# taz.de -- Deportationen im Nationalsozialismus: Die letzten Bilder
       
       > Ein jüdischer Fotograf macht 1941 heimlich Bilder von der Deportation
       > Breslauer Jüd:innen. Die jetzt entdeckten Fotos sind einzigartige
       > Dokumente.
       
 (IMG) Bild: Deportation von Juden und Jüdinnen in Breslau im November 1941, das Foto wurde heimlich und unter großem Risiko gemacht
       
       Steffen Heidrich hatte sich wieder einmal das Archiv vorgenommen, genauer
       gesagt den nicht erschlossenen Teil. Da war diese Box mit „wild
       durcheinander liegenden Fotos“, wie er sich erinnert. Heidrich arbeitet für
       die Jüdische Gemeinde in Dresden, und an manchen Tagen kümmert er sich
       ehrenamtlich um das Archiv.
       
       Am 12. April vorigen Jahres fand der Historiker in der Box einen Umschlag.
       „Diverses“ habe darauf gestanden, sonst nichts. Als er den Umschlag
       öffnete, wurde dem 39-Jährigen schlagartig klar, was er da, mitten im
       Dresdner Archiv der sächsischen Jüdischen Gemeinden, gefunden hatte: Neben
       Fotos von einem DDR-Ferienlager fanden sich 13 Bilder von einer der
       Juden-Deportationen aus dem Deutschen Reich in den Tod. Bisher unbekannte
       Dokumente des Holocaust.
       
       Eine Familie mit kleinen Kindern auf dem Weg zur Deportationssammelstelle.
       Ein älterer Herr mit Schiebermütze, der eine in einer Art primitivem
       Rollstuhl sitzende Frau schiebt. Bilder von vielen Menschen und ihrem
       Gepäck; mit genauem Blick ist ein Gestapo-Mann und ein Polizist zu
       erkennen. Gepäckberge und Menschen in Winterkleidung. Der Ort ist leicht zu
       identifizieren: eine Gaststätte „Schießwerder“.
       
       Die Bilder sind ganz offensichtlich aus der Opferperspektive entstanden.
       Der Fotograf musste seine Arbeit im Verborgenen verrichten, aus der Deckung
       heraus. Keiner der gezeigten Menschen schaute in die Kamera, schon gar
       nicht der Polizist oder der Gestapo-Mann, die mit gehöriger Entfernung auf
       Film gebannt wurden. Es handelt sich um die letzten Fotos von Menschen, die
       wenige Tage später ermordet worden sind.
       
       ## Bilder, aufgenommen aus der Perpektive der Opfer
       
       Glücklicherweise kannte Heidrich eine wissenschaftliche Initiative namens
       „[1][#LastSeen“], die nach solchen Dokumenten der Verfolgung sucht, diese
       auf Ort, Geschehen und Entstehung [2][analysiert und publiziert]. Er
       kontaktierte die Projektleiterin Alina Bothe in Berlin. Sie war sofort von
       diesem „einzigartigen Fund“ elektrisiert.
       
       Es existieren ohnehin kaum Bilder von den Deportationen in den Tod, denn
       die Nazis hatten das Fotografieren strikt verboten. Noch seltener aber sind
       Bilder aus der Opferperspektive, sagt Bothe der taz. Die von Heidrich in
       Dresden entdeckten Aufnahmen seien „die einzigen, bei denen ein Jude
       systematisch die Deportationen fotografiert hat“.
       
       Bothe zog weitere Experten zur Begutachtung der Fotos hinzu. Man verglich
       Schattenwürfe, holte historische Wetterberichte ein. Die Menschen tragen
       dicke Mäntel. Die Bilder mussten im Herbst oder Winter entstanden sein. Auf
       einem Foto ist bei genauer Sicht Schneegriesel zu erkennen.
       
