# taz.de -- Umgang mit „Fluchtgut“: Vom Verlust von Vermögen
       
       > Wurde es geraubt oder freiwillig verkauft? Wie mit vom
       > Nationalsozialismus verursachten Vermögensverlusten umzugehen ist, ist
       > kontrovers.
       
 (IMG) Bild: Das Gemälde „Die Füchse“ von Franz Marc, 1913
       
       Am 30. Januar 1933 wurden die Nationalsozialisten an der Macht im Reich
       beteiligt, zunächst nur als Teil einer Koalitionsregierung. Um Wähler zu
       halten und neue zu gewinnen, machten sie sich unverzüglich daran, wichtige
       Elemente ihres ideologischen Markenkerns in Gesetzesform zu gießen. Daher
       wunderte es niemanden, dass schon bald verschiedene Gesetze in Kraft
       traten, die Juden diskriminierten – und ausplünderten.
       
       All dies kam nicht überraschend: Hatten die Nationalsozialisten doch seit
       Jahren öffentlich verkündet, was die Juden im Falle einer
       Regierungsübernahme zu erwarten hatten. Das mochte von manchen als radikale
       Muskelspiele einer bedeutungslosen Partei belächelt werden – denn 1928 lag
       der NSDAP-Wähleranteil im Reich bei 2,6 Prozent. Doch bereits zu diesem
       Zeitpunkt hatten eine ganze Reihe von Juden vorausschauend Deutschland
       verlassen oder aber zumindest Teile ihres Vermögens ins Ausland verlagert –
       trotz der ab 1931 geltenden Reichsfluchtsteuer, die Vermögensabflüsse ins
       Ausland reduzieren sollte.
       
       Nachdem die NSDAP bei den Reichstagswahlen 1932 stärkste Kraft geworden
       war, wuchs die Zukunftsangst der deutschen Juden. So reiste der
       Wäschefabrikant Richard Semmel direkt nach der Ernennung Hitlers zum
       Reichskanzler von einer Geschäftsreise aus St. Gallen heim nach Berlin –
       doch es war zu spät. Noch am Bahnhof wurde er von Freunden gewarnt, weil es
       zu gefährlich war, seine Büros aufzusuchen. Auch vor Semmels Haus lauerten
       braune Schläger. Bei Nacht und Nebel floh er aus Berlin zurück in die
       Schweiz.
       
       Doch jüdische Flüchtlinge in der Schweiz durften nicht arbeiten und mussten
       den Behörden laufend nachweisen, dass sie über genügend Vermögen verfügten,
       um davon ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Andernfalls drohte die
       Abschiebung nach Deutschland – und damit oft direkt das
       Konzentrationslager. Hätte Semmel seine Kunstsammlung in die Schweiz
       mitnehmen können, es wäre etwas zu verkaufen gewesen, um davon zu leben,
       statt die Schweiz wieder verlassen zu müssen.
       
       Kunst ins Ausland schaffen 
       
       Hingegen gelang es dem Bankier Paul von Mendelssohn-Bartholdy, einige
       Gemälde seiner Sammlung 1933 versteckt zwischen anderen Gemälden zu einer
       Kunstausstellung in die Schweiz zu senden. Auch anderen Sammlern sowie
       [1][Kunsthändlern] gelang es trotz bald drohender Strafen Kunst ins Ausland
       zu schaffen. Wenn sie Deutschland verlassen konnten – zuvor in der Regel
       durch verschiedenste staatliche Schikanen ausgeplündert –, so war ihr
       einziger Besitz oft die bereits vorab ins Ausland verlagerte Kunst.
       
       Arbeitsmarktreglementierungen, Sprachbarrieren und viele andere
       Erschwernisse hinderten viele Juden daran, im Ausland ihre bisherigen und
       oft sehr erfolgreichen Karrieren fortzusetzen. So sicherte vielen
       wohlhabenden Juden allein der Verkauf ihrer Kunstsammlungen das Überleben.
       Armen Juden war die Auswanderung zumeist gar nicht möglich.
       
       Auch der 1877 geborene Kurt Grawi befand sich in einer Notlage. Nach dem
       Novemberpogrom 1938 war der Berliner Kaufmann nach Chile geflohen. Von
       seinem einst beträchtlichen Vermögen blieb ihm nur das Gemälde „Die Füchse“
       von Franz Marc, das durch einen glücklichen Umstand außer Landes geschafft
       werden konnte. Unter normalen Umständen hätte Grawi dieses Gemälde nie
       verkauft, aber er musste seiner Familie einen Neuanfang ermöglichen. Ein
       Sammler in den USA, der viele vor dem NS-Regime Geflohene unterstützte,
       zahlte schließlich einen marktüblichen Preis.
       
       Bührles Kunstsammlung 
       
       Doch das war eine seltene Ausnahme. Die Regel waren kauffreudige
       Kunsthändler, die so ihr Angebot für Sammler rasch vergrößerten. Einer von
       ihnen war [2][der Schweizer Waffenfabrikant Emil Bührle]. Er verdiente an
       der Wiederaufrüstung Deutschlands und investierte seinen Reichtum in
       Kunstförderung sowie in den [3][Aufbau einer exzellenten Kunstsammlung]. Ab
       1933 gab es mehr Bild fürs Geld. Die zahlreichen in der Schweiz angebotenen
       Kunstwerke deutscher Juden mussten zumeist billig verkauft werden. Wer
       hungert, hat eine schlechte Verhandlungsposition.
       
