# taz.de -- Stimmung in der Ampel-Koalition: Sie sind sich nicht mehr grün
       
       > Rot und Grün galten als engste Partner. Jetzt fühlen die Grünen sich im
       > Stich gelassen, und die SPD beklagt grünen Moralismus. Was ist passiert?
       
 (IMG) Bild: Da war noch alles gut, oder? Baerbock und Esken bei der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags
       
       BERLIN taz | Als der Berliner CDU-Politiker Kai Wegner am Donnerstag mit
       Ach und Krach im dritten Wahlgang zum Regierenden Bürgermeister der
       Hauptstadt gewählt wird und seine Wahl annimmt, greift sich die Grüne
       Spitzenkandidatin Bettina Jarasch kurz an die Stirn und verzieht das
       Gesicht. Eine Geste, in der alles liegt: Schmerz, Entsetzen und
       Verzweiflung. „Wir alle, Bettina“, twittert die grüne Bundestagsabgeordnete
       Canan Bayram kurz darauf. So sieht also das Ende aus.
       
       Im Berliner Senat schwenkte nach der Wiederholungswahl im Februar
       bekanntlich die einstige Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey von
       der SPD um, ließ ihre rot-grün-rote Mehrheit links liegen und führte ihre
       Partei in eine Juniorpartnerschaft mit der CDU. Das Comeback der Großen
       Koalition – ausgerechnet im links-grünen Berlin.
       
       Ein Unfall der Geschichte? Oder der Anfang einer neuen Ära von
       Zweierbündnissen mit der Union? Ein Fingerzeig auf künftige Koalitionen
       auch anderswo? Für Berlin zumindest hat Franziska Giffey ja von einer
       „Richtungsentscheidung“ gesprochen.
       
       Nun ist Berlin nicht der Bund. Doch auch dort, in der Ampelkoalition,
       rumpelt es zwischen den einstigen Traumpartnern Grünen und SPD. Von einer
       „Entfremdung“ ist die Rede.
       
       [1][In der SPD ist man zunehmend genervt von den Grünen], klagt über
       moralischen Rigorismus und Gejammer, wenn mal nicht alle Punkte der grünen
       Wunschliste komplett umgesetzt werden. Andersherum fühlen sich viele Grüne
       von der SPD und Kanzler Olaf Scholz bei Konflikten mit der FDP im Stich
       gelassen.
       
       ## Eine weitere Zeitenwende
       
       Es knirscht vernehmbar im rot-grünen Getriebe. Ex-Grünen-Fraktionschef
       Anton Hofreiter sprach das offen aus: „Die Scholz-SPD ist nicht mehr der
       natürliche Bündnispartner.“
       
       Schon im letzten Jahr waren beide Parteien uneins, wie sehr man die Ukraine
       mit Waffen gegen den russischen Angreifer unterstützt. Während die Grünen
       am liebsten die Arsenale der Bundeswehr nach Kyjiw geschickt hätten,
       mahnten die Sozialdemokraten, namentlich der Kanzler, zur Vorsicht und vor
       der Gefahr eines Weltkrieges.
       
       Aktuell geraten Grüne und SPD in einer weiteren Zeitenwende aneinander: dem
       Kampf gegen den Klimawandel. Dass Deutschland bis 2045 keine Treibhausgase
       mehr in die Atmosphäre blasen sollte, darin sind sich beide einig. Doch
       nicht über den Weg dahin, das Tempo und den Stil. Während Sozialdemokraten
       vom „missionarischen Eifer“ der Grünen sprechen, vermissen diese bei den
       Sozialdemokraten Entschlossenheit und Wumms.
       
       Und es stimmt ja auch: Wenn es konkret wird, dann schlagen sich die
       Sozialdemokraten auf die Seite der FDP, beschleunigen den Ausbau von
       Straßen und weichen das Klimaschutzgesetz zugunsten des
       Verkehrsministeriums auf. [2][Der einstige grüne Umweltminister Jürgen
       Trittin sprach in der taz von einem Konflikt zwischen
       Strukturkonservatismus und Veränderung].
       
       ## Wie tief ist der Spalt?
       
       Die Grünen wären in einem solchen Setting diejenigen, die bereit für den
       notwendigen Wandel sind. Die Sozialdemokraten stünden hingegen als jene da,
       die sich an alte Gepflogenheiten klammerten. Das von den Sozialdemokraten
       oft bemühte Argument, niemand dürfe durch die Transformation finanziell
       überfordert werden, funktioniert aus Grünen-Sicht vor allem als
       Abwehrreflex gegen Veränderungen.
       
       Auch in der SPD sieht man die Unterschiede, kleidet sie aber in eine andere
       Erzählung. In dieser stehen die Grünen für ein Milieu, das sich in den
       urbanen Zentren schicke Altbauwohnungen leisten kann und möglichst viel
       Klimaschutz ohne Rücksicht auf Verluste will. SPD-Fraktionsvize Matthias
       Miersch sieht bei den Grünen wie bei der FDP in der Klimapolitik eine klare
       Schwerpunktsetzung auf Marktelemente wie einen möglichst hohen CO2-Preis –
       was für viele Menschen höhere Preise und harte Einschnitte bedeuten würde.
       „Das werden wir verhindern, und zwar mit einem Mix aus Preisanreizen,
       Ordnungspolitik und staatlicher Förderung“, verspricht er.
       
