# taz.de -- Altersarmut von jüdischen Menschen: Die Würde der Alten ist antastbar
       
       > Jüdische Kontingentsflüchtlinge sollten jüdisches Leben zurück nach
       > Deutschland bringen. Doch Juden und Jüdinnen droht heute Altersarmut.
       
 (IMG) Bild: Die Würde des Menschen ist antastbar: Schlange vor einer Lebensmittelausgabe
       
       Die Gegenwart ist trist. Nehmen wir an, da ist ein Mensch, der hat einiges
       in seinem Arbeitsleben geleistet: ein Jahrzehnt, zwei, drei, vielleicht
       vier. Er hat darauf gebaut, dass sich diese Leistung einmal auszahlt, doch
       am Ende seines Lebens kommt es anders als erwartet; da findet sich dieser
       Mensch in einer beengten Wohnung wieder, am Stadtrand zwischen Betonbauten,
       verarmt und fast vergessen.
       
       Armut ist auch unsichtbar. Manchmal übersieht man ihr Ausmaß in der eigenen
       Familie oder man hat sich zu sehr an sie gewöhnt. Ich erschrak eines Tages,
       als ich erfuhr: Oma geht schon seit vielen Jahren zur Tafel.
       
       Im Jahr 2021 waren in Deutschland [1][knapp 17 Prozent der Bevölkerung von
       Armut betroffen]. Das sind über 14 Millionen Menschen. Im Alter verschärft
       sich dieses Elend. Wer nicht genug in die Rentenkasse eingezahlt hat, ist
       später auf Grundsicherung angewiesen.
       
       Wer Jude in diesem Land ist und alt, den trifft es besonders hart. Das mag
       vielleicht irritieren, da sich bis heute das antisemitische Stereotyp der
       reichen Juden hält. Aber ich kann Ihnen versichern: Reiche alte Juden
       gibt’s in Deutschland kaum.
       
       ## 93 Prozent sind auf Grundsicherung angewiesen
       
       In den neunziger Jahren kam eine außergewöhnliche Migrationsbewegung in
       Gang, die bis heute von manch einem Politiker gern als das Aufblühen des
       jüdischen Lebens in Deutschland betrachtet wird, als ein Geschenk. [2][Über
       200.000 Jüdinnen und Juden und ihre Familienangehörigen] zogen aus der
       zerfallenen Sowjetunion in das Land der Täter.
       
       Mehr als 93 Prozent dieser jüdischen Zugewanderten sind heute auf
       Grundsicherung im Alter angewiesen. Der deutsche Staat hatte es verpasst,
       diese Menschen in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Nur wer Glück hatte,
       konnte hier noch einige wenige Rentenpunkte erwerben.
       
       Meist fanden sich diese Menschen in Tätigkeiten wieder, die weit unter
       ihren Qualifikationen lagen. Gut ausgebildete Lehrer, Ingenieurinnen, Ärzte
       wurden zu Hilfsarbeiter:innen. Deshalb und weil man ihre Arbeitsleistungen
       aus ihren Heimatländern nicht anerkennt, leben heute [3][bis zu 70.000
       jüdische Senior:innen unterhalb der relativen Armutsgrenze].
       
       ## Wie viel ist dem Staat ein würdevolles Leben wert?
       
       Lange war dieses Problem bekannt, genauso lang wurde es verschleppt, von
       einer Bundesregierung zur nächsten. Es wurden Zahlungen zugesagt, die dann
       nie kamen. Bis sich zuletzt, nach drei Jahrzehnten, Bund und Länder doch
       einigten: auf Einmalzahlungen aus einem Härtefallfonds.
       
       Seit dem 17. Januar dürfen die Betroffenen nun schon Anträge ausfüllen, um
       pauschal 2.500 Euro zu bekommen. 5.000 Euro können es werden, wenn das
       Land, in dem die Antragsteller leben, sich an dem Fonds beteiligt. Bis
       spätestens Ende September müssen die Anträge eingereicht werden. Lassen Sie
       sich das mal auf der Zunge zergehen: 2.500 Euro. So viel ist dem deutschen
       Staat ein würdevolles Leben wert.
       
       Jahre der Würdelosigkeit sollen mit dieser Einmalzahlung wettgemacht
       werden. Der Schandfleck soll endlich verschwinden, das Versagen des
       deutschen Staates damit gleich mit. Als wäre nie etwas gewesen.
       
       ## Die Würde alter Jüdinnen und Juden ist antastbar
       
       Viele Betroffene, so auch mein Großvater, bekamen nie die Chance auf ein
       besseres Leben. Wie auch er starben viele, noch bevor sich die Politik
       geeinigt hat. Sie konnten nie einen Antrag ausfüllen.
       
       Verantwortung ist ein großes Wort. Wer sich Menschen einlädt, sie nicht
       selten für das eigene Ansehen missbraucht, ihr Dasein als Beweis der
       deutschen Vergangenheitsbewältigung anführt, der trägt besondere
       Verantwortung.
       
       Die Würde des Menschen ist unantastbar. Ich nehme das wörtlich. Über drei
       Jahrzehnte ist der deutsche Staat diesem Auftrag, diesem Versprechen nicht
       gerecht geworden. Die Würde alter Jüdinnen und Juden, so scheint mir, ist
       in Deutschland antastbar.
       
       21 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/armut-deutschland-bericht-sozialverband-101.html
 (DIR) [2] /Juedische-Kontingentfluechtlinge/!5727852
 (DIR) [3] https://zwst.org/de/news/die-zeit-wird-knapp
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Erica Zingher
       
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