       Die Gaststätte Schießwerder ist Holocaust-Forschern nicht unbekannt. Von
       diesem Ort nahe einem Bahnhof begannen 1941 und 1942 zwei Deportationen von
       Breslauer Jüdinnen und Juden. Die Menschen wurden Tage vor der eigentlichen
       Deportation zum Erscheinen am Sammelplatz verpflichtet oder von der Polizei
       dorthin gezwungen. Tagelang wurden sie in den engen Räumlichkeiten
       eingesperrt, bis sie ein Zug abholte.
       
       ## Es gab keinen einzigen Überlebenden
       
       Die Experten fanden heraus, dass zwölf der Fotos vor der Deportation vom
       25. November 1941 in Breslau entstanden sind. An diesem Tag wurden 1.005
       Jüdinnen und Juden nach Kaunas in Litauen deportiert.
       
       Kurz nach ihrer Ankunft drei Tage später hat sie das Einsatzkommando 3 im
       Fort IX außerhalb der Stadt zusammen mit 1.000 Jüdinnen und Juden aus Wien
       erschossen. Es gab keinen einzigen Überlebenden. Die „Gesamtaufstellung der
       durchgeführten Exekutionen“ vom Dezember 1941 nennt die Tötung von 693
       Juden, 1.155 Jüdinnen und 152 Kindern („Umsiedler aus Wien u. Breslau“).
       
       Die Gestapo verheimlichte den Deportierten gegenüber das Reiseziel, sie
       wussten nur, dass es nach Osten gehen sollte, angeblich zum Arbeiten. „Da
       30“, so die Zugnummer des Transports vom 25. November 1941, hatte
       ursprünglich ins lettische Riga fahren sollen, wurde dann aber nach Kaunas
       umgeleitet.
       
       Viele Breslauer Jüdinnen und Juden mussten im November 1941 von ihrer
       drohenden Deportation geahnt haben. Der Historiker und Chronist jüdischen
       Lebens in Breslau, [3][Willy Cohn], notierte am 15. November in sein
       Tagebuch: „Als ich nach Hause kam, traf ich die Briefträgerin auf der
       Treppe; die Post brachte für uns keine schöne Nachricht, wir müssen
       voraussichtlich am 30.11. die Wohnung räumen und werden voraussichtlich
       verschickt werden. Wohin und so weiter weiß man noch nicht.“
       
       Willy Cohn gehörte zusammen mit seiner Frau Gertrud und den Töchtern
       Susanne und Tamara zu jenen, die nach Kaunas verschleppt und dort ermordet
       wurden.
       
       ## Der Fotograf
       
       Eines der Fotos stammt vom April 1942 und zeigt eine andere Deportation, in
       diesem Fall mit dem Ziel Izbica im besetzten Polen. Den Experten ist es
       auch gelungen, den Fotografen zu identifizieren. Es handelte sich
       höchstwahrscheinlich um den Breslauer Architekten und versierten
       Hobbyfotografen Albert Hadda (1892–1975).
       
       Die Nazis hatten gegen ihn ein Berufsverbot verhängt, und so arbeitete
       Hadda für die jüdische Gemeinde. Zumindest 1942 wurde er als jüdischer
       Ordner bei einer der Deportationen eingesetzt. Hadda war durch seine Ehe
       mit einer Nichtjüdin zumindest teilweise vor einer Deportation geschützt.
       Er ging mit dem Fotografieren ein großes Risiko ein, zumal Juden damals
       keinen Fotoapparat mehr besitzen durften.
       
       Albert Hadda überlebte die NS-Verfolgung und organisierte im Mai 1945 den
       Transport von Jüdinnen und Juden aus Breslau nach Erfurt. Von dort müssen
       die Fotos nach Dresden gelangt sein, dem Wohnort des späteren Präsidenten
       des Verbandes der jüdischen Gemeinden in der DDR, Helmut Aris. Hadda selbst
       lebte später im westdeutschen Fulda.
       
       26 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://atlas.lastseen.org/
 (DIR) [2] /Bildatlas-der-Deportation-im-Netz/!5919949
 (DIR) [3] /Ausstellung-im-Roten-Rathaus/!5533398
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus Hillenbrand
       
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