# taz.de -- Jüdische Gemeinden in Großbritannien: Zerbrochene Hoffnungen
       
       > Auf der Pro-Palästina-Demo in London wurde auch zur Zerstörung Israels
       > aufgerufen. Wie sicher fühlen sich in Großbritannien lebende jüdische
       > Menschen?
       
 (IMG) Bild: Auch anti-israelische Parolen wurden skandiert: Pro-Palästina-Demo am Samstag in London
       
       LONDON taz | Eine Kerze wird entzündet, dann sprechen Familienangehörige
       von Menschen, die beim Überfall der Hamas auf Israel ermordet oder entführt
       wurden. Anschließend werden Lieder vorgetragen und Gebete.
       Trauerveranstaltungen wie diese prägen aktuell das Leben vieler jüdischer
       Menschen in Großbritannien. Die jüngste Zusammenkunft im JW3, einem
       jüdischen Kulturzentrum im Norden Londons, war bislang eine der größten.
       Sie wurde von mehreren jüdischen Organisationen veranstaltet. Einer, der
       hier einige der Gebete leitete, ist Rabbiner Jeremy Gordon.
       
       Gordon ist unermüdlich unterwegs seit dem 7. Oktober, dem Tag des
       Hamas-Angriffs auf Israel. Er sprach vor gut einer Woche bei einer
       Mahnwache am Londoner Parliament Square vor mehr als 2000 Menschen. Davor
       hatte Gordon an einem gemeinsamen Gottesdienst mehrerer Londoner Synagogen
       teilgenommen und vor der muslimischen Gemeinde der Regent Park Moschee
       gesprochen, einer der größten Moscheen Londons. In seiner eigenen jüdischen
       Gemeinde muss er sich vor allem mit dem Schicksal Ada Sagis
       auseinandersetzen, der Mutter eines Gemeindemitglieds. Die ehemalige
       Arabischlehrerin aus dem Kibbuz Nir Oz wurde als Geisel nach Gaza
       verschleppt.
       
       „Jüdische Brit:innen erleben gerade ein hohes Maß an Trauer und Schmerz“,
       sagt Gordon. „Für manche sind bisherige Hoffnungen zerbrochen, etwa die,
       dass es [1][eine friedliche Lösung mit der Hamas] in Gaza geben könnte oder
       dass die Grenzen Israels sicher seien.“ Dabei würden, nach Beobachtung des
       Rabbiners, die meisten Trauernden sehr wohl differenzieren: zwischen den
       palästinensischen Terroristen und muslimischen Menschen insgesamt.
       
       280.000 Jüd:innen leben in Großbritannien, etwa 0,5 Prozent der
       Gesamtbevölkerung. Mehr als die Hälfte von ihnen lebt in London – dort
       also, wo an diesem Wochenende bis zu 100.000 Menschen zum Zeichen ihrer
       Solidarität mit Palästinenser:innen auf die Straße gegangen sind. Die
       Demonstration am Samstag verlief größtenteils friedlich, nur wurde
       durchgehend etwa die Parole „Vom Fluss bis zum Meer, Palästina wird frei
       sein“ skandiert – die weithin als Aufruf zur Auslöschung Israels gilt.
       
       ## Gemeindemitglieder meiden Synagogenbesuch – aus Angst
       
       Zudem wurden Plakate hochgehalten, auf denen Israel mit dem Dritten Reich
       verglichen wird und solche, auf denen ein Ende Israels und die Befreiung
       Palästinas gefordert wird. Bei einer Nebenveranstaltung der salafistischen
       Gruppe Hizb ut-Tahrir war vom „Konzentrationslager Palästina“ die Rede,
       Transpi forderten „muslimische Armeen“ auf, Palästina zu retten. Die
       Metropolitan Police nahm zehn Personen fest, fünf Beamt:innen wurden
       leicht verletzt.
       
       Rabbiner Jeremy Gordon erlebt seit dem 7. Oktober große Unterschiede bei
       den Reaktionen im Land. Er lobt Solidaritätsbekundungen führender
       Gemeindevertreter:innen und von Politiker:innen wie Premier
       Rishi Sunak oder Labour-Chef Keir Starmer. Auf der anderen Seite sind da
       die Reaktionen der palästinensischen Seite: Da würden manche mit
       antisemitischen Äußerungen geradezu um sich werfen. „Ich verstehe, dass
       Palästinenser:innen auf eine Kundgebung gehen wollen, wo über
       Menschenrechte und Verhältnismäßigkeit gesprochen wird“, sagt Gordon.
       
       Dann verweist er aber auf eine frühere Kundgebungen, nur zwei Tage nach dem
       Hamas-Überfall, als vor der israelischen Botschaft die Mordtaten gefeiert
       wurden, beklagt er. Er bezieht er sich auf Berichte, dass
       Teilnehmer:innen der Demo getanzt und Fahnen geschwenkt hätten.
       Zahlreiche Gemeindemitglieder mieden seither aus Angst den Besuch der
       Synagoge, sagt der Rabbiner – auch wenn Polizei und Sicherheitsdienste für
       Schutz sorgen.
       
       Orit Eyal-Fibeesh gehört zu den in Großbritannien lebenden Israelis, die in
       der vergangenen Woche eine Trauerveranstaltung am Parliament Square
       mitorganisierten. Die Geschäftsführerin eines Logistikunternehmens lebt
       seit 20 Jahren in London, wie sie der taz erzählt. „We are not OK!“, war
       ihre zentrale Aussage vor den Mittrauernden. Sie führte aus, dass das
       mehrere Gründe habe, nennt Netanjahus Justizreform und seine ultrarechte
       Regierung, die unzureichende Reaktion der israelischen Streitkräfte auf die
       Attacken der Hamas, aber auch die schrecklichen Terrorangriffe selbst. „Es
       gibt mir ein Gefühl der Verzweiflung und Hilflosigkeit“, sagt Eyal-Fibeesh.
       
