# taz.de -- Mitgliedschaft in der Evangelischen Kirche: Es gibt 1000 gute Gründe
       
       > Auch in der Evangelischen Kirche schwinden die Mitglieder. Was bringt
       > Menschen dazu auszutreten oder Mitglied zu bleiben? Drei persönliche
       > Protokolle.
       
 (IMG) Bild: In der Kirche bleiben oder nicht: Unterschiedliche Perspektiven zum Kirchenaustritt
       
       ## Warum ich aus der Kirche ausgetreten bin …
       
       Aufgewachsen bin ich in einer katholischen Familie in einer kleinen
       Diasporagemeinde in Hessen. Wir hatten einen fortschrittlichen Pfarrer,
       aber in der Familie wurden die Regeln der Kirche streng gesehen. Jeden
       Sonntag waren wir im Gottesdienst – und als Kind war mir das nie
       unangenehm.
       
       Erst als Jugendliche habe ich gemerkt, was für ein patriarchales System das
       ist. Ich wurde ausgebremst von dieser Kirche mit den strengen Regeln, nach
       denen Jungs und junge Männer immer mehr Rechte und Möglichkeiten hatten.
       Dagegen begehrte ich auf. Irgendwann wollte ich nichts mehr damit zu tun
       haben. Der Glaube war mir trotzdem wichtig, deswegen bin ich mit 30
       konvertiert.
       
       Als ich nach Berlin zog, kam ich in eine moderne, offene evangelische
       Gemeinde. Der aufgeschlossene Pfarrer verließ die Gemeinde aber bald. Die
       rückständigen Predigten seines Nachfolgers haben mich mittelmäßig
       schockiert; sehr bibeltreu in der Auslegung, sehr starr. Immer wieder
       spürte ich die Abgehobenheit männlicher Führungspersonen.
       
       Es war mir zuwider, wie manche ihre Machtposition ausnutzten: diese
       fehlende Offenheit für Individualität, das Beharren auf Kirchenregeln. Die
       Kirche ist aber nicht der Glaube, sie ist nicht Gott. Sie vertritt für mich
       einen Sinn nach Gemeinschaft – Menschenrechte etwa oder dass Menschen gut
       miteinander umgehen auf Erden.
       
       Für mich war die Kirche immer eher eine Serviceanstalt. In persönlichen
       Krisen, da bin ich ganz egoistisch, kann der Halt durch die Kirche
       hilfreich sein: als Anlaufpunkt in Notzeiten, als Seelentröster. Ich hatte
       sie immer noch als Anker. Aber das hängt an den Personen. Wenn ich zu den
       Menschen kein Vertrauen mehr habe, dann gibt es für mich nur noch die
       Struktur – und die kann ich heute nicht mehr vertreten.
       
       Meine endgültige Entscheidung, im April 2023 [1][die Kirche zu verlassen],
       hat einen sehr persönlichen Hintergrund: Als Kind wurde ich in meiner
       Familie missbraucht. Ich habe diese Erfahrung erst Jahre später in einer
       Therapie aufgearbeitet. Jetzt, nach einem Burn-out, habe ich wieder eine
       Therapie angefangen. Mir wurde klar, wie solche Gemeinschaften und
       Machtstrukturen wie gemacht sind für Missbrauchsfälle, nach denen es oft
       Jahrzehnte braucht, bis Menschen darüber sprechen können.
       
       Für mich gibt es da einen Zusammenhang: Meine Erziehung, gebaut auf dem ach
       so religiösen Fundament, hat mir noch mitgegeben, dass ich Verständnis für
       den Täter haben soll. Die Frauen in der Familie konnten damit nie nach
       außen gehen. Es wurde gedeckelt, dieses Familiengeheimnis, gewachsen unter
       patriarchal-katholischem Druck. Mit der Kirche hat das nur am Rande zu tun,
       aber das gesamte Konstrukt hat seine Rolle gespielt.
       
       Später beschäftigte ich mich mit der mangelnden Aufarbeitung von
       Missbrauchsfällen in den Kirchen. Missbrauch gab es nämlich in beiden – und
       ich bin überzeugt: Es gibt ihn immer noch. Auf mich wirkt es, als würde die
       evangelische Kirche sich hinter der katholischen wegducken. Für mich
       persönlich war das der Moment, [2][einen Schlussstrich] zu ziehen.
       
