# taz.de -- Offener Brief jüdischer Intellektueller: Die Freiheit der Andersdenkenden
       
       > Über 100 in Deutschland beheimatete jüdische Künstler:innen,
       > Schriftsteller:innen und Wissenschaftler:innen unterzeichnen
       > diesen offenen Brief. Sie appellieren für Frieden und Meinungsfreiheit.
       
 (IMG) Bild: Demonstran:innen an einer Kundgebung in Berlin-Kreuzberg am 21. Oktober
       
       Eine englische Version des Briefs [1][ist bei n+1 erschienen].
       
       Wir, die unterzeichnenden jüdischen Künstler, Schriftsteller und
       Wissenschaftler, die in Deutschland leben, verurteilen in diesem Schreiben
       das beunruhigende Vorgehen gegen die demokratische Öffentlichkeit nach den
       schrecklichen Gewalttaten in Israel und Palästina in diesem Monat.
       
       Es gibt keine Rechtfertigung für vorsätzliche Angriffe auf Zivilisten durch
       die Hamas. Wir verurteilen vorbehaltlos die terroristischen Angriffe auf
       Zivilisten in Israel. Viele von uns haben Familie und Freunde in Israel,
       die von dieser Gewalt direkt betroffen sind. Mit gleicher Schärfe
       verurteilen wir die Tötung von Zivilisten in Gaza.
       
       In den letzten Wochen haben Landes- und Stadtregierungen in ganz
       Deutschland öffentliche Versammlungen mit mutmaßlichen Sympathien für
       Palästinenser verboten. Diese Repressionen bestrafen auch Demonstrationen
       wie „Jugend gegen Rassismus“ und „Jüdische Berliner*innen gegen Gewalt
       in Nahost“. In einem besonders absurden Fall wurde eine jüdische Israelin
       festgenommen, weil sie ein Schild in der Hand hielt, auf dem sie den Krieg,
       den ihr Land führt, anprangerte.
       
       Die Polizei hat keine glaubwürdige Verteidigung für diese Entscheidungen
       geliefert. Praktisch alle Absagen, einschließlich derjenigen, die von
       jüdischen Gruppen organisierte Versammlungen verbieten, wurden von der
       Polizei zum Teil mit der „unmittelbaren Gefahr“ von „volksverhetzenden,
       antisemitischen Ausrufen“ begründet. Diese Behauptungen dienen unserer
       Meinung nach dazu, legitime und gewaltfreie politische Äußerungen, die auch
       Kritik an Israel beinhalten dürfen, zu unterdrücken.
       
       ## Rassistische Vorverurteilungen
       
       Versuche, sich diesen willkürlichen Einschränkungen zu widersetzen, werden
       mit wahlloser Brutalität beantwortet. Die Behörden haben Menschen mit
       Migrationshintergrund in ganz Deutschland ins Visier genommen und
       Zivilisten belästigt, verhaftet und verprügelt, oft unter den
       fadenscheinigsten Vorwänden.
       
       In Berlin ist der Bezirk Neukölln, in dem große türkische und arabische
       Gemeinschaften leben, heute ein von der Polizei besetztes Viertel.
       Gepanzerte Lieferwagen und bewaffnete Bereitschaftspolizisten
       patrouillieren durch die Straßen und suchen nach spontanen
       Unterstützungsbekundungen für die Palästinenser oder nach Symbolen der
       palästinensischen Identität. Fußgänger werden auf dem Bürgersteig
       angerempelt und mit Pfefferspray attackiert. Kinder werden rücksichtslos
       angegriffen und verhaftet. Zu den Festgenommenen gehören bekannte syrische
       und palästinensische Aktivisten.
       
       In den Schulen sind palästinensische Flaggen und Keffiyeh verboten. Obwohl
       der Besitz dieser Gegenstände in der Öffentlichkeit gesetzlich erlaubt ist,
       führt er zu Polizeigewalt und Verhaftungen. Anfang dieses Jahres gaben
       Berliner Polizeibeamte vor Gericht zu, dass sie bei der Niederschlagung von
       Protesten gegen Zivilisten vorgegangen sind, die dadurch „auffielen, dass
       sie Farben der palästinensischen Flagge trugen oder Schals, die mit der
       palästinensischen Solidarität in Verbindung gebracht werden.“ Eine Vielzahl
       von Filmaufnahmen deutet darauf hin, dass dies nach wie vor der Fall ist
       und dass rassistische Vorverurteilungen bei der gezielten Verfolgung von
       Verdächtigen eine wichtige Rolle spielt.
       
