# taz.de -- Kunst, Klasse, Geschlecht: Fast wie bei Michelangelo
       
       > Selma Selman bearbeitet im Berliner Gropius Bau zerlegten Schrott. So
       > stellt die Künstlerin aus Bosnien-Herzegowina Fragen nach Klasse und
       > Geschlecht.
       
 (IMG) Bild: Selma Selman mit Familienmitgliedern, 2021, „Platinum“-Performance in der Nationalgalerie Bosnia und Herzegovina, Sarajevo
       
       Was ist das eigentlich für ein Begriff? Motherboard. Mutterbrett. Die
       Hauptplatine eines Computers oder Servers wird so bezeichnet, das Teil, in
       dem alles zusammenläuft, ohne das gar nichts geht. Das erste Motherboard
       bei IBM soll nach der Ingenieurin Patty McHugh benannt worden sein, der
       einzigen Frau im Entwicklerteam, der Mother of the Motherboard. Wie McHugh
       das damals fand, steht nicht auf Wikipedia.
       
       „Motherboards“ so heißt auch eine fortlaufende Performance-Serie der
       bosnischen Künstlerin Selma Selman, in der solche Platinen die Hauptrolle
       spielen. Sie dienen als Ausgangsmaterial, werden von Selman, ihrem Vater
       und weiteren Familienmitgliedern mit Bohrern bearbeitet und mit Äxten
       zertrümmert.
       
       Nicht aus purer Zerstörungslust jedoch, sondern um sie weiterzuverwerten,
       um an das bisschen Gold zu kommen, das sich in ihrem Inneren verbirgt.
       Selman, geboren 1991 in Bihać, kommt aus einer Rom*nja-Familie, die ihren
       Lebensunterhalt damit bestreitet, aus dem, was andere wegschmeißen, Dinge
       von Wert herauszuholen.
       
       Um Mütter oder um Selmans Mutter geht es bei „Motherboards“ aber auch
       irgendwie und um weibliche Selbstbestimmung. Mit dem Gold aus einer ihrer
       Performances hat die Künstlerin schon einmal Ohrringe für ihre Mutter
       hergestellt. Als Symbol für deren Stärke. Ihre Mutter habe ihr beigebracht,
       ihre Macht läge darin, ein Portemonnaie zu besitzen, hat Selman kürzlich
       dem Kunstmagazin Frieze erklärt. Ihr eigenes Geld zu haben, sei es, was sie
       zu einer unabhängigen Frau machen würde.
       
       ## Wertschöpfung und Wertschätzung, im Leben und der Kunst
       
       Im Berliner Gropius Bau, wo aktuell eine Präsentation Selmans zu sehen ist,
       hängen keine Ohrringe, dafür ist ein Nagel in die Wand geschlagen, den man
       übersehen könnte. Auch er ist hergestellt aus Platinengold und befindet
       sich im selben Raum wie die Überreste der „Motherboards“-Performance, die
       zur Eröffnung stattfand.
       
       Sie sind das Erste, was man sieht in der Ausstellung, ein Haufen Schrott,
       der aber ziemlich gut zusammenfasst, womit sich Selman in ihrer Kunst
       beschäftigt: mit Wertschöpfung und Wertschätzung, im Leben wie in der
       Kunst, mit Weiblichkeit, Stereotypen und Rassismen, mit Marginalisierung
       und Repräsentation. 2022 war Selman bei [1][der Manifesta in Prishtina]
       und bei der [2][documenta fifteen] vertreten. Im Hamburger Bahnhof wird
       seit dem Sommer Selmans Kunst in der Sammlung gezeigt.
       
       Auch Malerei umfasst diese. Selman malt allerdings nicht brav auf Leinwand,
       sondern – da setzt sich das Spiel mit den Wertigkeiten fort – auf Altmetall
       jedweder Art: Autoteile, Rohre, Badewannen, Gehäuse von Geräten. Oft malt
       sie sich selbst, Frauenkörper, Körperteile.
       
       An einer der Wände im Gropius Bau hängen zwei gemalte Arme nebeneinander,
       fast [3][wie bei Michelangelos] „Erschaffung Adams“, aber sie weisen nicht
       zueinander, sondern voneinander weg. Nur eine einzige Arbeit auf Leinwand
       ist in der Ausstellung im Gropius Bau zu sehen. Großformatig, bräunliche
       Spuren auf weißem Grund. Eine abstrakte Malerei? Nein, „Dirt 0“ ist einfach
       Schmutz auf Leinwand. Selman hat den Dreck verewigt, der sich auf der
       Ladefläche des Lieferwagens ihres Vaters befindet.
       
       Einen Raum weiter stellt sich einem eine riesige Satellitenschüssel in den
       Weg, auf die Selman einen Satz gepinselt hat: „God Make Me the Most Famous
       So I Can Escape This Place“.
       
       Welchem Ort sie da entfliehen möchte, löst sie nicht auf. Eindeutig ist
       ohnehin nichts. Schon der Ausstellungstitel „her0“ ist ein Wortamalgam aus
       dem weiblichen Pronomen her, dem englischen Wort für Held und der Ziffer
       Null. Man kann beides darin zugleich lesen, Hero und Zero.
       
       20 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Kunstausstellung-Manifesta-im-Kosovo/!5871938
 (DIR) [2] /Eroeffnung-der-documenta15-in-Kassel/!5859290
 (DIR) [3] /Ausstellung-ueber-Wettstreit-in-der-Kunst/!5884014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Beate Scheder
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Berlin Ausstellung
 (DIR) Kunst
 (DIR) Kunst
 (DIR) Martin-Gropius-Bau
 (DIR) Museum
 (DIR) Künste
 (DIR) Kunstausstellung
 (DIR) Kunst
 (DIR) Ausstellung
 (DIR) Ausstellung
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Gruppenausstellung zur Mutterrolle: Die hochmoralisierte Brustwarze
       
       Was ist eine „Bad Mother“? Schonungslos arbeiten sich elf Künstler:innen
       im Haus am Lützowplatz an den Erwartungshaltungen an Mütter ab.
       
 (DIR) Berliner Ausstellung zur Menstruation: Läuft bei dir
       
       Die Monatsblutung ist laut dem Museum Europäischer Kulturen ein
       alltagskulturelles Phänomen. Eine Schau will das Thema Menstruation
       enttabuisieren.
       
 (DIR) Kunsthändlerin der Moderne: Sie schreckte vor nichts zurück
       
       Im Berlin der Weimarer Republik war sie die wichtigste Kunsthändlerin. Eine
       Ausstellung in der Liebermann-Villa erinnert an Grete Ring.