       Andrea W.-G., 60 Jahre, Sozialpädagogin 
       
       ## Warum ich in der Kirche bleibe …
       
       Ich bin 1989 geboren und in einer typischen Ostberliner Umgebung
       aufgewachsen, die durchgängig atheistisch geprägt war. Ich wurde als Kind
       nicht getauft, sondern habe selbst den Weg zur Kirche gefunden. Es hat
       schon in der Kindheit angefangen, dass ich mich irgendwie dahin gezogen
       gefühlt habe, ohne das mit Worten benennen zu können.
       
       Mein Weg in die Kirche wurde unterbrochen durch die Pubertät und die
       aufkommende Erkenntnis des Queerseins, meiner Homosexualität. Aufgrund von
       Stereotypen, die ich damals blind geglaubt habe, wie zur Homophobie in der
       Kirche, habe ich zunächst stark gehadert.
       
       Mit Anfang 20 habe ich mich taufen lassen. In meiner damaligen Gemeinde
       hatte ich einen fabelhaften Pfarrer, der selbst auch homosexuell ist und
       mir aufzeigte, dass Kirche ganz anders sein kann. Meine Vorurteile
       bewahrheiteten sich nicht, und ich wurde unerwartet herzlich aufgenommen.
       Jetzt engagiere ich mich schon seit über elf Jahren in der evangelischen
       Kirche, habe ehrenamtlich beim Konfirmand*innenunterricht geholfen,
       bin Mitglied im Gemeindekirchenrat und unterstütze meine Kirche beim
       jährlichen Kirchentruck auf dem Berliner CSD.
       
       Seit meiner Taufe gehe ich so gut wie jeden Sonntag in die Kirche. Die
       evangelische Kirche war ironischerweise für mich als junger, schwuler Mann
       der Ort, an dem ich mich am meisten angenommen gefühlt habe, gefördert
       wurde und wo mir die wenigsten Vorurteile begegneten. Das hatte ich zuvor
       und danach in dem Ausmaß in keiner anderen Community. Viele meiner
       Freund*innen sind nicht christlich, haben aber eine gewisse Offenheit und
       eine Akzeptanz gegenüber mir und meinem Glauben.
       
       Die evangelische Kirche in Deutschland schreitet in vielen Themen, die mir
       wichtig sind, voran. Ich erlebe, dass sowohl die Basis in den evangelischen
       Gemeinden als auch die Kirchenleitungen mehrheitlich einen
       fortschrittlichen Kurs wagen. Es gibt einen Raum für Diversität und
       Meinungsvielfalt. Beispielsweise zum Angriffskrieg auf die Ukraine.
       
       Da gibt es sehr konträre Stimmen, von ultrapazifistischen Menschen, die
       jegliche Kriegsbeteiligung oder Verteidigungsunterstützung ablehnen, bis
       hin zu der EKD-Ratsvorsitzenden Annette Kurschus, die sagt, dass wir eine
       ethische Verpflichtung haben, die Ukraine bei ihrer Selbstverteidigung zu
       unterstützen. Auch das ist eine Form der Nächstenliebe. In meinen Augen
       leistet die evangelische Kirche einen Beitrag zu einer pluralistischen
       Gesellschaft.
       
       Ich kann durchaus verstehen, wenn Menschen aus der Kirche austreten, weil
       sie die Inhalte oder das Angebot nicht überzeugt. Nach meinem Verständnis
       gehört die Gemeinschaft in der Kirche zum Ausleben des christlichen
       Glaubens dazu.
       
       Neben dieser Diversitätsoffenheit hat die evangelische Kirche auch blinde
       Flecken. Während einerseits eine bemerkenswerte Öffnung für [3][die
       LGBTIQ*-Community erreicht wurde], sehe ich mich im Gottesdienst und in
       vielen anderen kirchlichen Veranstaltungen meistens als einzige nicht-weiße
       Person. Ich kritisiere offen, dass die evangelische Kirche es nicht
       schafft, von ihrem gutbürgerlichen und akademischen, weißen Publikum
       abzurücken, und nicht [4][auch andere Menschen] anspricht.
       
