Scheinanwendung legaler Mittel gebrochen werden kann, scheuen
       die National-Sozialisten sogar vor Raub nicht zurück.“
       
       So formulierten es die Autoren einer Broschüre, die 1937 von der
       ökonomischen Abteilung des Jüdischen Weltkongresses in Paris, Genf und New
       York herausgegeben worden war. Ihr schlichter Titel: „Der wirtschaftliche
       Vernichtungskampf gegen die Juden im Dritten Reich“.
       
       Diese Veröffentlichung erschien vier Jahre nach der sogenannten
       Machtergreifung der Nationalsozialisten und vier Jahre vor Beginn der
       Deportationen deutscher Juden. Der Begriff „Vernichtungskampf“ war ganz
       bewusst gewählt, wussten die Autoren doch, dass hinter dem
       nationalsozialistischen Euphemismus „Arisierung“ die systematische
       „Entjudung der deutschen Wirtschaft“ stand.
       
       ## Regionale Studien gibt es erst seit den 90er-Jahren
       
       Auch wenn schon Mitte der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts die
       Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft, 20 Jahre später der
       wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im „Dritten Reich“ untersucht
       wurde, folgten dezidierte regionale Studien erst Ende der 1990er Jahre,
       angeschoben durch Frank Bajohrs Veröffentlichung zur Arisierung in
       Hamburg.
       
       Während Bajohr den größten Besitzwechsel in der deutschen Geschichte noch
       hanseatisch-fürnehm „Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933–1945“
       untertitelte, berichtete eine zeitgleich erschienene Untersuchung zu
       Göttingen im Klartext über „Lohnende Geschäfte“.
       
       In seiner nun vorliegenden, mehr als 600 Seiten umfassenden Studie zu
       Schleswig-Holstein spricht der Lehrer und Historiker Sven Hamann direkt und
       vielfach begründet von Raub. Jenseits ähnlicher Untersuchungen zu
       städtischen Räumen wie Leipzig, Marburg und München widmet sich Hamann
       einer vor allem ländlich geprägten Region.
       
       Die besondere Qualität seiner als Dissertation angenommenen
       Veröffentlichung liegt nicht nur in der detaillierten Darstellung der
       „Arisierung“, sondern auch in der Einbeziehung der mühsamen, die
       Antragsteller durchweg beschämenden Rückerstattung und Entschädigung ihres
       Eigentums. Dass der Autor diese Themen nicht voneinander separiert, sondern
       auf breiter Quellenbasis miteinander verknüpft, erhöht den Erkenntnisgewinn
       und die besondere Qualität des Buches.
       
       ## Erzwungene Verkäufe
       
       Schon der Titel verweist am Beispiel der Familie Lehmann, die in Ahrensburg
       bei Hamburg ein bedeutendes Getreide-Futtermittel-Handelsgeschäft geführt
       hatte, auf den Zusammenhang von Raub jüdischen Eigentums und
       Entschädigungsbemühungen der Betroffenen. Hamann schildert detailliert, wie
       sich die Lehmanns durch zunehmenden ökonomischen Druck, der Verhaftung und
       KZ-Haft der männlichen Familienmitglieder nach dem Novemberpogrom 1938 zur
       Emigration nach Südamerika entschlossen hatten.
       
       Zu diesem Zweck waren sie gezwungen, ihre Villa zu verkaufen,
       selbstverständlich unter Wert. Zur Rechtfertigung des niedrigen Kaufpreises
       schrieb der Anwalt des späteren Besitzers: „Jeder Käufer sucht möglichst
       günstig zu kaufen.“
       
       Dass von einer Freiwilligkeit des Verkaufs nicht die Rede sein konnte, der
       Käufer sogar zum Wohltäter stilisiert wurde, der durch den Kauf der Villa
       erst die Emigration der Familie ermöglichte, gehört zur perfiden
       Argumentationsweise nicht nur in diesem Fall. [1][Von der unverhohlen
       formulierten Schnäppchenmentalität] während der „Arisierung“ jüdischen
       Eigentums ganz zu schweigen.
       
       Dass sich neben den privaten Nutznießern auch schleswig-holsteinische
       Behörden nicht minder niederträchtig verhielten, führt Hamann ebenfalls am
       Beispiel der Familie Lehmann vor Augen. Als diese Anfang der 1950er Jahre
       vor dem Landgericht Kiel die Rückerstattung der gezahlten
       „Reichsfluchtsteuer“ und der „Judenvermögensabgabe“ beantragten, lehnte der
       Vertreter der Finanzverwaltung dieses Ansinnen rundweg ab, weil er die
       Zwangsabgaben „nicht als eine speziell gegen Juden gerichtete Maßnahme“
       anzusehen bereit war.
       