       Diese Verstöße gegen die Bürgerrechte rufen bei den kulturellen Eliten in
       Deutschland kaum einen Aufschrei hervor. Große Kultureinrichtungen haben
       sich wie synchronisiert selbst zum Schweigen gebracht, indem sie
       Theaterstücke, die sich mit dem Konflikt befassen, abgesagt haben und
       Persönlichkeiten, die Israels Aktionen kritisch gegenüberstehen könnten –
       oder die einfach selbst Palästinenser sind –, das Rederecht entzogen wurde.
       Diese freiwillige Selbstzensur hat ein Klima der Angst, der Wut und des
       Schweigens geschaffen. All dies geschieht unter dem Vorwand, Juden zu
       schützen und den Staat Israel zu unterstützen.
       
       ## Als Jüdinnen und Juden lehnen wir diese Gewalt ab
       
       Als Jüdinnen und Juden lehnen wir diesen Vorwand für rassistische Gewalt ab
       und bekunden unsere volle Solidarität mit unseren arabischen, muslimischen
       und insbesondere palästinensischen Nachbarn. Wir weigern uns, in
       vorurteilsbehafteter Angst zu leben. Was uns Angst macht, ist die in
       Deutschland vorherrschende Atmosphäre von Rassismus und
       Fremdenfeindlichkeit, die Hand in Hand mit einem zwanghaften und
       paternalistischen Philo-Semitismus geht. Wir lehnen insbesondere die
       Gleichsetzung von Antisemitismus und jeglicher Kritik am Staat Israel ab.
       
       Zur gleichen Zeit, in der die meisten Formen des gewaltlosen Widerstands
       für den Gazastreifen unterdrückt werden, finden auch antisemitische
       Gewalttaten und Einschüchterungen statt: ein Molotowcocktail, der auf eine
       Synagoge geworfen wurde; Davidsterne, die auf die Türen jüdischer Häuser
       gezeichnet wurden. Die Beweggründe für diese nicht zu rechtfertigenden
       antisemitischen Straftaten und ihre Täter bleiben unbekannt.
       
       ## Juden bereits eine gefährdete Minderheit
       
       Klar ist jedoch: Es macht Juden nicht sicherer, wenn Deutschland das Recht
       auf öffentliche Trauerbekundung um verlorene Menschenleben in Gaza
       verweigert.
       
       Juden sind bereits eine gefährdete Minderheit; einige Israelis berichten,
       dass sie Angst haben, auf der Straße Hebräisch zu sprechen.
       Demonstrationsverbote und ihre gewaltsame Durchsetzung provozieren und
       eskalieren nur die Gewalt.
       
       Wir prangern an, dass die gefühlte Bedrohung durch solche Versammlungen die
       tatsächliche Bedrohung des jüdischen Lebens in Deutschland grob ins
       Gegenteil verkehrt, wo nach Angaben der Bundespolizei die „überwiegende
       Mehrheit“ der antisemitischen Straftaten – etwa 84 Prozent – von deutschen
       extremen Rechten begangen wird. Die Versammlungsverbote sollen ein Versuch
       sein, die deutsche Geschichte aufzuarbeiten, doch vielmehr besteht die
       Gefahr, dass man sie genau dadurch wiederholt.
       
       ## Freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit
       
       Dissens ist eine Voraussetzung für jede freie und demokratische
       Gesellschaft. Freiheit, schrieb Rosa Luxemburg, „ist immer Freiheit der
       Andersdenkenden“. Wir befürchten, dass mit der derzeitigen Unterdrückung
       der freien Meinungsäußerung die Atmosphäre in Deutschland gefährlicher
       geworden ist – für Juden und Muslime gleichermaßen – als jemals zuvor in
       der jüngeren Geschichte des Landes. Wir verurteilen diese in unserem Namen
       begangenen Taten.
       
       Wir fordern Deutschland auf, sich an seine eigenen Verpflichtungen zur
       freien Meinungsäußerung und zum Versammlungsrecht zu halten, wie sie im
       Grundgesetz verankert sind, das wie folgt beginnt: „Die Würde des Menschen
       ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller
       staatlichen Gewalt.“
       
       Die Unterzeichnenden: 
       
