# taz.de -- Asylrecht in der EU: „Tiefpunkt noch nicht erreicht“
       
       > Die EU-Kommission will die Standards für Asylverfahren weiter absenken.
       > Auf dem Tisch liegt ein Vorschlag für die sogenannte Krisenverordnung.
       
 (IMG) Bild: EU-Außengrenze: Geflüchtete am belarussich-polnischen Grenzzaun im Mai 2023
       
       BERLIN taz | Nach der Verschärfung ist vor der Verschärfung: Nur wenige
       Wochen nach der vorläufigen Einigung [1][beim Gemeinsamen Europäischen
       Asylsystem (Geas)] gehen die Beratungen der EU-Innenminister über
       Änderungen des Asylrechts weiter. An diesem Mittwoch diskutierte der EU-Rat
       über einen Vorschlag der EU-Kommission, konnte aber vorerst keine Einigung
       erreichen. Es geht um die sogenannte Krisenverordnung.
       
       Die sieht vor, dass die Mitgliedstaaten in Ausnahmesituationen Standards
       für die Flüchtlingsaufnahme und die Asylverfahren absenken und
       Grenzübergänge schließen können. Möglich sein soll das etwa in politischen
       Krisen und bei „höherer Gewalt“ sowie bei einer sogenannten
       Instrumentalisierung von Geflüchteten durch Nachbarstaaten. Dann sollen
       sämtliche Ankommenden in das sogenannte Grenzverfahren genommen – und bis
       zu 40 Wochen festgehalten – werden können.
       
       Die Kommission hatte dies ähnlich bereits 2020 angeregt. Bisher konnten
       sich die Mitgliedstaaten aber auf keine gemeinsame Haltung einigen. Die
       schwedische EU-Ratspräsidentschaft hatte den Vorschlag Ende Juni wieder auf
       die Tagesordnung gesetzt, die spanische treibt die Beratungen nun voran.
       Noch in dieser Legislaturperiode soll der Vorschlag verabschiedet werden,
       also bis Februar 2024.
       
       Im Herbst 2021 hatte Brüssel bereits eine Art Pilotpojekt dazu
       vorgeschlagen: Polen und die baltischen Staaten sollten Grenzübergänge
       schließen und Aufnahmestandards für Geflüchtete vorübergehend absenken
       dürfen. Grund war, dass diese von Belarus über die Grenze geschleust worden
       waren, um der EU zu schaden – so das Argument der Kommission. Auf diese
       Weise sollten potenziell Flüchtende abgeschreckt und Belarus das Instrument
       aus der Hand genommen werden. „Es wird nicht gelingen, die EU zu
       destabilisieren, indem Menschen instrumentalisiert werden,“ sagte
       EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen damals.
       
       ## Asylverfahren sollen gänzlich eingestellt werden, so Polen
       
       Doch Polen und die baltischen Staaten wiesen den Brüsseler Vorschlag
       zurück: Er sei „kontraproduktiv“, weil darin weiterhin eine Prüfung von
       Asylanträgen vorgesehen war. Asylverfahren müssten stattdessen gänzlich
       eingestellt werden, sagte Polens EU-Botschafter damals. Polen und die
       baltischen Staaten setzten lieber auf direkte Pushbacks der Ankommenden.
       
       Die Kommission hielt an der Idee aber fest. Nur wenige Monate später schlug
       sie den Mitgliedsstaaten dann die so genannte
       Instrumentalisierungsrichtline vor. Die sollte keine Ausnahmeregelung,
       sondern allgemeines Recht werden. Die Kommission verwies zur Begründung
       nicht nur auf die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze, sondern auch
       auf Vorfälle an der türkisch-griechischen und der marokkanisch-spanischen
       Grenze.
       
       Dort hatten die EU-Nachbarstaaten Grenzkontrollen ausgesetzt, damit
       Flüchtlinge in größerer Zahl in die EU gelangen konnten. Damit verbanden
       sie Forderungen: Marokko erzwang im Mai 2021 die faktische Anerkennung
       Spaniens für die Anexion der West-Sahara. Der türkische Präsident Recep
       Tayyip Erdoğan ermutigte im Februar 2020 Flüchtlinge demonstrativ,
       massenhaft die Grenze zu überqueren und begründete dies damit, dass die EU
       sich nicht an ihre Zusagen für die Flüchtlingshilfe gehalten habe.
       
       ## Instrumentalisierungsrichtlinie soll Erpressung erschweren
       
       Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko wiederum hatte die
       Geflüchteten 2021 offenkundig über die Grenze nach Polen schleusen lassen,
       damit die EU Sanktionen wegen Wahlbetrugs aussetzt.
       
       Die Instrumentalisierungsrichtlinie sollte solche Erpressungsversuche in
       Zukunft erschweren. Verhindern würde sie diese aber nicht. Sie scheiterte
       zudem Anfang 2023 im Rat, unter anderem am Veto Deutschlands, das die
       Kriterien als zu vage bezeichnete. Missbrauch erschien wahrscheinlich. Der
       Vorschlag wurde abgelehnt.
       
       Nun liegt das Konzept in Form der Krisenverordnung wieder auf den Tisch.
       Diese ist gewissermaßen das Gegenteil der sogenannten
       Massenzustromsverordnung, von der die Millionen in die EU geflüchteten
       Ukrainer:innen ab Februar 2023 profitierten. Diese ermöglichte der EU,
       im Krisenfall unbürokratischer als sonst Schutz zu gewähren.
       
       ## Tiefpunkt noch nicht erreicht
       
       Die Krisenverordnung zielt auf weniger Rechte für Schutzsuchende, wenn in
       Krisenfällen ein „Massenzustrom“ zu verzeichnen ist – oder dieser „droht“.
       Feststellen soll dies die EU-Kommission, nicht die Mitgliedstaaten selbst.
       Dann sollen verstärkte Grenzkontrollen durchgeführt werden, andere
       EU-Staaten sollen Schutzsuchende aus den betroffenen Ländern übernehmen
       müssen oder Geld zur „Bewältigung der Situation“ bereitstellen müssen.
       
       „Der Vorschlag macht noch mal deutlich, dass es den Staaten der EU heute
       vor allem um die Entrechtung von Schutzsuchenden geht“, sagt [2][der grüne
       EU-Abgeordnete Erik Marquardt]. Die jüngste Diskussion zu dem Thema im Rat
       sei „entlarvend“. Der „Tiefpunkt der europäischen Asylreform ist noch
       nicht erreicht“, heißt es [3][in einem offenen Brief von 55 NGOs] an die
       Bundesregierung.
       
       Die Verordnung droht „an den Außengrenzen den schon bestehenden
       Ausnahmezustand rechtlich zu zementieren“. Sie „verbiegt das Recht und
       ermöglicht es, das geltende Recht an den Außengrenzen zu brechen.“
       Unterzeichnet haben unter anderem Ver.di, Amnesty und Brot für die Welt.
       
       Aktualisiert am 26.07.2023 um 15.40 Uhr. d.R.
       
       26 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christian Jakob
       
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