       Sie und andere, weit entfernt von ihren Freund:innen und Familien in
       Israel, seien nun von morgens bis abends mit Initiativen beschäftigt, um
       irgendwie zu helfen – etwa mit Spendensammlungen für die Opfer. Für diesen
       Sonntag planten jüdische Organisationen, darunter der jüdische Dachverband
       Board of Deputies Demos am Londoner Trafalgar Square und in anderen
       Städten, um die Freilassung [2][der israelischen Geiseln] zu fordern.
       
       Eyal-Fibeesh sagt, dass sie, wenn sie in London unterwegs sei,
       sicherheitshalber nicht mehr Hebräisch spreche. Aber auch ohne sich durch
       die Sprache als Jüdin erkennen zu geben, sei es schon zu persönlichen
       Konfrontationen gekommen: Sie berichtet davon, wie sie Plakate aufhängte,
       mit Bildern der israelischen Geiseln und der Forderung, diese freizulassen.
       Sie und ihre Begleitung sei dabei von einer Gruppe muslimischer Passanten
       angepöbelt worden, die versuchten, die Poster wieder abzureißen.
       
       Die jüdische Organisation CAA berichtet derweil, sie sei von der Londoner
       Polizei aufgefordert worden, eine Leuchtreklame auf zwei Kleinlastern
       abzuschalten, auf denen ebenfalls Bilder von Geiseln gezeigt wurden.
       Angeblich hätten sich die Wagen in der Nähe einer pro-palästinensischen
       Mahnwache befunden. Laut CAA-Direktor Gideon Falte wurde die Anweisung mit
       dem Schutz der Fahrer vor möglichen Angriffen begründet – die Organisation
       sieht sich jedoch diskriminiert.
       
       ## BBC lenkt ein
       
       Für zwei jüdische BBC-Journalist:innen war das Maß schon früher voll. Sie
       verurteilten die Weigerung der Rundfunkanstalt, die Hamas in ihrer
       Berichterstattung als terroristische Organisation einzustufen – und
       kündigten. „Ich kann den Sprachgebrauch der BBC, was diesen Krieg betrifft,
       nicht länger für richtig erklären“, erzählt einer der beiden, der
       Fußballmoderator Noah Abrahams, der taz. „Der wichtigste und
       einflussreichste Sender der Welt sieht eine terroristische Organisation als
       Freiheitskämpfer oder militante Bewegung“, beklagt er. Unterstützung
       erhielt er vom Board of Deputies. Schließlich lenkte die BBC am vergangenen
       Donnerstag ein, spricht nun bei der Hamas von einer „in Großbritannien und
       anderen Staaten als terroristisch eingestuften Organisation“.
       
       Laut der Organisation CST, die Sicherheitsvorkehrungen jüdischer
       Einrichtungen koordiniert, ist die Zahl der Angriffe auf jüdische Menschen
       in der Zeit zwischen dem 7. und 16. Oktober um 581 Prozent höher als im
       gleichen Zeitraum im Vorjahr. Zu den gemeldeten Fällen gehörten in dem
       Zeitraum 15 gewalttätige Angriffe, 14 Zerstörungen oder Schändungen
       jüdischen Eigentums und 46 direkte Drohungen, wie Aufrufe zur Ermordung von
       Jüdinnen und Juden. Die Londoner Polizei verbuchte zwischen dem 1. und 18.
       Oktober sogar einen 1350-prozentigen Anstieg an antisemitischen Vorfällen
       im Gleichsetzung zum Vorjahr. Auch die Zahl der islamophoben Vorfälle sei
       gestiegen, um 140 Prozent.
       
       Rabbiner Gordon ist weiterhin ununterbrochen im Einsatz. Am Samstag leitete
       er etwa die Batmitzwa einer jungen Israelin in der Synagoge, deren Feier
       und allererste öffentliche Vorlesung aus der Thora eigentlich in Tel Aviv
       geplant war. Sie wurde wegen der Lage dort nach London verlegt.
       
       Zwei Wochen nach dem Attentat nennt Gordon in einem Brief an seine Gemeinde
       die Freilassung der Geiseln als oberste Priorität. Gleichzeitig schreibt
       er, in voller Anerkennung der Brutalität der Hamas, von seiner Sorge über
       die Zukunft, zu der auch das Schicksal palästinensischer Zivilisten gehöre.
       Doch er habe sich in den letzten Tagen gegen moralische Vergleiche mancher
       Vertreter:innen und Organisationen gewehrt, die die Opfer der
       Terrorakte der Hamas mit den Opfern der Aktionen der israelischen
       Streitkräfte verglichen hätten.
       
       Die Taten einer Terrorgruppe, die mordete, brutal misshandelte,
       vergewaltigten und sogar neun Monate alte Kinder kidnappte, seien nicht das
       Gleiche, so der Rabbiner weiter. Dann zitiert er Israels frühere
       Premierministerin Golda Meir: „Wenn die Araber die Waffen niederlegen, wird
       Frieden herrschen. Wenn wir die Waffen niederlegen, werden wir nicht länger
       existieren.“
       
       Zugleich betont der Rabbiner in seinem Brief, dass jene, die Israel
       liebten, eins nie vergessen dürften: Das Ziel müsse die beiderseitige
       Sicherheit sein, im Physischen wie im Emotionalen. „Ich fordere uns alle
       auf, dieses Ziel in unseren Herzen zu behalten.“
       
       22 Oct 2023
       
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