# taz.de -- Linker Antisemitismus: Linke ohne Leitplanken
       
       > Viele postkoloniale Linke weltweit stellen sich auf die Seite der
       > Palästinenser. Manche verharmlosen oder bejubeln dabei den Terror. In
       > Deutschland ist die linke Szene zerrissen.
       
 (IMG) Bild: 21. Oktober Oranienstraße
       
       Die Rote Flora im Hamburger Schanzenviertel kommentiert das Weltgeschehen
       gern mit großformatigen Parolen an ihrer Fassade. Nach dem
       [1][Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober] drückte das linke Zentrum so
       auch seine Solidarität mit Jüd:innen weltweit aus: „Killing Jews is not
       fighting for freedom“ stand dort geschrieben, in großen schwarzen Lettern
       auf weißem Grund, und kleiner: „Wir sind solidarisch mit allen Menschen in
       Israel und allen Juden und Jüdinnen auf der Welt.“ Eine Absage an linke
       Verklärung der Hamas-Morde als Befreiungskampf.
       
       Immer wieder hatte die Hamburger Polizei in der Vergangenheit Statements an
       der Flora-Wand übermalt, weil ihr die Botschaften nicht passten. In der
       Nacht zum Donnerstag vergangener Woche aber waren andere am Werk:
       Unbekannte ändern den Schriftzug per Sprühdose und Überklebungen in:
       „Killing humans is not fighting for freedom“. Die Solidaritätsadresse wurde
       erweitert um die Palästinenser:innen, die im neuen Nahost-Krieg sterben.
       Später wurden die Wörter „Jüdinnen und Juden“ ganz getilgt.
       
       Der Plakat-Streit in Hamburg steht beispielhaft für die Zerrissenheit der
       Linken. Eine Debatte ist wieder aufgebrochen, die die Szene in Deutschland
       schon nach dem Anschlag auf das World Trade Center 2001 gespalten hatte.
       Damals war die Auseinandersetzung mehr als nur ein Streit zwischen
       antiimperialistisch Denkenden – die sich dem Globalen Süden verpflichtet
       fühlen – und Antideutschen, für die [2][die Schoah zentraler Bezugspunkt
       ist und die Israel deshalb besondere Solidarität entgegenbringen]. Und sie
       weitete sich auf die gesamte linke Szene aus.
       
       Heute ist sie noch unübersichtlicher. Häufig geprägt von den Postcolonial
       Studies, gibt es viele, die der Meinung sind, es stehe ihnen nicht zu,
       darüber zu urteilen, auf welche Weise andere Widerstand leisteten – das
       sagte die schwarze US-Aktivistin Aja Monet. Auf Instagram, Twitter,
       Facebook und Tiktok bejubeln manche Linke den Hamas-Terror – oder wollen
       ihn nicht verurteilen, wie etwa der griechische Ex-Finanzminister Yanis
       Varoufakis: Wer versuche, ihm eine Verurteilung der Hamas-Guerilla zu
       entlocken, „wird sie nie bekommen“, schrieb er. Das Problem sei die
       „Apartheid, die die Gewalt hervorruft“, so Varoufakis.
       
       Und dann gibt es jene Linken, für die – mit Blick auf die Geschichte –,
       klar ist: „We stand with Israel“.
       
       Dieser Streit zeigt sich seit dem 7. Oktober im gesamten Westen. Allerdings
       nicht als innerlinke Diskussion. Denn Solidarität mit Israel von
       nichtjüdischen Linken ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ein Phänomen im
       deutschsprachigen Raum. International hingegen stellen sich linke
       Aktivist:innen, progressive Akademiker:innen und postkolonial Denkende
       im Kunstbetrieb meist an die Seite der Palästinenser:innen. Und bei einigen
       endet dies in einer [3][Glorifizierung der Gräueltaten der Hamas].
       
