# taz.de -- Rechte Ausschreitungen in Ostdeutschland: Der Sturm auf die Malzfabrik
       
       > Die „Nein zum Heim“- Bewegung gegen Geflüchtete hat im Osten spezifische
       > Ursachen: die Siege der Rechten in den 1990er Jahren.
       
 (IMG) Bild: Protest in Wismar gegen die geplante Flüchtlingsunterkunft in Upahl
       
       So alarmierend die Schlagzeilen auch klangen, als vor einer Woche ein
       wütender Mob versuchte, den [1][nordwestmecklenburgischen Kreistag in
       Grevesmühlen zu stürmen], um eine neue Flüchtlingsunterkunft im Nachbardorf
       Upahl zu verhindern, die mediale Nachlese des Vorgangs ließ zu wünschen
       übrig. Klar, die Grevensmühlener Malzfabrik, Nebensitz des Kreistags, ist
       demokratiesymbolisch weniger aufgeladen als das [2][Capitol in Washington]
       oder der Berliner Reichstag. Auch konnte ja das Schlimmste verhindert
       werden. Aber Grevesmühlen … da war doch mal was?
       
       Ja, das [3][Nazidorf Jamel] zum Beispiel, dessen völkische Siedler
       antifaschistischen Nachbarn schon mal die Scheune anzündeten – wenigstens
       mutmaßlich. Die Ermittler konnten damals, 2015, „keine Hinweise auf einen
       politischen Hintergrund“ erkennen und legten den Fall bald ungelöst zu den
       Akten. Oder das nur einen Spaziergang vom Kreistagssaal entfernte
       „Thinghaus“, lange Zeit ein bundesweit bekannter Nazitreff. Betrieben wurde
       es von Sven Krüger, dem halb Jamel gehört, finanziert wohl maßgeblich von
       der NPD. Nachdem diese zuletzt den Einzug in den Landtag verpasste und
       deshalb weniger üppig wirtschaften kann, steht es zum Verkauf.
       
       ## Brandanschlag auf Flüchtlingsunterkunft
       
       Und noch was war da: Drei junge Grevesmühlener Rechtsextreme nämlich, die
       ganz zufällig vor Ort waren, als 1996 zehn Menschen beim Brandanschlag auf
       eine Lübecker Flüchtlingsunterkunft starben. Trotz frischer Brandspuren in
       ihren Gesichtern wurden sie, dank eines Alibis für die allerdings nie genau
       bestimmte Tatzeit, schnell wieder auf freien Fuß gesetzt. Einen vierten
       Beteiligten am Ausflug nach Lübeck deckte das ohnehin wackelige Alibi zwar
       nicht, aber der wurde nicht mal erkennungsdienstlich erfasst. Gerüchten
       zufolge soll es sich bei ihm um einen V-Mann des Verfassungsschutzes
       gehandelt haben. Also machte man lieber einem der Bewohner der Unterkunft
       den Prozess („Dönermord“, ick hör dir trapsen), um nach dessen Freispruch
       die Ermittlungen ganz einzustellen. Dass einer der Grevesmühlener die Tat
       inzwischen mehrfach gestanden hatte – egal.
       
       Die Antifaschistin Lina E. und ihre drei Mitangeklagten hingegen, denen
       tätliche Angriffe auf Rechtsextreme in Sachsen und Thüringen zur Last
       gelegt werden, können sich über mangelnden Ermittlungseifer nicht
       beschweren. Die befinden sich seit über zwei Jahren in Untersuchungshaft.
       Es macht wohl einen Unterschied, ob man Flüchtlinge ermordet oder deutsche
       Nazis prügelt.
       
       Was aus den vier möglichen Brandstiftern aus Grevesmühlen wurde, man weiß
       es nicht. Vielleicht verdingten sie sich als Türsteher im „Thinghaus“,
       züchten in Jamel reinrassige deutsche Rinder oder haben sich zu
       ordentlichen Grevensmühlener Bürgern entwickelt. Letzteres ist gar nicht
       unwahrscheinlich, denn davon gibt es viele. Als Modellstadt des
       Förderprojekts „Smart Cities made in Germany“ und gesegnet mit der
       niedrigsten Arbeitslosenquote Mecklenburg-Vorpommerns, passt Grevesmühlen
       so gar nicht ins Klischee abgehängter ostdeutscher Provinzgemeinden.
       Digitalisierung und Energiewende werden hier großgeschrieben. Die AfD sitzt
       zwar im Kreistag, nicht aber in der Stadtvertretung. Mag sein, Grevesmühlen
       ist keine touristische Top-Destination, doch ein Schandfleck ist es auch
       nicht.
       