       Yoav Admoni, Künstler
       
       Abigail Akavia
       
       Hila Amit, Schriftstellerin und Lehrerin
       
       Maja Avnat, Wissenschaftlerin
       
       Lyu Azbel, Professor
       
       Gilad Baram, Filmemacher und Fotograf
       
       Yossi Bartal
       
       Alice Bayandin, Fotografin und Filmemacherin
       
       Eliana Ben-David
       
       Anna Berlin, Künstlerin
       
       Sanders Isaac Bernstein, Schriftsteller
       
       Adam Berry, Fotojournalist und TV-Nachrichtenproduzent
       
       Jackson Beyda, Künstler
       
       Julia Bosson, Schriftstellerin
       
       Ethan Braun, Komponist
       
       Candice Breitz, Künstlerin
       
       Adam Broomberg, Künstler
       
       Jeffrey Arlo Braun
       
       Noam Brusilovsky, Theater- und Radiomacher
       
       Cristina Burack
       
       Dalia Castel, Filmemacherin
       
       Alexander Theodore Moshe Cocotas, Schriftsteller und Fotograf
       
       Eli Cohen, Tänzer
       
       Zoe Cooper, Schriftstellerin
       
       Miriam Maimouni Dayan, Schriftstellerin und Künstlerin
       
       Dana Dimant, Filmemacherin
       
       Emily Dische-Becker
       
       Esther Dischereit, Schriftstellerin
       
       Tomer Dotan-Dreyfus, Schriftsteller
       
       Shelley Etkin, Künstlerin
       
       Emet Ezell
       
       Deborah Feldman, Schriftstellerin
       
       Sylvia Finzi
       
       Erica Fischer, Schriftstellerin
       
       Nimrod Flaschenberg
       
       Ruth Fruchtman, Schriftstellerin
       
       Olivia Giovetti, Schriftstellerin und Kulturkritikerin
       
       Harry Glass, Kurator
       
       William Noah Glucroft
       
       A.J. Goldmann, Schriftsteller und Fotograf
       
       Jason Goldmann
       
       Noam Gorbat, Filmemacher
       
       Avery Gosfield
       
       Max Haiven, Professor
       
       Yara Haskiel, Künstlerin
       
       Iris Hefets, Psychoanalytikerin und Autorin
       
       Marc Herbst
       
       Wieland Hoban, Komponist und Übersetzer
       
       Sam Hunter, Schriftsteller/Regisseur
       
       Alma Itzhaky, Künstlerin und Schriftstellerin
       
       Eliana Pliskin Jacobs
       
       Eugene Jarecki
       
       Roni Katz, Choreographin und Tänzerin
       
       Marett Katalin Klahn
       
       Michaela Kobsa-Mark, Dokumentarfilmerin
       
       David Krippendorff, Künstler
       
       Quill R. Kukla, Philosoph
       
       Sara Krumminga
       
       Jenna Krumminga, Schriftstellerin und Historikerin
       
       Matt Lambert, Künstler
       
       Na'ama Landau, Filmemacherin
       
       Elad Lapidot, Professor
       
       Danny Lash, Musiker
       
       Shai Levy, Filmemacher und Fotograf
       
       Eliza Levinson, Journalistin und Schriftstellerin
       
       Rapha Linden, Schriftsteller
       
       Adi Liraz, Künstler
       
       Anna Lublina
       
       Sasha Lurje
       
       Roni Mann, Professor
       
       Ben Mauk, Schriftsteller
       
       Lee Méir, Choreograph
       
       Dovrat Meron
       
       Aaron Miller, Wissenschaftler und Künstler
       
       Ben Miller
       
       Carolyn Mimran
       
       Shana Minkin, Wissenschaftlerin
       
       Susan Neiman, Philosophin
       
       Gilad Nir, Philosoph
       
       Ben Osborn, Musiker und Schriftsteller
       
       Rachel Pafe, Schriftstellerin und Forscherin
       
       Peaches, Musiker*in
       
       Siena Powers, Künstlerin und Schriftstellerin
       
       Udi Raz
       
       Aurelie Richards, Kunstvermittlerin
       
       Kari Leigh Rosenfeld
       
       Liz Rosenfeld
       
       Ryan Ruby, Schriftsteller
       
       Rebecca Rukeyser, Schriftstellerin
       
       Alon Sahar
       
       Tamara Saphir
       
       Eran Schaerf
       
       Anne Schechner
       
       Oded Schechter, Wissenschaftler
       
       Jake Schneider
       
       Ali Schwartz
       
       Cari Sekendur, Designerin
       
       Yael Sela (Teichler), Historikerin
       
       Mati Shemoelof, Dichter und Schriftsteller
       
       Maya Steinberg, Filmemacherin
       
       Robert Yerachmiel Sniderman, Dichter und Künstler
       
       Avinoam J. Stillman
       
       Virgil B/G Taylor
       
       Tanya Ury, Künstlerin und Schriftstellerin
       
       Ian Waelder, Künstler und Verleger
       
       Rachel Wells, Performerin und Produzentin
       
       Sarah Woolf
       
       Yehudit Yinhar
       
       Sivan Ben Yishai, Schriftsteller
       
       Dafna Zalonis, Künstlerin
       
       * Anmerkung der Redaktion: Eine kürzere Version dieses Briefes wird in der
       Printversion der taz gedruckt.
       
       22 Oct 2023
       
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