       Als der israelisch-deutsche Comedian Shahak Shapira wenige Tage [4][nach
       dem Hamas-Anschlag eine „Special Show“] aufführt, listet er zu Beginn Dinge
       auf, auf die sich alle einigen sollten: „Palästinenser:innen sind nicht die
       Hamas. Muslime keine Terroristen. Israelis sind nicht die israelische
       Regierung. Juden sind keine White Supremacists. Die Hamas ist eine
       Terrororganisation. Sie steht dem Frieden im Weg. Siedlungen sind schlecht
       und stehen dem Frieden im Weg.“
       
       Derartige Leitplanken finden sich selten in aktuellen linken Debatten.
       Shapira ist Enkel eines Holocaust-Überlebenden, wuchs die erste Hälfte
       seines Lebens in einer israelischen Siedlung im Westjordanland auf, die
       andere Hälfte in Sachsen-Anhalt. Dort wurde er von Neonazis angegriffen.
       
       „Ich habe mich in den letzten Tagen von einigen Menschen entfernt, die sich
       als links bezeichnen würden“, sagt Shapira der wochentaz. Er verstehe
       nicht, wieso so unverblümt von einem „Genozid“ an den Palästinensern
       gesprochen werde. „Werden Palästinenser unterdrückt? Absolut. Nicht nur von
       Israel. Werden sie systematisch ermordet, mit der Absicht, sie zu
       vernichten? Nein.“ In den meisten Fällen folge dem Genozid-Vorwurf ein
       Holocaustvergleich. „Juden sind dann plötzlich Neonazis“, so Shapira. Damit
       würde dann auch die Gewalt legitimiert. In eine ähnliche Richtung geht es
       für ihn, wenn junge Deutsche „Free Palestine from German guilt“ rufen, wie
       es kürzlich auf einer Mahnwache vor dem Auswärtigen Amt in Berlin zu hören
       war. Sie würden sich des moralischen Kompasses entledigen wollen, der nach
       der Schoah entstanden sei.
       
       „Da werden Häuser in Berlin mit Davidsternen markiert und mir wird
       vorgeworfen, ein Nazi zu sein“, sagt Shapira. Infam sei der Vorwurf vieler
       Linker, Israel sei im Nahen Osten eine „weiße Siedlerkolonie
       Nichtindigener“: „Viele Israelis haben einen jemenitischen, marokkanischen
       oder arabischen Hintergrund.“ Zu Ende gedacht heiße das, Israel solle nicht
       existieren.
       
       Eine, die die Lage in Gaza einen „Genozid“ nennt, ist [5][die
       deutsch-türkische Journalistin Kübra Gümüşay.] „Yet another genocide,
       happening in front of our eyes“, schrieb die Autorin und einstige
       taz-Kolumnistin auf Instagram. Gümüşay bewegt sich heute vor allem in
       Debatten außerhalb Deutschlands, ist Gastrednerin auf internationalen
       Konferenzen und an Universitäten. Dort ist diese Ansicht weit verbreitet –
       in Deutschland löst sie Kritik aus.
       
       Mit „another“ habe sie sich auf die jüngsten Vertreibungen Aserbaidschans
       im armenischen Bergkarabach bezogen, schreibt Gümüşay auf Anfrage der
       wochentaz. Für die Einstufung des israelischen Vorgehens als „Genozid“ gebe
       es „zahlreiche juristische Analysen international angesehener Institutionen
       und Expert*innen“. Gümüşay stellt das, was die Menschen in Israel erleiden
       mussten, neben das, was die Menschen in Gaza nun erleiden müssen: „Der
       Angriff der Hamas vom 7. Oktober war ein Mord an mehr als tausend Menschen,
       die aus dem Leben gerissen worden sind, weil sie Bürger*innen Israels
       sind. Seit Tagen werden nun Tausende Zivilist*innen aus dem Leben
       gerissen, weil sie in Gaza nicht die Möglichkeit haben, sich vor den
       Bombenangriffen in Schutz zu bringen.“ Darauf hinzuweisen, betone die
       Notwendigkeit der Einhaltung des Völkerrechts, „auch bei
       Verteidigungsangriffen“, so Gümüşay.
       
