# taz.de -- Vor den Rammstein-Konzerten in Berlin: Deutschland-Remix ohne Peniskanone
       
       > Ab Samstag spielen Rammstein drei Konzerte hintereinander im
       > ausverkauften Berliner Olympiastadion. Wie kann das sein?
       
 (IMG) Bild: Da kam die Peniskanone noch zum Einsatz: Rammstein beim Wacken Open Air
       
       Keine Ahnung, wie diese ganze Rammstein-Geschichte ausgehen wird. Vieles
       spricht dafür, dass Till Lindemann demnächst nicht in einer Gefängniszelle
       mit seiner Peniskanone spielen wird, sondern [1][weiterhin auf riesigen
       Stadionbühnen vor zehntausenden johlenden Fans]. „Strafrechtlich nicht
       relevant“ und „Unschuldsvermutung“ sind oft zitierte Begriffe, wann immer
       es um den 60-jährigen Rammstein-Sänger und die Vorwürfe Dutzender Frauen
       geht, die ihm zur sexuellen Befriedigung zugeführt worden sein sollen – oft
       unter dem Einfluss von Drogen.
       
       Doch wie sollen diese meist sehr jungen Frauen – laut den Berichten waren
       sie gemäß Lindemanns Vorlieben zwischen 18 und 24 Jahre alt – beweisen, was
       ihnen passiert ist? Die Einnahme von K.O.-Tropfen ist nur wenige Stunden
       lang nachweisbar, bei der Frage, ob es einvernehmlicher Sex oder
       Vergewaltigung war, steht Aussage gegen Aussage. Und die Aussagen vieler
       Opfer können kaum klar und detailliert sein, dank stark geschwächtem
       Erinnerungs- und Wahrnehmungsvermögen durch betäubende Substanzen.
       
       [2][Und dann waren sie ja auch noch alle Fans! Mädchen, die Rammstein
       mochten, die Till Lindemann irgendwie sexy fanden, die sich oft aufreizend
       gestylt hatten, die Bock auf Party hatten, zusammen mit ihrem Idol abhängen
       wollten.] Manche wollten bestimmt auch mit Lindemann schlafen, fanden es
       aufregend, mit ihm intim zu werden.
       
       Und da wird's kompliziert. Also zumindest kompliziert für viele
       Rammstein-Fans, die den Frauen, die mit ihren persönlichen Erfahrungen an
       die Öffentlichkeit gegangen sind, entgegen schreien: „Was habt ihr denn
       anderes erwartet?“ Wir wissen zumindest, die Irin Shelby Lynn hat nicht
       erwartet, dass sie Till Lindemann in einer vierminütigen Pause während des
       Konzerts in einer Kabine unter der Bühne einen blasen sollte.
       
       ## Sexuelle Selbstbestimmung, hallo!
       
       Beziehungsweise, sie hat es sogar erwartet oder vielmehr befürchtet und
       vorher explizit gefragt, ob Lindemann Sex wolle, was ein Mitarbeiter aber
       verneinte. Und die Youtuberin Kayla Shyx hat nur eine gut besuchte
       Aftershow-Party erwartet und keine separate von Securitys bewachte
       Umkleidekabine, auf der geistig abwesend wirkende Frauen auf einem Sofa
       sitzen, um dann von Lindemann auserwählt und mitgenommen zu werden.
       
       Aber sogar denjenigen Frauen, die gerne ins Hotelzimmer, in die Blas-Kabine
       oder sonstwo mit hingehen, um mit ihrem Rockstar zu schlafen, ist nichts
       vorzuwerfen. Sexuelle Selbstbestimmung, hallo! Deswegen hat die „Causa
       Lindemann“ auch wenig mit dem oft benutzten Begriff „Groupie“ zu tun.
       Groupies wollen ihrem Idol nahe sein, gern auch sexuell. Weil sie dessen
       oder deren Musik mögen, seine Art, sein Auftreten. Weil sie hoffen, er
       könnte ein Seelenverwandter sein. Weil sie ein Teil seiner Welt sein
       wollen. Weil sie von ihm toll gefunden werden, ihn berühren und bei ihm
       sein wollen.
       
       Aber ganz sicher nicht, [3][weil sie als eine von vielen ihm ausgelieferten
       Frauen von ihrem verehrten Rockstar benutzt und danach blutend weggeschickt
       werden wollen.] Selbst während eines einvernehmlich begonnenen Akts kann es
       passieren, dass eine Person zwischenzeitlich nicht mehr einverstanden ist,
       weil der andere ihr mehr wehtut, als sie will. Das gilt für alle sexuellen
       Beziehungen, egal zwischen wem.
       
