# taz.de -- Roman über Freundschaft im Kulturbetrieb: Rettung in die Kunst
       
       > Die Dramatikerin Olga Bach erzählt von drei hochbegabten Außenseitern im
       > Berliner Kulturbetrieb. Ihr Roman „Kinder der Stadt“ ist unsentimental.
       
 (IMG) Bild: Olga Bach wurde mit Theaterstücken bekannt
       
       „Wenn du schon keine Literatur schreibst, dann müsstest du wenigstens
       ehrlich sein und bei den Fakten bleiben. Auch wenn es um dich geht. Du
       müsstest alles erzählen“, wirft auf der Hälfte des Romans Maria ihrer
       Freundin, der Ich-Erzählerin Irina, vor. Zum Streit zwischen den beiden
       jungen Frauen kommt es in dem fiktiven Berliner „Museum für Identität und
       Wiedervereinigung“, das Maria, Irina und ihren gemeinsamen Freund Orhan mit
       einem Kunstprojekt beauftragt hat, in das ihre eigenen „diversen“
       Biografien einfließen sollen.
       
       Irina, die Autorin des Projekts, hat bislang vor allem über Maria und ihre
       Ost-Familie geschrieben – und Maria, Journalistin und engagiert in der
       Partei Die Linke, ist not amused. „Ich bin … doch nicht unehrlich … nur
       weil ich nicht … alles erzähle'“, rülpst Irina zu ihrer Verteidigung.
       Rülpsen: ihr neurotischer Tick, der den Ernst der Auseinandersetzung
       minimal unterläuft. Mit der Diskussion über literarische Aneignung
       reflektiert die 1990 geborene Autorin und Kammergerichtsreferendarin Olga
       Bach in ihrem Romandebüt „Kinder der Stadt“ auch ihr eigenes Schreiben.
       
       Denn Bach camoufliert kaum, dass sie hier ihre eigene Geschichte als Teil
       eines Trio infernale mit [1][Theater- und Opernregiestar Ersan] Mondtag
       erzählt, der in den 2010er Jahren mit seiner „spektakulären Bildsprache“
       [2][mehrere Theaterstücke von Olga Bach] inszeniert hat (unter anderem „Die
       Vernichtung“, „Das Erbe“) und sich vor Aufträgen an internationalen
       Opernhäusern kaum retten kann.
       
       Es ist die Coming-of-Age-Story einer Freundschaft zwischen drei sensiblen,
       hochbegabten Außenseitern, die sich, da hat der Kommunikationsleiter des
       Museums aka Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung in seinem
       Antragsjargon schon recht, „kollektiv und individuell, vereinigt, aber doch
       differenziert in Berlin verorten“.
       
       Olga Bach verschränkt verschiedene Erzählstränge; Datumsangaben ermöglichen
       die Orientierung. Ein Strang verfolgt aus der Ich-Perspektive das
       allmähliche Scheitern des Museumsprojekts während der Coronajahre 2020/21,
       ein anderer greift allwissend zurück in die Nullerjahre, als Irina und
       Spitzenschülerin Maria sich anfreunden, im Jugendtheater auf Orhan treffen,
       zusammen feiern, Drogen konsumieren, reisen und Theater machen.
       
       Ihre jeweilige Herkunft ist unterschiedlich, privilegiert oder prekär:
       Irina kommt aus bildungsbürgerlicher Familie, und auch wenn die getrennt
       lebenden Eltern in ihren künstlerischen Berufen kein Vermögen anhäufen –
       der exzentrische Vater bewohnt in Ostwestfalen „völlig altersverarmt“ einen
       Palast –, stiftet die Grunewaldvilla der Großeltern Sicherheit.
       
       ## Anstrengende Familienverhältnisse
       
       Auch Marias Eltern sind geschieden; sie wohnt bei ihrer Mutter, die
       plötzlich mit ihrem sehr viel jüngeren Bruder nach Mexiko verschwindet, die
       Tochter zurücklässt und ein Jahr später erneut schwanger zurückkehrt –
       Maria, immer noch Schülerin, ist inzwischen zu Irinas Mutter nach
       Schöneberg gezogen. Ihren Vater Hans, ein ehemaliges DDR-Heimkind, trifft
       sie nur zum Sport; als sie einmal unpünktlich ist, droht er schriftlich mit
       Kontaktabbruch.
       
