# taz.de -- Mutterschaft auf der Bühne: Her mit dem modernen Mutterbild!
       
       > In Theatern in Berlin und Potsdam reflektieren Autorinnen und
       > Regisseurinnen: Warum ist der gesellschaftliche Umgang mit Müttern oft so
       > ungerecht?
       
 (IMG) Bild: Von der Schauspielerin Claude De Demo selbst kam der Impuls zu einem Abend über das Mutter-Dasein im Berliner Ensemble
       
       Oh, diese Vagina ist groß. Mindestens drei Meter hoch hängt sie über einer
       Art Mini-Showtreppe von der Decke. Dieses rosa- bis fleischfarbige
       Stoffmonstrum, das sanfte Wellen wirft, lädt zum Anschmiegen ein. Geht
       aber nicht, denn das ist keine Sexualaufklärungs-Mitmach-Ausstellung,
       sondern ein Theaterabend über das Muttersein.
       
       Die monumentale Vagina dominiert die Bühne. Rechts und links von ihr hängt
       das Schamhaar: braune verfilzte Riesen-Zotteln. Sophie Lichtenberg hat die
       Bühne der Potsdamer Reithalle in einen weichen Fantasieraum verwandelt, in
       dem sich Braun- und Rosé-Nuancen die Hand geben. Laura Maria Hänsel, Janine
       Kreß, Mascha Schneider, Hannes Schumacher und Paul Wilms tragen
       fleischfarbene Ganzkörperanzüge, auf die mal ein Embryo-Bild oder auch ganz
       viele Mini-Brüste aufgenäht sind. Miriam Haas hat ihnen sogar ein langes
       Schwänzchen verordnet, das nachschleift.
       
       Diese Fantasiewesen sollen laut Programmzettel des Theaters Muttertiere
       sein. So lädt man das Publikum augenzwinkernd ein auf eine Reise der zarten
       Verfremdung, indem die Fabelwesen in einer Uterus-Welt
       Mutter-Kind-Situationen aus der Menschenwelt nachspielen. Der kreischende
       humorgetränkte Draufblick auf der Bühne führt zu kurzen, erlösenden Lachern
       im Publikum.
       
       [1][In der bildenden Kunst, in der Literatur] und in sozialhistorischen
       Anthologien wird das Thema der Mutterschaft seit mindestens zehn Jahren
       kritisch beackert. Jetzt ist es auch auf der Bühne angekommen.
       
       ## Intime Momente teilen
       
       Aus dem Off begleiten Ich-Erzählungen das Geschehen auf der Bühne in
       Potsdam. Regisseurin Anna-Elisabeth Frick, seit einem Jahr Mutter, hat für
       „Mütter“ 40 Frauen in ganz Deutschland zu ihren spezifischen Erfahrungen
       als Mutter befragt. Der Bühnentext beruht zum großen Teil auf ihren
       Aussagen. Die Frauen teilen intime Momente, individuelle Erfahrungen mit
       dem Publikum. Es dreht sich um die thematischen Evergreens wie
       Schwangerschaft, Geburt, Schwierigkeiten bei der Erziehung und Trennung vom
       Kind beziehungsweise Kindesvater.
       
       Was die Aussagekraft vieler Beiträge angeht, könnten sie auch in einem
       Mütter-Chat stehen. Es bleibt im Privaten. Die Kurve zur Metaebene kratzt
       man im kleinen Haus des Hans-Otto-Theaters, in dem man einer Nichtmutter,
       [2][Hannah Arendt], das Schlusswort überlässt: „Das „Wunder“ besteht darin,
       dass überhaupt Menschen geboren werden, und mit ihnen der Neuanfang, den
       sie handelnd verwirklichen können.“
       
       ## Wut und Erschöpfung
       
       Im Berliner Ensemble verzichtet man auf Hannah-Arendt-Zitate. Hier kommt
       zur Erschöpfung, die auch in Potsdam den Grundton vieler Aussagen bildet,
       die Wut dazu. Und zwar von Anfang an.
       
       Claude De Demo betritt in einem total verdreckten Pulli die Bühne und wird
       laut: „Ich hätte gerne gewusst, dass die Strukturen meines Gehirns
       vermutlich für den Rest meines Lebens andere sein werden und dass dieser
       Umstand mein Denken beeinflusst. Und ich frage mich jetzt, woran es liegt,
       dass diese Information, die immerhin das komplexeste Organ des
       menschlichsten Körpers betrifft, gesellschaftlich und medial nicht genauso
       präsent ist wie Dehnungsstreifen oder Stillbrüste. Sind Gehirne von
       Menschen, die über einen Uterus verfügen, nicht so wichtig wie
       beispielsweise Brüste?“
       
       Damit ist die Grundtemperatur von „#Motherfuckinghood“ eingestellt.
       Privates ist politisch. Ein Exkurs in die Geschichte des deutschen
       „Mutter-Propagandabildes“ ist dazu notwendig. Der Begriff Rabenmutter wird
       von De Demo zerlegt, bis nichts mehr davon übrig bleibt. Ausruhen kann sie
       sich nach ihren Wuttiraden nicht, denn sie ist allein auf der Bühne.
       