       Wer verstehen will, warum der Plan für die Unterbringung von 400
       Flüchtlingen in einer Stadt wie dieser zu derart gewalttätigen Tumulten
       führte, muss drei Jahrzehnte zurückblicken und sich an das Pogrom von
       Rostock-Lichtenhagen vom 22. bis 26. August 1992 erinnern. Damals hatten
       junge Rechtsextreme, angefeuert von einer stetig wachsenden Menge
       sogenannter Normalbürger und umringt von untätigen Polizisten, die Zentrale
       Aufnahmestelle für Asylbewerber sowie ein Wohnheim für ehemalige
       vietnamesische Vertragsarbeiter angegriffen und in Brand gesteckt – mit
       Erfolg. Asylbewerber und Vietnamesen wurden evakuiert, der Bundestag
       beschränkte wenig später das Asylrecht und die Angreifer kamen weitgehend
       straflos davon.
       
       ## Prägungen, die bleiben
       
       Ein echtes Fanal, nicht nur für die militante rechte Szene in
       Ostdeutschland, auch für jene, die zwar keine Hakenkreuze an Wände sprühen,
       aber tief verwurzelte rassistische Ressentiments in sich tragen und deren
       völkisches Empfinden in der Nachwendezeit unter der tiefen Kränkung zu
       leiden hatte, dass sie mit dem Anschluss an die BRD auch deren gesamte
       Lebenswirklichkeit erreichte – Migranten inklusive. Ihr in Rostock
       lautstark geäußertes „Deutsche zuerst!“ war erhört worden, der Staat war
       eingeknickt, und jeder, der den Gewalttätern klammheimlich die Daumen
       gedrückt hatte, durfte sich bestätigt fühlen. Die Regierenden blieben der
       Feind, wie sie es schon in der DDR gewesen waren, und sie, „das Volk“,
       hatten erneut den Sieg davongetragen.
       
       Das sind Prägungen, die bleiben. Die AfD füttert sie, wenn sie „Die Wende
       vollenden!“ plakatiert, und für die nach Rostock mit Staatsgeldern
       gepäppelte rechte Szene bleibt das ungebrochene völkische Empfinden stets
       eine offene Tür, um neue Fanale zu inszenieren. Die „Nein zum
       Heim“-Bewegung wird derzeit überall wieder lauter. Aber statt sich mit
       ihrem Nährboden zu befassen, suchen Politiker und
       Intellektuellendarsteller, wie die Autorin Juli Zeh, die Gründe dafür in
       der Flüchtlingspolitik Angela Merkels: Mithin sind nicht Nazis das Problem,
       sondern die Flüchtlinge. Da können noch so viele Bücher zum Thema
       erscheinen, der nachhaltige Zivilisationsbruch der „Baseballschlägerjahre“
       ist noch immer nicht in den Köpfen angekommen. Die Neunziger werden nicht
       nur von Leuten wie Zeh als „ruhige“ und „absolut optimistische Zeit“
       wahrgenommen.
       
       Mag die Form des Protests in Grevesmühlen auch einer klar ostdeutschen
       Spezifik unterliegen, für das Gedankengut dahinter gilt das nicht. Im
       hessischen Main-Taunus-Kreis etwa, wo man sich des fünftgrößten
       Kauftkraftindex aller deutschen Land- und Stadtkreise rühmt, muss sich
       niemand von seiner Couchlandschaft erheben, um den Kreistag zu stürmen. Da
       schreibt der Landrat selbst, assistiert von allen 12 Bürgermeistern, einen
       Brandbrief an den Bundeskanzler, weil inzwischen ganze 8.599 der rund
       240.000 Einwohner des Kreises Flüchtlinge sind: „Die Grenze ist erreicht.“
       
       3 Feb 2023
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Markus Liske
       
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