       Ich bin immer bereit, kritisch auf meine Kirche zu blicken. Es ist eine von
       Menschen getragene Institution, in der auch viele Fehler passieren. Ich
       bleibe ihr aber hochverbunden. Ein Kirchenaustritt kommt für mich nicht
       infrage, weil ich die Probleme lieber innerhalb der evangelischen Kirche
       angehen möchte. Ich will zur Veränderung beitragen, statt meiner Kirche den
       Rücken zu kehren.
       
       Marko H., 34 Jahre alt, Leiter eines Abgeordnetenbüros 
       
       ## Warum ich mit meiner Kirchenmitgliedschaft hadere …
       
       Ich wurde mit einem Jahr getauft und bin seitdem in der Kirche. Kirche ist
       also etwas, was mir meine Eltern mitgegeben haben. Austreten würde für mich
       daher auch ein „Nein“ zu meinen Eltern, meiner Familie und ihrer Tradition
       bedeuten. Die Konfirmation habe ich noch mit Überzeugung gemacht. Ich fand
       es spannend, mich kritisch mit Religion auseinanderzusetzen.
       
       Von Gott hatte ich nicht die Vorstellung einer Person, an die ich glaube,
       sondern eher so ein Konzept, eine bestimmte Art Liebe, die alles verbindet.
       Ich mochte auch die zwischenmenschlichen Begegnungen in der Kirche und die
       Werte, die vor allem im Neuen Testament, in der Person Jesu, übermittelt
       werden.
       
       Dadurch, dass ich im katholisch geprägten Münsterland aufgewachsen bin,
       hatte ich auch immer den Eindruck, dass es viel toller und progressiver
       ist, evangelisch zu sein. Frauen konnten Pfarrerinnen sein, und insgesamt
       war alles offener. Für mich war das eine Art Kompromiss zwischen dem, was
       ich denke, und dem, was gesellschaftlich erwartet wurde. Mein Bruder hat
       schon mit Beginn des Konfirmandenunterrichts der Kirche entsagt. Als
       Erstgeborene hatte ich mehr den Anspruch, „brav und gut“ zu sein und
       gesellschaftliche und familiäre Erwartungen zu erfüllen. Aber ich habe im
       Glauben auch in schwierigen Zeiten Trost gefunden.
       
       Als ich als Erwachsene dann die Kirchensteuer gezahlt habe, habe ich neu
       über meinen Bezug zur Kirche nachgedacht. Die Kirche unterstützt viele
       gemeinnützige Dinge. In meinem Heimatdorf waren die meisten
       Gemeinschaftserlebnisse von der Kirche mitbegründet und ich war Teil des
       Kinderchors, der zu Feiertagen die katholische Messe begleitete, oder ich
       fuhr mit zur Oster-Skifreizeit, die von der katholischen Kirche finanziell
       unterstützt wurde.
       
       In meiner Wahrnehmung war die Kirche sehr lange eine wichtige
       gesellschaftliche Institution. Sie stopft auch heute noch einige der Löcher
       im sozialen Bereich, wo der Staat nicht genug macht, besonders für
       bedürftigere Menschen. Die Kirchensteuer sehe ich als sozialen Beitrag für
       die Gesellschaft, deren Teil ich bin.
       
       Wenn ich jetzt noch mal die Wahl hätte, würde ich nicht in die Kirche
       eintreten, weil ich in meinem Alltag eigentlich kaum Berührungspunkte habe.
       Jetzt auszutreten fühlt sich aber an, als ob ich eine Tür zumache, die ich
       zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr nutzen könnte. Vor fünf Jahren bin
       ich Patentante geworden, da war ich froh, noch Kirchenmitglied zu sein. Aus
       [5][der katholischen Kirche würde ich heute sofort austreten], bei der
       evangelischen Kirche sehe ich noch einige positive Sachen.
       
       Andererseits war für uns sehr schnell klar, dass wir unseren Sohn nicht
       taufen lassen. Also wird die Tradition durch mich nicht weitergegeben.
       Trotzdem habe ich dieses unbestimmte Gefühl in mir, dass ich mich noch
       nicht lösen möchte, diesen Bruch nicht haben will. Ich merke auch heute
       noch, dass ich gerne in Kirchen gehe, einfach, weil ich sie schön finde.
       Auch an Weihnachten gehört der Besuch im Gottesdienst für mich noch dazu.
       
       Tatiana S., 32 Jahre, Programmiererin
       
       8 Jun 2023
       
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