       Die SPD als Anwältin der kleinen Leute, die aufs Auto angewiesen sind und
       ihre Gasheizung nicht mal eben durch eine Wärmepumpe ersetzen können? Die
       Reibereien zwischen SPD und Grünen wären somit auch ein Konflikt zwischen
       Provinz und Metropole, zwischen kleinen Leuten und Bürgertum.
       
       Doch ist der Spalt wirklich so tief? Erstens ist es mitnichten so, dass die
       Grünen nicht auch staatliche Fördermittel und ordnungspolitische Elemente
       wollen. Gerade beim Austausch von Heizungen setzt der Wirtschaftsminister
       auf die ordnende Hand des Staates, mit dem Argument: Wir müssen die Leute
       zu ihrem Glück zwingen und verhindern, dass ihre Gasheizungen sie in ein
       paar Jahren wegen des CO2-Preises in den Ruin treiben.
       
       Zweitens gibt es zwischen Grünen und SPD nach wie vor große inhaltliche
       Schnittmengen, gerade im Sozialen: Das Bürgergeld, den Mindestlohn und die
       Kindergrundsicherung wollen eigentlich beide.
       
       ## Konkurrenten und Partner
       
       Doch auch hier treten die Parteien eher als Wettbewerber denn als Partner
       auf. Bei der SPD macht man keinen Hehl daraus, dass man das von den Grünen
       geführte Familienministerium für unterverkauft hält. Die Grünen hingegen
       fühlen sich von der SPD oft allein gelassen – ob es um mehr Geld für
       Hartz-IV-Empfänger:innen oder für Kinder aus armen Familien geht.
       
       Es sind gerade die ähnlichen Ambitionen, die verhindern, dass man hier
       zusammenkommt. Grüne und SPD konkurrieren um das gleiche gesellschaftliche
       Spektrum, die sogenannte Mitte der Gesellschaft. Als die hessischen Grünen
       2010 beschlossen, die Grünen sollten führende Kraft der linken Mitte in
       Bund, Land und Kommunen werden, wirkte das noch wie ein Witz. Als Hofreiter
       den Slogan 2018 aufgriff, fand man das in der SPD nicht mehr witzig,
       sondern begriff es als Kampfansage: Die Kellner wollen Chefkoch werden –
       wie frech! Heute sind sie wirklich fast auf Augenhöhe.
       
       SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert spricht von „unterschwelliger
       Führungskonkurrenz“, die dafür sorge, „dass sachpolitische Konflikte
       häufiger eine machtpolitische Komponente bekommen“. Diese Rivalität
       verhindert, dass SPD und Grüne eine gute Arbeitsteilung hinbekommen. Diese
       sähe dem Politologen Wolfgang Schroeder zufolge so aus, dass die Grünen
       treibender Akteur der Klimawende sind, während die SPD sie für die kleinen
       und mittleren Schichten übersetzt. Eine Art Win-win-Situation.
       
       Richtig Fahrt aufnehmen könnte ein rot-grünes Transformationsprojekt aber
       nur dann, wenn sich beide auch dafür starkmachen würden, das nötige Geld zu
       akquirieren. Eine sozial gerechte Transformation hin zu einer postfossilen
       Industrienation kostet Billionen. Zwar denken sowohl Grüne als auch SPD
       über eine Reform der Schuldenbremse nach, sie wollen Vermögende besteuern
       und Erben stärker in die Pflicht nehmen. Doch eine gemeinsame Strategie für
       Umverteilung fehlt. Stattdessen verweisen beide auf die Schranken des
       Koalitionsvertrags, den Finanzminister von der FDP – und die vermeintlichen
       Unzulänglichkeiten des jeweils anderen. Grüne und SPD machen sich im Streit
       um den viel zu kleinen Kuchen lieber gegenseitig fertig, als gemeinsam
       daran zu arbeiten, den Kuchen zu vergrößern.
       
       ## Wenn zwei sich streiten…
       
       Lachender Dritter ist die Union. In Umfragen hat sie mittlerweile einen
       komfortablen Vorsprung. Und nach den nächsten Wahlen könnten ihr in Zukunft
       mehr Optionen zur Verfügung stehen als bisher. In manchen Berliner Bezirken
       verbünden sich jetzt selbst die traditionell linken Grünen im Schatten der
       Landes-Groko mit den Christdemokraten. Und in Bremen, wo im Mai gewählt
       wird, regiert Rot-Grün-Rot zwar einigermaßen rund. Nach der
       Giffey-Erfahrung ist aber kaum anzunehmen, dass sich die Grünen dort nicht
       vorsorglich in alle Richtungen umschauen würden.
       
       Im Bund sind natürlich ebenfalls Szenarien mit der Union denkbar. CDU-Chef
       Friedrich Merz ist im Moment zwar die Versicherung gegen ein schwarz-rotes
       oder schwarz-grünes Zweierbündnis – beteuern sowohl führende Grüne als auch
       SPDler. Anders sähe es aber aus, wenn die CDU 2025 mit einem liberaleren
       Spitzenkandidaten wie Hendrik Wüst oder Daniel Günther in den
       Bundestagwahlkampf zöge.
       
       In Berlin haben Politiker:innen von Grünen und SPD in dieser Woche im
       kleinen Kreis über die Idee einer gemeinsamen „Begleitgruppe“ für die
       Landes-Groko gesprochen. Ein Forum, um im Gespräch zu bleiben und den
       rot-grünen Nukleus am Leben zu halten. Ein bisschen klingt es nach
       Selbsthilfegruppe.
       
       29 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
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