       Vergangenen Sonntag in Berlin: Über 10.000 Menschen gehen in Solidarität
       mit Israel auf die Straße. Es ist ein breites Bündnis, Redner:innen
       aller demokratischen Parteien sprechen. Blau-weiße Flaggen wehen vor dem
       Brandenburger Tor und fast noch mehr von der iranischen Opposition. Mit
       dabei ist Markus Tervooren. Er ist Geschäftsführer des Berliner VVN-BDA,
       der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Tervooren trägt die Fahne
       seines Verbandes. Selbstverständlich ist das nicht: Der traditionslinke
       VVN-BDA galt lange als nicht israelsolidarisch. „Auch bei uns gehen die
       Diskussionen weiter“, sagt Tervooren. Der 7. Oktober sei ein Einschnitt
       gewesen. Er wisse von vielen Mitgliedern, die danach ihre Solidarität
       demonstrieren wollten. „Wir wurden von Widerstandskämpfern und
       Holocaust-Überlebenden gegründet. Viele haben auch familiäre Verbindungen
       nach Israel.“
       
       Tervooren ärgert sich über einige der linken Reaktionen auf das Massaker
       der Hamas. „Es hätte erst mal darum gehen müssen, den antisemitischen
       Terror zurückweisen, bevor man gleich anfängt, zu erklären, was die
       Israelis vielleicht vorher gemacht haben. Das relativiert das Pogrom“, sagt
       er. Seine Position sei so durchaus nicht überall in seinem Verband
       akzeptiert, sagt Teerhoven.
       
       Auch bei anderen Schwergewichten linker Bewegungstradition gibt es
       Diskussionsbedarf. Die Rote Hilfe hilft seit 1975 unter anderem politischen
       Gefangenen. Der Verein versteht sich als strömungsübergreifend. Am 11.
       Oktober beendete der Rote-Hilfe-Bundesverband die Unterstützung einer
       bereits länger laufenden Kampagne gegen die Ausweisung des Sprechers der
       Gruppe „Samidoun“. Die ging aus der Volksfront zur Befreiung Palästinas
       hervor, ist in Deutschland vor allem in Berlin aktiv und
       marxistisch-leninistisch ausgerichtet. Am 7. Oktober hatten
       Samidoun-Anhänger den Hamas-Anschlag gefeiert und dazu in Neukölln
       Süßigkeiten verteilt. Der Bundesverband der Roten Hilfe schrieb:
       „Selbstverständlich gibt es auch bei uns Grenzen der Solidarität, wenn
       linke Grundprinzipien verletzt werden.“ Und: „Samidoun hat diese eindeutig
       verletzt.“
       
       Die Berliner Ortsgruppe der Roten Hilfe aber stellte klar: Das Spendenkonto
       bleibt. Es sei nie nur für Samidoun gedacht gewesen, sondern „für alle
       Menschen, die auf Grund ihres linken Engagements für ein freies Palästina
       Repression erlitten“. Mit ihnen sei man weiterhin solidarisch. Denn: „Der
       internationalistische Kampf gegen Kolonialismus ist Teil des Kanons linker
       Politik“, so die Rote Hilfe in Berlin. Man verurteile die Bestrebungen,
       Samidoun zu verbieten.
       
       Zur Palästina-Demo am 20. Oktober unter dem Motto „Decolonize. Against
       Oppression globally“ rief unter anderem die Gruppe „Palästina Spricht“ auf.
       „Heute ist ein revolutionärer Tag, auf den wir stolz sein können“ – mit
       diesen Worten hatte die Gruppe den Hamas-Terror kommentiert. Einen Tag
       später verbreitete die Gruppe Bilder mit Gleitschirmfliegern. Hamas-Kämpfer
       waren so unter anderem zu einem Musikfestival gelangt, wo sie 260 Feiernde
       ermordeten.
       
       Am vergangen Samstag sammeln sich Menschen auf dem Berliner Oranienplatz,
       ziehen nach Neukölln. Immer wieder ertönt der Spruch „From the river to the
       sea“. Er steht dafür, dass mit einer „Befreiung“ Palästinas das Gebiet vom
       Jordan bis zum Mittelmeer gemeint ist – es also keinen Platz für einen
       jüdischen Staat Israel geben soll. Schon an der ersten Kreuzung
       beschlagnahmt die Polizei den Lautsprecherwagen.
       
       Eine wichtige, neue Stimme in der Linken sind die Migrantifa-Gruppen. Sie
       entstanden nach [6][dem Anschlag von Hanau im Februar 2020] in einer Reihe
       deutscher Städte, meist aus Aktivist:innen mit migrantischem
       Background. Das unterscheidet sie von den traditionellen Antifa-Gruppen,
       die oft sehr deutsch und weiß sind. Für deren Mitglieder stellte sich
       vielfach die Frage nach familiärer Verstrickung in die Schoah-Täterschaft.
       Nicht nur deshalb fühlen sich häufig Israel verpflichtet. Bei den
       Migrantifa-Gruppen ist das anders – was sich jedoch teils sehr
       unterschiedlich ausdrückt.
       