       ## Behörden stellten sich quer
       
       Eine typische Haltung der Behörden im nördlichsten Bundesland, die
       gegenüber den aufwändigen wie langwierigen Bemühungen der Opfer um
       Entschädigung eine restriktive, zuweilen kaum kaschierte antisemitische
       Haltung einnahmen und, wie der Autor zuspitzend formuliert, [2][eine vom
       „Sparen um jeden Preis“ bestimmte] Handlungsweise wählten. Klares Ziel war
       eine für die einzelnen Städte und das gesamte Land kostengünstige
       Abwicklung von Wiedergutmachungsansprüchen.
       
       Hamann, der die mehrjährigen Recherchen neben seiner Tätigkeit als Lehrer
       an einem Gymnasium in Ahrensburg leistete, ist beileibe kein auf seinen
       Wohnort konzentrierter Heimatforscher. Hamanns Arbeit gilt dem ganzen
       Bundesland, das nicht nur meerumschlungen ist, sondern über Jahrzehnte auch
       eher geschichtsvergessen war.
       
       Selbst ein 2005 erschienenes Hand-, Lehr- und Lesebuch zu
       „Schleswig-Holstein und der Nationalsozialismus“ führt die „Arisierung“ nur
       stichwortartig auf. Andere Beiträge zum Leben der jüdischen Minderheit
       abseits der Metropolen beschränkten sich auf knappe Überblicksdarstellungen
       zur wirtschaftlichen Ausgrenzung oder auf die exemplarische Darstellung von
       Schicksalen jüdischer Kaufleute. Hamanns Darstellung hingegen ist
       flächendeckend.
       
       Obwohl der Autor damit konfrontiert war, dass schon im Dezember 1944 die
       örtlichen Finanzämter aufgefordert waren, alle Akten zur „Verwertung von
       Judenvermögen“ zu vernichten, ein Vorgang, der sich nach Kriegsende sogar
       bis in die Mitte der 1960er Jahre erstreckte, boten ihm Aktenbestände
       schleswig-holsteinischer Finanzbehörden und Gerichte eine breite
       Materialgrundlage, die durch Recherchen in Stadt- und Zeitungsarchiven
       ergänzt wurde.
       
       ## Studie schließt Forschungslücke
       
       Da in Schleswig-Holstein der Anteil aus Osteuropa eingewanderter Juden
       größer war als in anderen Regionen, war der in Berlin lagernde Aktenbestand
       der „Haupttreuhandstelle Ost“ für Hamanns Darstellung von Bedeutung. Deren
       „Sonderabteilung Altreich“ hatte die Aufgabe, das im „Altreich“ befindliche
       „Polenvermögen“ zu erfassen, zu verwalten und zu verwerten.
       
       Im Amtsdeutsch der Dienststelle wurde von „Ostentjudung“ gesprochen, womit
       auch die entschädigungslose Enteignung der in Schleswig-Holstein lebenden
       Juden polnischer Staatsangehörigkeit gemeint war.
       
       An der Handlungsweise dieser Behörde verdeutlicht Hamann in seiner
       materialgesättigten Studie die Konflikte zwischen lokalen Finanzbehörden
       und der Reichsebene, die für Hamann größter Profiteur des Raubs jüdischen
       Eigentums gewesen ist. Im Gegensatz zu anderen Veröffentlichungen, die den
       „Nachbarn von nebenan“ als ersten Nutznießer der „Arisierungen“
       herausstellen, listet Hamann in seiner feingliedrigen Analyse viele
       unterschiedliche Akteure und Helfer der ökonomischen Beraubung der Juden in
       Schleswig-Holstein auf.
       
       Hamanns Studie, die berührende wie erschütternde biografische Fallbeispiele
       von wirtschaftlicher wie sozialer Ausgrenzung Betroffener präsentiert,
       schließt eine Forschungslücke und wurde zu Recht von der „Bürgerstiftung
       Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten“ mit dem Wissenschaftspreis 2021
       ausgezeichnet. Eine wichtige Arbeit, die trotz des hohen Preises jede
       Aufmerksamkeit und viele Leser verdient.
       
       8 Nov 2022
       
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