# taz.de -- Geflüchtete in Tunesien: Sie müssen die Drecksarbeit machen
       
       > Die EU und Tunesien haben sich auf eine „strategische Partnerschaft“
       > geeinigt. Mit europäischem Geld werden flüchtende Menschen in die Wüste
       > geschickt.
       
 (IMG) Bild: Geflüchtete in der Wüste an der libanesisch-tunesischen Grenze im Juli 2023
       
       Mehr als tausend Menschen wurden in den vergangenen Tagen von Tunesien
       [1][in der Wüste abgesetzt] – ohne Wasser und Versorgung, bei über 40 Grad
       Hitze. So berichten es NGOs aus der Region. Dies geschah just in jener
       Zeit, in der sich die Europäische Union und das nordafrikanische Land
       [2][auf eine „strategische Partnerschaft“ bei der Migrationskontrolle
       geeinigt haben]: Die EU zahlt, Tunesien hält die Flüchtlinge auf. Und weil
       das Land sie selbst auch nicht will, kommen sie eben in die Wüste.
       
       Das Sterben dort unterscheidet sich aus europäischen Sicht von jenem im
       Mittelmeer vor allem dadurch, dass es hierzulande kaum bemerkt wird.
       Während eine Vielzahl NGOs und die UN die Vorgänge im Meer heute fast
       lückenlos dokumentieren, ist die unzugängliche Wüste, oft ohnehin
       Sperrgebiet, ein Niemandsland der Wahrnehmung. Was dort geschieht, ist –
       buchstäblich – die Drecksarbeit der europäischen Flüchtlingsabwehr.
       
       Sie wird befeuert von der Angst vor der hierzulande erstarkenden Rechten.
       So aber materialisiert sich ihr Programm, schon bevor sie die Macht
       übernimmt: Was bei uns als Bruch zivilisatorischer Mindeststandards gilt,
       wird südlich des Mittelmeers vollzogen, um uns die Unerwünschten vom Hals
       zu halten.
       
       Manchen reicht das nicht. Immer noch einen Schritt weiter, auf dass bloß
       keiner denkt, uns geht es noch nicht hart genug zu – nach diesem Motto
       verfährt dieser Tage die Union. „Aus dem Individualrecht auf Asyl muss eine
       Institutsgarantie werden“ – das [3][forderte diese Woche] der
       Parlamentarische Geschäftsführer der Union, Thorsten Frei. Eine
       Antragstellung auf europäischem Boden soll nicht länger möglich sein, der
       Bezug von Sozialleistungen und Arbeitsmöglichkeiten gehörten „umfassend
       ausgeschlossen“.
       
       ## Die Tore würden geschlossen bleiben
       
       Frei begründete seinen Vorschlag damit, dass das derzeitige Asylrecht
       „nicht die Schwächsten“ schütze, sondern eine „zutiefst inhumane Auswahl“
       treffe. Wer zu alt, zu schwach, zu arm oder zu krank ist, sei „chancenlos“:
       Er oder sie könne sich nicht auf den Weg durch die Wüsten Afrikas und über
       das Mittelmeer machen.
       
       Das stimmt. Nur liegt es vor allem daran, dass die EU – und mit ihr die
       Bundesregierung – in den vergangenen Jahren alles dafür getan hat, dass es
       dort heute so gefährlich für Flüchtende ist.
       
       Frei jedenfalls will an die Stelle des individuellen Asylrechts ein
       jährliches europäisches Kontingent von „300.000 oder 400.000“ Menschen
       auflegen. Mit dem sollen Schutzbedürftige direkt aus dem Ausland
       aufgenommen und in der EU verteilt werden könnten. Seine Begründung dafür
       klingt rational, gar human. Das Argument ist seit Jahren immer wieder
       bemüht worden, um zu rechtfertigen, warum es den individuellen
       Rechtsanspruch nicht mehr geben soll. In etwas abgewandelter Form, mit
       Betonung auf den Gedanken nationaler Souveränität, ist dies auch in
       Osteuropa zu hören: Wir bestimmen, wen wir reinlassen. Also bestimmen wir
       auch, wem wir Schutz gewähren wollen.
       
       Die Folge wäre, dass die Menschen, die es nötig haben, darauf hoffen
       müssen, dass die Staaten sie freiwillig zu sich holen. Jede Erfahrung der
       Vergangenheit zeigt jedoch nur eines: Wer darauf angewiesen ist, ist
       verloren. Denn freiwillige Aufnahme findet stets nur in homöopathischen
       Dosen statt.
       
       Sei es die Resettlement genannte Umsiedlung über Kontingente des
       UN-Flüchtlingswerks UNHCR, sei es die Relocation genannte Umverteilung aus
       den Staaten Südeuropas innerhalb der EU, seien es die Notaufnahmeprogramme
       aus den Lagern Libyens oder der Ägäis oder Schiffbrüchiger aus Malta oder
       Italien. Immer dann, wenn die Menschen freiwillig aufgenommen werden
       sollen, kommt am Ende kaum jemand durch. Man kann davon ausgehen, dass Frei
       das weiß. Zu behaupten, dass die EU freiwillig Hunderttausende Menschen pro
       Jahr hereinholt, ist Augenwischerei. Das wird nicht geschehen. Die Tore
       würden geschlossen bleiben.
       
       25 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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