       Über das immer wieder eingeschobene Motherfunkinghood-Quiz dekliniert die
       Schauspielerin die gesellschaftlichen Missstände durch: Anteil an der
       Hausarbeit, der Kinderbetreuung, geringeres Einkommen et cetera – ganz
       schick in Lehnworte wie „Paternal Underperformance“ verpackt.
       
       ## Ohne Care-Arbeit Systemzusammenbruch
       
       Deren gemeinschaftliche Auflösung ins Allgemeindeutsche bereitet auf die
       Revolution vor, die in einem Text herbeigeschrieben wird. Dieser beschreibt
       in anschaulichen Bildern, was es bedeuten würde, [3][wenn Frauen sich
       weigern würden, die Care-Arbeit] zu machen: „Rezession. Wohlstandsverlust.
       Verteilungskriege und Anarchie würden hinzukommen. Gleichzeitig immer mehr
       verstorbene Babys, verstorbene Alte und damit eine Gefährdung der
       menschlichen Spezies und der geordneten Zivilisation. Das ist gemeint, wenn
       wir sagen: Unser Wohlstand und unser komplettes System beruht auf
       unsichtbarer Care-Arbeit.“
       
       Von Claude De Demo selbst kam der Impuls zu einem Abend über das
       Mutter(da)sein. Sie und die [4][Regisseurin Jorinde Dröse] haben
       [5][Antonia Baum], [6][Mareike Fallwickl] und [7][Emilia Roig] um Texte
       gebeten und Claude De Demo hat selbst Autobiografisches beigesteuert.
       
       So steht die Schauspielerin auf der nackten Bühne im Neuen Haus. Beleuchtet
       von einem einzigen Scheinwerfer-Spot, berichtet sie von einer extrem
       schweren Geburt und schließt: „Keiner hat mich gehört. Ich war entmündigt.
       Mir wurde meine Intuition und mein Bitten, über mich, meinen Körper und
       mein Kind entscheiden zu können, abgesprochen.“
       
       De Demo wird leise, als sie einer Sternenmutter, deren Kind nach der Geburt
       gestorben ist, ihre Stimme leiht. Und fragt auch hier: „Warum ist uns der
       Tod von Babys so unbequem? Warum sprechen wir nicht über Sternenmütter?
       Warum darf Mutterschaft nur eins sein: glücklich?“
       
       Der letzte Monolog ist der einer Mutter, der ihr Sohn abhandenkommt: „Was
       ich als Mutter gegeben habe und gebe, ist für die Welt unsichtbar. Jetzt
       ist er dreizehn, und das Patriarchat nimmt ihn mir weg.“ Sie denkt weiter
       nach: „Warum vernetzen wir Mütter uns nicht voller Ehrlichkeit?“
       
       ## Verein Bühnenmütter
       
       Seit einem Jahr gibt es [8][den Verein „Bühnenmütter e. V.“]. Sie
       konstatieren: „Die Strukturen kultureller Institutionen machen es nach wie
       vor nahezu unmöglich, den künstlerischen Beruf mit der Gründung einer
       Familie zu vereinbaren. Das gesellschaftliche Bild einer „Künstlerin“
       scheint mit dem einer „Mutter“ nicht vereinbar. Künstlerinnen verschweigen
       ihre Mutterschaft um der Karriere willen. Das Thema ist ein Tabu, das im
       öffentlichen Diskurs kaum verhandelt wird.“ Der junge Verein wagt sich an
       eine Mammutaufgabe: Die Bühnenmütter wollen endlich für ein zeitgemäßes
       Mutterbild sorgen!
       
       Wer sich in diesem Verein engagiert, dem können im immer noch männlich
       dominierten deutschsprachigen Stadttheater-Kosmos Nachteile entstehen.
       Darum scheuen sogar arrivierte Künstlerinnen davor zurück, beizutreten,
       weiß Gründungsmitglied Annika Mendrala. Ihr aber geht es um eine
       Weichenstellung für die nächsten Generationen.
       
       De Demo, Jorinde Dröse und die Autorinnen bleiben auch beim Blick nach
       innen kritisch. Zum Beispiel beim „pay gap“ zwischen gutverdienenden
       berufstätigen Müttern und ihren Au-pairs. Aus dem Potsdamer Stück über
       Mütter bleibt vor allem das Bild der gemütlichen Riesenvulva im Gedächtnis
       hängen. Das Berliner Ensemble stiftet mit seiner Textcollage produktive
       Anfangsverwirrung, stimuliert bald, macht wütend und ein bisschen traurig
       und es ist eine Quelle der Erkenntnis.
       
       Eine für die Theater wichtige Zahl aber wurde beim Quiz nicht genannt: Bei
       den darstellenden Berufen beträgt der Gender Gap immer noch satte 34
       Prozent. Her mit dem zeitgemäßen Mutterbild! Es muss etabliert werden.
       Endlich.
       
       6 Feb 2024
       
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