       Die Migrantifa Rhein-Main etwa bejubelte die Hamas-Attacken: Palästina habe
       sich „verteidigt, indem es die koloniale, militärische Infrastruktur
       Israels erfolgreich angreift“, schreibt die Gruppe. Auch die Berliner
       Migrantifa steht klar auf der Seite der Palästinenser. Doch sie schrieb
       auch: „Wer Synagogen, jüdische Schulen oder Jüd:innen auf der Straße
       angreift, ist ein feiges reaktionäres Schwein und steht nicht auf unserer
       Seite im Kampf gegen Rassismus.“
       
       Während die Rhein-Main-Gruppe eine Interviewanfrage unbeantwortet lässt,
       erklärt sich die Berliner Migrantifa zu einem Gespräch bereit. „Wir sind
       keine Unterstützer der Hamas oder irgendeiner islamistischen Bewegung
       weltweit“, sagt die Sprecherin, eine junge Frau, die sich als Aisha Jamal
       vorstellt. „Der Islamismus ist nichts, was wir befürworten, sein Weltbild
       ist unvereinbar mit unserem. Wir glauben nicht, dass er eine Alternative
       für unsere Gesellschaften im Nahen Osten darstellt.“
       
       Doch Jamal ist wütend darüber, dass die deutsche Öffentlichkeit nur dieses
       Bekenntnis interessiere. „Bevor man hier überhaupt existieren darf als
       rassifizierter Mensch, bevor man irgendwas zum Thema Palästina sagen darf,
       muss man sich von der Hamas distanzieren. Das finden wir falsch.“ Jamal
       nennt das Teil einer „rassistischen Diffamierung. Es ist ein extrem
       belastendes Klima, das gerade herrscht.“
       
       Deutschland nehme dabei eine Sonderstellung ein. Weltweit habe es riesige
       Proteste gegeben, in Paris, in London hätten sich gar 100.000 Menschen
       versammelt. „Das war erlaubt. In Berlin aber war bis zum 20. Oktober jede
       Demo verboten.“ Menschen seien zusammengeprügelt worden, es gebe eine
       „massive Einschüchterung“, wegen der sich Menschen zum Teil kaum trauten,
       auf die Straße zu gehen. „Das ist auch ein enormes Risiko für Leute mit
       unsicherem Aufenthaltsrecht.“ Die Polizei hatte die Demoverbote damit
       begründet, dass auf vorigen Versammlungen gewaltverherrlichende Parolen
       gerufen wurden.
       
       Jamal erzählt, dass die Gruppe seit zwei Jahren zu Solidaritätsbesuchen
       nach Palästina reist und befreundete Aktivist:innen von dort nach
       Berlin einlädt. Der jüngste Besuch war nach dem 7. Oktober. Im Netz hat die
       Gruppe Bilder gepostet, wie sie mit ihren palästinensischen Gästen vor dem
       Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow posiert. In der Bildunterschrift
       ist die Rede von „palästinensischen und jüdischen Geschwistern, die nicht
       still sein wollen“. Bei ihren Gästen hätte die Sorge um das eigene Leben
       und das der Angehörigen und Freunde dominiert, erzählt Jamal. Die
       Demoverbote seien als „ungerecht und erniedrigend“ empfunden worden. „Bei
       der Verabschiedung am Flughafen haben die palästinensischen Genossen
       gesagt: Fünfzig-fünfzig, dass wir uns je wiedersehen. Das ist das Gefühl
       gerade.“
       
       Die Angriffe der Hamas, so Jamal, gingen zurück auf „100 Jahre Landraub und
       Kolonialisierung in Palästina“. Die Menschen würden ihres Landes, ihrer
       Kultur und Identität beraubt, das sei ein „Prozess massiver Gewalt und
       Vertreibung“. Doch wer diesen historischen Kontext benenne oder wer auf die
       Lage in Gaza aufmerksam mache, „wird sofort als Hamas-Unterstützer
       gesehen“. Dass es Schulen in Berlin auf Empfehlung der Bildungssenatorin
       freisteht, das Tragen der Kufiya, des Palästinensertuchs, zu verbieten,
       betrachtet sie als Skandal. „Letztlich verbieten sie, Palästinenser zu
       sein.“
       