       Aber wir reden hier zudem von einer weltweit berühmten deutschen Rockband.
       Einer Band, die sich als rebellisch inszeniert. Harter Rock als
       Übertreibung. Als Provokation. Pyros und Phallus. Rammstein werden dafür
       gefeiert, dass sie Grenzen überschreiten. Wie kann man sich da denn
       beschweren, dass man vom Sänger (zu hart) rangenommen wurde? Also bitte.
       It's Rock'n'Roll, Baby. Aber gerade dieser Rock'n'Roll in all seiner
       schrammeligen Schönheit ist leider auch ein Hort von Misogynie, wovon
       bislang viel zu selten erzählt wird.
       
       ## Das bisschen Nötigung
       
       Denn es sind große Helden, die da fallen würden. [4][David Bowie, Mick
       Jagger, Iggy Pop] und viele mehr haben ihre Macht missbraucht, Frauen wie
       Dreck behandelt, Minderjährige zum Sex überredet. Das war und ist so egal,
       dass sie davon sogar in Songs singen, die auch zu Hits wurden. Man muss das
       Werk vom Künstler trennen, heißt es dann, wenn Leute darauf aufmerksam
       machen, dass ein Songtext völlig daneben ist. Stimmt, das muss man, wenn es
       um die bereits erwähnte strafrechtliche Relevanz geht.
       
       Man kann niemanden dafür in den Knast schicken, dass er geschmacklose Songs
       oder Gedichte schreibt. Und ja, es ist ein lyrisches Ich, das in Lindemanns
       Gedicht „Wenn Du Schläfst“ eine Vergewaltigung samt Schlafmittel Rohypnol
       im Wein beschreibt. Abgesehen davon, dass das lyrische Ich komplett
       widerlich daherkommt, ist es kein poetisch wertvolles Gedicht, erdacht von
       einem Genie.
       
       Genauso wenig, wie all die anderen Rockstars so große Genies sind, dass man
       ihnen das bisschen sexuelle Nötigung, das bisschen Missbrauch, das bisschen
       Vergewaltigung mal durchgehen lassen könnte, weil sie so tolle, bewegende,
       berührende Musik machen. Rabauken halt.
       
       Dass dieser Genie-Kult nun in mehreren Bereichen der Kunst zunehmend in
       Frage gestellt wird, dass den Stars nicht mehr alles durchgewunken wird,
       liegt auch an den Frauen, die sich inzwischen trauen, sich zu wehren. Da
       gehört viel Mut dazu. Denn wie schwierig das auch fünf Jahre nach #MeToo
       noch für die Opfer ist, zeigen die letzten Wochen deutlich. Neben großem
       Support gehören so viele Beschimpfungen, Drohungen und Hass zu den
       Reaktionen, dass viele anonym bleiben wollen.
       
       ## Weiterhin abgefeiert
       
       Ein weiteres Problem: [5][Rammstein sind so populär, dass sehr viele
       Menschen und deren Karrieren von ihrem Erfolg und Weiterbestehen abhängig
       sind, so dass diese Menschen wohl bewusst seit Jahren weggeschaut haben und
       auch Opfern rieten, nichts zu sagen,] weil man sich mit solch Großen besser
       nicht anlegt. Das bestätigen auch die Anwaltsschreiben, die der
       Medienanwalt Schertz zur Zeit zahlreich rausschickt. Zudem haben Rammstein
       unzählige treue Fans auf der ganzen Welt, von denen sich ein Großteil trotz
       der Vorwürfe nicht von der Band abwendet, wie die weiterhin ausverkauften
       Konzerte weltweit zeigen. Stattdessen lassen sie sich erstaunlich viele
       Gründe einfallen, warum man Lindemann trotzdem noch toll finden kann. Und
       der einfachste Grund ist natürlich, den Opfern zu misstrauen.
       
       Auch ich fand Rammstein nicht immer scheiße. Zu schön ist die Geschichte,
       wie sie als Punkband in der DDR angefangen haben und dann als Ossis durch
       die (westliche) Welt tourten. Zu faszinierend, wie sie mit dem Feuer
       spielten. Wie sie so übertrieben haben in ihren Live-Shows. Wie sie weit
       weniger stumpf sein sollen als einige ihrer Lieder. Und tolle Videos auch.
       
       Von Keyboarder Flake war ich sogar ein bisschen Fan, weil er so lustig ist,
       und frage mich seit Wochen, wieso er jetzt schweigt. Und vor allem frage
       ich mich, wie man jetzt noch einfach so weiter machen kann. Als Flake. Aber
       auch als Fan. Wieso jeweils 75.000 Menschen im Berliner Olympiastadion bei
       drei Konzerten Till Lindemann abfeiern können und sich während des
       „Deutschland“-Remixes, bei dem er für wenige Minuten die Bühne verlässt,
       feixend fragen, ob ihm in diesem Moment ein zugedröhntes Mädchen wieder
       einen bläst.
       
       Sie machen ja gar nicht so weiter wie gehabt, sagen nun die nimmermüden
       Verteidiger*innen. Die Peniskanone kommt schließlich nicht mehr zum Einsatz
       bei den Konzerten. Doch was ist mit davor, danach oder darunter?
       
       13 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
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