       Orhans Mutter Birsen spricht kaum Deutsch, Vater Mehmet ist Alkoholiker. In
       einer der dramatischen Miniaturen, die Olga Bach zwischen ihre Prosa
       streut, verprügelt Birsen ihre streitenden Kinder in einer Comic-haften
       Mehlstaubwolke mit dem Nudelholz.
       
       Trotz Orhans rasanten Aufstiegs in die Hochkultur – auf Rat einer ebenfalls
       türkischen Kollegin hat er seinen Namen von Yildiz zu Stern geändert – hält
       er engen Kontakt zur Familie; einmal verunglückt sie fast in seinem Auto.
       Jemand hat die Reifen manipuliert, das LKA ermittelt. Waren es deutsche
       Rechtsradikale oder türkische Nationalisten? Beiden dürfte der schwule
       Künstler ein Dorn im Auge sein.
       
       Olga Bach schreibt rasant und lakonisch zugleich, sie psychologisiert
       nicht, beschränkt sich auf konkrete Handlungen und Gespräche. Orte und
       Räume beschreibt sie oft nur in stichpunktartigen Aufzählungen. Ein cooler,
       unsentimentaler Stil, Theaternerds haben vermutlich Extraspaß beim
       Entschlüsseln mancher Namen – doch weder Claus Peymann noch Frank Castorf,
       die hier kurz als steinalte Legenden Bernhard und Markus durchs Bild
       huschen, spielen eine echte Rolle für das Buch.
       
       Etwas anders verhält es sich mit Asko Tamm [3][alias Vegard Vinge]: Die
       drei Freund:innen nehmen 2008 an einer Performance teil, lassen sich
       reihenweise in einem gefakten Gewaltritual von Tamm die Kehle
       durchschneiden.
       
       Während Irina es kaum aushält, genießen Orhan und Maria die Grenzerfahrung,
       das stundenlange Abtauchen in die Parallelwelt. „‚Wenn die Gewalt
       ritualisiert ist, nach Regeln verläuft, dann ist es keine Gewalt mehr.‘ Das
       hatte Orhan einmal zu Irina gesagt. Da hatten sie aber nicht übers Theater
       gesprochen, sondern über Gewalt in der Familie.“
       
       Die Stelle ist auch deshalb interessant, weil der Kunst in „Kinder der
       Stadt“ die Funktion eines Emanzipationstools und Safe Space, ja der
       Ersatzfamilie zukommt – zu einem Zeitpunkt, als die Diskurse über
       Machtmissbrauch und Diskriminierung die Theater noch gar nicht erreicht
       haben. „Das Theater hat mich also gerettet“, sagt Orhan einmal zu Irina,
       die sein oft erratisches Schwanken zwischen Verschlossenheit und Exzentrik
       mit Neugier und trockenem Humor betrachtet („‚Wir machen bestimmt wieder
       ein Meisterwerk‘, sagt er und zieht dann seine Line. Er klingt beinahe
       traurig“).
       
       Dennoch ist „Kinder der Stadt“ mehr als ein Schlüsselroman im
       Theaterbetrieb. Dass die Rettung durch Kunst für Orhan weit existenzieller
       ist als für Irina, die um Zeit und Geld viel weniger kämpfen muss als ihre
       Freunde, verschweigt Olga Bach nicht.
       
       Irinas Freund Gabriel liest ihr die Leviten, nachdem sie ihn in Istanbul
       betrogen hat, während er im Lockdown als Arzt im Krankenhaus schuftete:
       „Wenn die Welt untergeht, wirst du in das Raumschiff steigen und dich mit
       wenigen anderen in Sicherheit bringen. Du bist Marie-Antoinette.“ Weil Olga
       Bach ihren Millenial-Roman auf diese Klassenanalyse hin zuspitzt, widerlegt
       Irina nicht nur Marias Vorwurf. Sie kann am Ende auch wieder mit den beiden
       Freunden in die Berliner Nacht ziehen.
       
       19 Oct 2023
       
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