       Wie unterschiedlich der linke Blick auf die Lage in Gaza und Israel
       ausfällt, zeigt sich auch in den höheren Etagen des globalen Kunst- und
       Wissenschaftsbetriebs. An der Cornell University im US-Bundesstaat New York
       sprach der afroamerikanische Literaturwissenschafts-Professor Russell
       Rickford auf einer Kundgebung der Gruppe [7][Jewish Voice for Peace]. In
       den ersten Stunden nach der Hamas-Attacke hätten Tausende Palästinenser
       „zum ersten Mal seit Jahren wieder atmen können“, sagte Rickford in seiner
       Rede. Er zeigte Verständnis, dass Palästinenser*innen angesichts
       dieses „Herausforderns des Gewaltmonopols (…) erheitert“ und „erregt“
       gewesen wären, das sei menschlich.
       
       Rickfords wurde heftig kritisiert, entschuldigte sich. Die Unileitung
       beurlaubte ihn für den Rest des Semesters. Doch Tausende unterschrieben
       eine Petition gegen Entlassungsforderungen, es gab Soli-Demos, Kollegen
       veröffentlichten einen offenen Brief zu seiner Unterstützung. Einer von
       ihnen ist der Jude Eli Friedman, der an der Cornell University
       Arbeitswissenschaft lehrt. Russell sei „kein Antisemit“, sagt Friedman der
       wochentaz. Er habe vielmehr einen „prinzipientreuen Standpunkt gegen einen
       extremistischen, rechtsgerichteten Zionismus eingenommen, der den
       Völkermord am palästinensischen Volk will“.
       
       Amin Husain sieht die Dinge ähnlich. Der palästinensisch-amerikanische
       Künstler und Professor an der New York University wird häufig zu
       internationalen Vorträgen eingeladen, etwa im Haus der Kulturen der Welt in
       Berlin. Husain ist Gründer der Initiative „Decolonize This Place“ (DTP).
       Die setzt sich nach eigenen Angaben für eine „Globalisierung der Intifada“
       und gegen „kolonialistische Tendenzen“ in der Kunstwelt ein. In den
       sozialen Medien folgen DTP Hunderttausende.
       
       Am Tag der Hamas-Terrorattacke schreibt die Gruppe unter ein Video, auf dem
       Besucher:innen des überfallenen Musikfestivals um ihr Leben rennen:
       „Soldaten und Siedler fliehen“. Unter den 38.000 Menschen, die auf „gefällt
       mir“ klicken oder die Bilder von DTP teilen, sind international bekannte
       Persönlichkeiten, wie die Influencerin Kimberly Drew, einst
       Social-Media-Chefin des Metropolitan Museum of Art in New York. Dann
       beschwört DTP den palästinensischen Widerstand, der „mit allen Mitteln“
       erfolgen dürfe. Ein Foto in dem Post zeigt einen vermummten Hamas-Kämpfer
       neben einer älteren Israelin im Rollstuhl. Der Kommentar auf dem geteilten
       Bild: „Die Siedler-Oma scheint das nicht zu stören lmfao“. Die Abkürzung
       „lmfao“ ist im Internet als Ausdruck von Heiterkeit üblich. Wer
       „Dekolonialisierung“ so versteht wie DTP, meint das Ende Israels. Die
       Entmenschlichung ist Ausdruck eines linken Antisemitismus.
       
       Amin Husain und eine weitere DTP-Mitgründerin erklären sich auf Anfrage zu
       einem Gespräch mit der taz bereit. Fast eine Stunde legen sie ihre Sicht
       dar, bestätigen die Positionen, die ihre Gruppe auf Instagram verbreitet.
       Später ziehen sie ihr Einverständnis zurück, wollen nicht zitiert werden.
       