       1998 unterschrieben 44 Staaten sowie 13 nichtstaatliche Organisationen die
       sogenannten Washington Principles on Nazi-Confiscated Art, die sie dazu
       anhalten sollten, „nach NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut zu
       suchen und gegebenenfalls die notwendigen Schritte zu unternehmen, eine
       gerechte und faire Lösung zu finden“.
       
       Ein Element dieser Prinzipien ist die Beweislasterleichterung: Wenn
       beispielsweise persönliche Unterlagen durch KZ-Haft verloren gegangen
       waren, muss nicht mehr bewiesen werden, dass jemand als Jude vom NS-Regime
       verfolgt wurde – Juden gelten ab 1935 generell als verfolgt. Wer jedoch in
       den USA oder der Schweiz auf dem Markt ein Kunstwerk anbot, verkaufte ohne
       Zwang und Naziterror. Zwangslagen von Flüchtlingen auszunutzen, war
       moralisch verwerflich – aber nicht illegal. Doch ist es fair und gerecht,
       sein Eigentum unter Wert verkaufen zu müssen, um zu überleben – was ohne
       NS-Terror nicht geschehen wäre?
       
       Große Auffassungsunterschiede 
       
       Für solche Kunstwerke prägten Schweizer Wissenschaftler um Georg Kreis 2001
       den Begriff [4][„Fluchtgut“]. Es gibt jedoch in den Signatarstaaten der
       Washingtoner Prinzipien große Auffassungsunterschiede, wie „Fluchtgut“ –
       also zweifelsfrei durch den Nationalsozialismus verursachter
       Vermögensverlust – zu definieren ist und wie man mit den Folgen umgehen
       sollte.
       
       Der Historiker Constantin Goschler bemerkte mit Blick auf die ersten
       gesetzlichen Maßnahmen nach dem Krieg: „Ohnehin war nicht beabsichtigt,
       sämtliche Schäden wieder ‚gut‘ zu machen, da dies angesichts der ungeheuren
       Dimensionen der menschlichen und materiellen Verwüstungen durch Krieg und
       Verfolgung als jenseits aller Möglichkeiten galt.“ In den letzten
       Jahrzehnten haben sich Geschichtsverständnis und Gerechtigkeitsempfinden
       fortentwickelt und trugen zur aufkommenden Debatte bei: Sollen die Verluste
       bei der Veräußerung von „Fluchtgut“ anerkannt werden – und in welchen
       Fällen auf welche Weise?
       
       [5][Der Jurist Benjamin Lahusen] hat das Dilemma auf den Punkt gebracht:
       „Wie arm muss ein NS-Verfolgter sein, damit wir eine Transaktion als
       Ergebnis nationalsozialistischer Verfolgung klassifizieren? Und im Falle
       einer größeren Sammlung: Können wir sagen, dass die ersten Verkäufe nicht
       das Ergebnis von Verfolgung waren, sondern die späteren?“
       
       Heutige Rechtsordnung 
       
       Menschen und Vorgänge zu kategorisieren war ein Kernelement
       nationalsozialistischer Verfolgung bis hin zu den berüchtigten
       „Vermögenslisten“ verfolgter Juden. Lahusen hält es für unangemessen, bei
       der Betrachtung von Schäden auf die finanziellen Verhältnisse des
       Geschädigten abzustellen. Ein solches Denken wäre nicht nur unethisch,
       sondern – mit Blick auf heutige Schadensfälle – kaum mit der Rechtsordnung
       in Einklang zu bringen.
       
       Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Debatte in verschiedenen
       Ländern aus historischen Gründen unterschiedlich geführt wird. Polens
       rechtspopulistische Regierung hat 2021 per Gesetz jegliche Restitution
       unterbunden. Christoph Blocher von der rechtspopulistischen Schweizerischen
       Volkspartei forderte jüngst, jüdischen Beraubten keine
       Beweislasterleichterung zuzugestehen.
       
       Der Schweizer Rechtsanwalt Daniel Lampert warnte jüngst in der NZZ, vom
       Begriff „Fluchtgut“ abzurücken. Schließlich seien Schweizer Kunsthändler um
       Fairness bemüht gewesen und davon ausgegangen, etwas Gutes zu tun, wenn sie
       Flüchtlingen halfen. Mit „halfen“ meint der Anwalt den Ankauf von Kunst von
       Flüchtlingen, die unbedingt verkaufen mussten, wollten sie nicht
       abgeschoben werden und im Konzentrationslager landen. Heute hinterfragen
       Exponenten der AfD kritisch, dass staatliche Stellen sich mit
       Provenienzforschung – und damit mit der proaktiven Ermittlung der
       rechtmäßigen Eigentümer – befassen.
       
       Wer die deutsche Demokratie ernst nimmt, wird keine Probleme damit haben,
       den vor 1945 als Juden verfolgten Deutschen – viele von ihnen waren schon
       seit Generationen Christen – ihr Grundrecht auf Eigentum ohne Einschränkung
       zuzugestehen. Wer aber beim Eigentumsrecht zwischen Juden und Nichtjuden
       unterscheidet, bewegt sich auf dem Pfad des Antisemitismus – einem Kern der
       NS-Ideologien.
       
       30 Jan 2024
       
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