# taz.de -- Offener Brief jüdischer Intellektueller: Sie verharmlosen Antisemitismus
       
       > Über 100 in Deutschland beheimatete jüdische Intellektuelle haben die
       > Verbote propalästinensischer Demonstrationen kritisiert. Eine Erwiderung
       > unserer Autorin.
       
 (IMG) Bild: Mahnwache nach versuchtem Brandanschlag auf eine jüdische Gemeinde in Berlin am 20.10.2023
       
       In einem am 22. Oktober in der taz [1][veröffentlichten offenen Brief]
       appellieren über 100 in Deutschland lebende jüdische Künstler:innen,
       Schriftsteller:innen und Wissenschaftler:innen für
       Meinungsfreiheit und fordern, Proteste von Palästinenser:innen und
       ihren Unterstützer:innen zu erlauben. Während die Forderung, das
       Versammlungsrecht für alle gelten zu lassen, berechtigt ist, scheinen die
       Unterzeichnenden die Realität vieler Proteste schlicht zu verleugnen. Sie
       verharmlosen damit Antisemitismus und verhöhnen dessen Opfer.
       
       Mahnwachen und Proteste sind – sofern sie friedlich verlaufen – im
       Grundgesetz verbrieft und gehören damit zur freiheitlichen demokratischen
       Grundordnung. Gedenkveranstaltungen für die israelischen Opfer der Hamas
       kommen weltweit ohne antimuslimische Hetze aus. Während die Verhaftung
       friedlich Demonstrierender und wahllose Repressionen unabhängig vom Anlass
       des Protests aufs Schärfste zu verurteilen sind, geht die Behauptung der
       Unterzeichnenden, es gäbe „keine glaubwürdige Verteidigung“ für aktuelle
       Versammlungsverbote völlig an der Realität vorbei.
       
       Bei ähnlichen Kundgebungen, sei es nun in New York, London oder Sydney
       („gas the Jews“), waren immer wieder antisemitische Parolen zu hören.
       Weltweit gibt es eine Explosion antisemitischer Delikte. Auch bei Protesten
       in Deutschland ist nicht erst seit dem 7. Oktober Sympathie für die Hamas
       und antisemitische Hetze zu vernehmen. Wurden antisemitische Vorfälle auf
       Protesten gegen Israel hierzulande bislang meist geduldet, sollen –
       angesichts des größten Massakers an Juden nach 1945 – derzeitige Verbote
       Vergleichbares verhindern.
       
       Perfide kehren die Unterzeichnenden das Ganze jedoch um. Sie
       instrumentalisieren die Gefahr einer Wiederholung der deutschen Geschichte
       und behaupten, das Problem bestehe nicht in antisemitischen Vorfällen,
       sondern im Versammlungsverbot. Klar ist: Das Versammlungsverbot darf
       niemals diejenigen treffen, die ihre Ansichten friedlich kundtun wollen.
       
       ## Auch Kulturschaffende in Israel kritisieren die Regierung
       
       Gewaltlose Proteste sind aber kaum zu erwarten, wenn Aufrufe titeln: „Wir
       werden Neukölln zu Gaza machen. Zündet alles an.“ Den Unterzeichnenden sind
       mögliche Beweggründe für zu beklagende [2][antisemitische Straftaten] wie
       den Brandanschlag auf eine Synagoge oder das Markieren von Wohnorten
       jüdischer Menschen mit Davidsternen allerdings „unbekannt“. Wer die
       Gleichsetzung von „jeglicher Kritik“ an Israel mit Antisemitismus
       zurückweist, wird noch lange über die Ursache des derzeitigen Anstiegs
       antisemitischer Taten grübeln.
       
       Sicherlich ist es grundsätzlich möglich, die Gräueltaten der Hamas zu
       verurteilen und auch Israel zu kritisieren. Viele Kulturschaffende in
       Israel und auch viele der Unterzeichnenden sind seit Jahren vehemente
       Kritiker:innen der dortigen Regierung und prangern zurecht Missstände
       an. Nicht selten jedoch erweckten die reflexartigen Erwiderungen auf die
       brutalen Morde des 07. Oktober, die häufig mit Verweisen auf die
       israelischen „Besatzer“ gespickt waren und ein Selbstverschulden
       suggerierten, den Eindruck, hier würden Morde legitimiert und die
       Motivation der Mörder rationalisiert.
       
       Auffällig, aber nicht gerade verwunderlich ist, dass sich unter den
       Unterzeichnenden kaum post-sowjetische oder Nachkommen post-sowjetischer
       Jüdinnen und Juden finden, die jedoch einen Großteil der jüdischen
       Bevölkerung Deutschlands ausmachen.
       
       ## Viele Israelis sind nach Deutschland ausgewandert
       
       Die Kontingentflüchtlinge ließen zwischen 1990 und 2003 die jüdischen
       Gemeinden hierzulande um ein Dreifaches anwachsen. Sie und ihre Nachfahren
       haben die Renaissance jüdischen Lebens in Deutschland überhaupt erst
       ermöglicht, sie nachhaltig geprägt und damit dazu beigetragen, dass seit
       2010 unter anderem auch immer mehr Israelis nach Deutschland ausgewandert
       sind.
       
       Viele der Unterzeichnenden sind Expats, die ihre Heimatländer nicht aus Not
       verlassen haben, sondern um in Deutschland zu arbeiten. Mag sein, dass sie
       sich aufgrund des Privilegs, nicht vor Antisemitismus geflohen zu sein, a
       priori als Unterdrücker sehen und in vorauseilender Selbstkritik die Seite
       der vermeintlich Unterdrückten ergreifen.
       
       Ihre Äußerungen zeugen von einer Lebensrealität, die mit der eines
       Großteils postsowjetisch-deutscher Jüdinnen und Juden jedoch wenig zu tun
       hat. Ihre Haltung, nach der Israelkritik nichts mit Antisemitismus zu tun
       hat, ist nicht repräsentativ. [3][Marginalisiert ist sie dennoch nicht,
       bisweilen ist sie so willkommen] – man erinnere sich an die Causa Wolff –
       dass sie über jeden Zweifel erhaben ist.
       
       Dass man für den Brief das wohl bekannteste und mittlerweile doch recht
       abgedroschene Zitat von Rosa Luxemburg, „Freiheit ist immer die Freiheit
       der Andersdenken“, gebraucht, zeugt nicht bloß von der Banalität dessen,
       was sich als Argument geriert.
       
       ## Trauer sollte friedlich kundgetan werden
       
       Luxemburg, die beim Anblick eines ausgepeitschten Büffels ihre Tränen nicht
       zurückhalten konnte über das Leid des „liebsten Bruder[s]“, ist wohl kaum
       eine gute Kronzeugin für Menschen, von denen es einigen offensichtlich
       schwerfiel, die auf brutalste Weise ermordeten Jüdinnen und Juden ebenso
       unmissverständlich und ohne reflexartige Relativierungen zu betrauern wie
       die Toten auf palästinensischer Seite. Von der Disproportionalität der
       Trauer zeugt auch, dass die israelischen Geiseln in dem Brief mit keinem
       Wort erwähnt werden.
       
       Es bleibt zu hoffen, dass in Deutschland Trauer um palästinensische Opfer
       friedlich kundgetan werden kann – und auch, dass die Trauernden dabei in
       Zukunft nicht des Zuspruchs privilegierter jüdischer Intellektueller
       bedürfen.
       
       * Anmerkung der Redaktion: Eine stark gekürzte Version dieses Briefes wird
       in der Printversion der taz gedruckt.
       
       26 Oct 2023
       
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       ## AUTOREN
       
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