       Die Häme über die gefangene alte Frau im Rollstuhl gefällt über 34.000
       Menschen. Auch bekannte Gesichter der internationalen Kunst-Elite tauchten
       auf: eine feministische Kunsthistorikerin und Leiterin eines Museums an der
       US-Ostküste sowie eine der weltweit prominentesten internationalen
       Ausstellungskuratorinnen. Beide wiesen auf Anfrage ausdrücklich zurück, den
       Inhalt des Posts zu unterstützen, und löschten ihre Zustimmung danach.
       
       Als der indigene US-Künstler Nicholas Galanin zwei Tage nach dem
       Terror-Anschlag den Instagram-Account des großen New Yorker „Public Art
       Fund“ übernehmen darf, empfiehlt er „Decolonize this place“ mit dem Worten:
       „Unsere Aufstände sind queer, trans, schwarz, braun, indigen, migrantisch,
       palästinensisch und global.“ Die Nachfrage der wochentaz, wie er den
       Widerspruch erklärt, dass die Hamas Queers mit dem Tod bedroht, beantwortet
       Galanin nicht.
       
       Viele Linke in Israel sind dieser Tage enttäuscht von ihren internationalen
       MitstreiterInnen, darunter auch schärfste Kritiker:innen der
       Besatzungspolitik. So hatten beispielsweise die bekannten israelischen
       Friedensorganisationen Breaking the Silence und B’Tselem nach dem Angriff
       der Hamas mehrfach den Terror verurteilt und ihre Solidarität mit den
       Opfern ausgedrückt. Mitstreiter:innen der Organisationen waren von den
       Angriffen direkt betroffen. In den südisraelischen Kibbuzim engagierten
       sich viele in der Friedensbewegung – und wurden ermordet. Ein Sprecher von
       B’Tselem bestätigt, dass ein ehemaliges Vorstandsmitglied, die 74-jährige
       Vivian Silver aus dem Kibbuz Beeri, vermutlich nach Gaza entführt wurde.
       Silver ist auch bei Women Wage Peace aktiv. Wie die Jüdische Allgemeine
       berichtet, gehört sie zu Freiwilligen, die seit Jahren kranke Kinder aus
       Gaza an der Grenze abholten und zur Behandlung in israelische Krankenhäuser
       fuhren.
       
       Auch Yasmin, eine in Israel und Deutschland lebende Künstlerin, ist
       enttäuscht über die linke Szene. Sie kommt aus dem Punk, versteht sich als
       linksradikal, queer, feminististisch – und ist Jüdin. Mit ihrem echten
       Namen will sie nicht genannt werden. „Für mich ist die linke Kunstszene
       kein Safe Space“, sagt Yasmin. „Es gibt die aktuelle Situation und es gibt
       auch BDS.“ Die Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions will, dass auch
       israelische Akademiker:innen und Künstler:innen boykottiert werden
       – unabhängig von ihrer politischen Position.
       
       „Wenn es um Antisemitismus geht, kann ich nicht auf Solidarität zählen“,
       sagt Yasmin. Das belaste sie. „Es ist eine alte Angst von Juden in der
       Diaspora: dass der Freund und Nachbar dich fallen lässt.“ Auch sie sei in
       Israel gegen die Besatzungspolitik auf die Straße gegangen, ebenso wie
       gegen die rechtsradikale Regierung. Aber in der aktuellen Situation nun
       gegen „Dekolonialisierung“ zu demonstrieren? An vielen Stellen im
       Kunstbetrieb säßen heute Menschen, die postkolonial dächten – und dann für
       alle vermeintlich Unterdrückten gleichermaßen unkritisch Partei ergriffen.
       Yasmin nennt das „positiven Rassismus“.
       
       Ein solches Verständnis antiimperialistischen Befreiungskampfes sieht sie
       „nahe der Blut-und-Boden-Theorie“ des Faschismus. Die Hamas sei eine
       brutale islamistische Organisation, „die mich, die uns Juden töten will.
       Denen ist die Lösung des Konflikts nicht wichtig.“ Das müssten die Leute
       endlich verstehen.
       
       28 Oct 2023
       
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 (DIR) Nahostkonflikt im Alltag: Das Schweigen der Kleinstadt
       
       Zu Recht wird Linken und Kulturbetrieb ihr Schweigen zum Terror gegen
       Israel vorgeworfen. Im Dorf unseres Kolumnisten ist es aber auch nicht
       lauter.
       
 (DIR) Israelfeindlichkeit im Westen: Groteske Toleranz
       
       Die Ereignisse des 7. Oktober markieren eine Zeitenwende – auch für Linke.
       Wie der Hamas-Terror gegen Israel das Bewusstsein des Westens verändert.
       
 (DIR) Einseitiger Protest an der UdK Berlin: Kleingeistiger Aktivismus
       
       Am Mittwoch trafen sich an der Berliner UdK Studierende erneut zum „Strike
       for Palestine“. Medien waren beim einseitigen Protest unerwünscht.
       
 (DIR) Postkoloniale Linke: Früher war es auch nicht besser
       
       Nach 9/11 interessierte sich kaum wer für linken Antisemitismus. Das hat
       sich geändert. Aber statt Veranstaltungen zu canceln, wäre Aufarbeitung
       angesagt.
       
 (DIR) Osama bin Laden auf TikTok: Ein Like für Osama
       
       Der ehemalige Al-Qaida-Anführer trendet mit seinem „Letter to America“ in
       den sozialen Medien. Der TikTok-Konzern bemüht sich um Schadensbegrenzung.
       Was ist da los?
       
 (DIR) Antisemitismus bei der Documenta: Jetzt hilft nur noch Förderstopp
       
       Die Documenta-Leitung hätte aus ihren Fehlern lernen können. Stattdessen
       scheint schon wieder ein Antisemit in der Findungskommission zu sitzen.
       
 (DIR) Debatte über den Nahost-Konflikt: Die Stimmen der Betroffenen fehlen
       
       Bei der Debatte hierzulande geht es oft mehr um die deutschen Gefühle als
       um die israelischen oder palästinensischen. Wir sollten die Diskussion
       öffnen.
       
 (DIR) Linksliberale und die Hamas: Welche Linke?
       
       Die Sympathie linker Intellektueller mit der Hamas hat mit Freiheit,
       Gleichheit und Brüderlichkeit wenig zu tun. Nicht alle lassen sich blenden.
       
 (DIR) Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin: Jüdisches Leben in der DDR
       
       Jüdische Linke waren in der DDR willkommen. Obwohl sie ab 1933 vor den
       Nazis geflüchtet waren, wurden sie in der DDR bald antisemitisch
       diskriminiert.
       
 (DIR) Freie Universität Berlin: Anti-israelischer Protest in Dahlem
       
       Mehr als hundert Menschen demonstrieren vor der Freien Universität gegen
       Israels Angriffe auf Gaza. Auch ein kleiner Gegenprotest formiert sich.
       
 (DIR) Nach Antisemitismus-Vorwürfen: Fridays for Future in Abwehrhaltung
       
       Klimaaktivisti von Fridays for Future International bemängeln die Reaktion
       auf einen propalästinensischen Post. Sie sehen vor allem BIPoC im Visier.
       
 (DIR) Verbot von Hamas und Samidoun: Schlag gegen Israelhass
       
       Schon vor drei Wochen war es angekündigt, nun erteilt Innenministerin
       Faeser ein Betätigungsverbot für die Hamas und Samidoun in Deutschland.
       
 (DIR) Protest gegen Nahostkonflikt: Pro-Palästina Großdemo in Berlin
       
       Ein breites Bündnis mobilisiert bundesweit für Samstag. In Mitte soll eine
       Großdemonstration gegen Diskriminierung und Demo-Verbote stattfinden.
       
 (DIR) Nahost-Diskurs seit 7. Oktober: Die neue Logik der Einseitigkeit
       
       Seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober hat sich der Diskurs zum
       Nahostkonflikt zugunsten von Terroristen verschoben. Ein schrecklicher
       Zustand.
       
 (DIR) Postkoloniale Linke und Antisemitismus: Alle auf die Straße, jetzt
       
       Auch die postkoloniale Linke muss gegen den aufflammenden Antisemitismus
       aufstehen – will sie sich nicht mit Rechtsextremen gemeinmachen.
       
 (DIR) Propalästinensische Demos in Berlin: Immer wenn es nicht regnet
       
       Seit Tagen eskalieren die „Free Palestine“-Demos in Neukölln. Es kursieren
       Fake News über einen getöteten Demonstranten.