# taz.de -- Krieg in Nahost: Die Tode des Universalismus
       
       > Der Krieg im Gazastreifen zeigt, dass universelle Menschenrechte leere
       > Worte sind. Die Menschen haben schlicht nicht alle dieselben Rechte.
       
 (IMG) Bild: Von israelischen Bomben zerstörtes Haus in Rafah im Gazastreifen am 12. Februar
       
       Die Menschenrechte, so schreibt der amerikanische Rechtsphilosoph Sam Moyn,
       sind eine gute Idee mit einer schwierigen Geschichte. Wir könnten die Welt,
       wie wir sie heute, vom Westen aus, denken, nicht ohne die Menschenrechte
       denken, die notwendigerweise universell sein müssen, sonst wären es keine
       Menschenrechte. Sie sind ein Ergebnis der Französischen Revolution und
       ihrer Werte von Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit. Sie wurden zur
       Grundlage der Weltordnung nach dem Schrecken des Zweiten Weltkrieges und
       des Holocausts.
       
       Schwierig ist die Geschichte, weil niemand so naiv war zu glauben, dass
       diese universellen Menschenrechte jenseits von Ideologie und Interessen
       existieren, im luftleeren historischen Raum sozusagen. [1][Moyn] etwa
       beschreibt in seinem Buch „[2][Not Enough]“ für die Nachkriegszeit nach
       1945, wie sich der Diskurs der Menschenrechte parallel zum Diskurs über den
       Markt entwickelte – kurz gesagt: Je freier und radikaler der Markt gedacht
       wurde, desto lauter und letztlich leerer wurde die Rede über die
       Menschenrechte; sie waren das ideale rhetorische Mittel, das man fordern
       konnte, aber nicht durchsetzen musste.
       
       Das ist das Problem mit solchen großen Prinzipien: Sie sind unverzichtbar,
       wenn man eine Welt will, die gerecht ist; sie sind aber so idealistisch
       konzipiert, dass sie oft nur Worte bleiben – Papier. Auch das war, in
       vielem, eine Tatsache, die als Grundlage im entweder zynisch oder
       realpolitisch zu nennenden Spiel der Weltmächte irgendwie akzeptiert wurde.
       Wie gesagt: Interessen sind real. Lügen sind nicht nur ein individuelles
       Charakterdefizit.
       
       Eine bessere Welt muss immer wieder neu erstritten werden; dazu braucht es
       Ideale und auch den Willen, ab und zu davon abzusehen. Der Krieg im
       Gazastreifen hat das im Grunde nur noch ein weiteres Mal deutlich gemacht:
       Menschenrechte gelten nicht für alle Menschen gleich, auch wenn sie
       universell genannt werden; und mit der geopolitischen Struktur zerfällt
       auch die rechtliche Struktur der Nachkriegsordnung seit 1989.
       
       ## Moralische Schwäche des Westens
       
       Was anders ist, ist nicht nur die Intensität des Sterbens, die hohe Zahl
       der Opfer, die Drastik der Situation. Was anders ist, ist eine
       [3][offensichtliche moralische Schwäche des Westens], verbunden mit einer
       realen Schwächung im geopolitischen Kontext. Was anders ist, ist die
       tiefergehende und bleibende Erschütterung des Konzepts des Universalismus.
       
       Die Bilder und Nachrichten aus dem Gazastreifen sind schwer zu ertragen,
       genauso wie immer noch die [4][Bilder und Schilderungen der Hamas-Massaker]
       vom 7. Oktober. Diese beiden Ereignisse, die so schwer zu trennen sind und
       die doch auch getrennt gesehen werden müssen, wenn man den jeweiligen
       Schrecken anerkennen will. Das ist nicht leicht für viele, und es sind
       Juden und Jüdinnen, die sich verraten fühlen seit dem 7. Oktober, genauso
       wie Palästinenser und Palästinenserinnen.
       
       Im Grunde ist der Universalismus der Versuch einer Antwort auf dieses
       Dilemma: Das Leid ist immer partikular, konkret, vor Ort; die Lösung
       erfordert übergreifende Prinzipien, Werte, Maßstäbe. Das Verbindende ist
       damit die Abstraktion der Werte; genau die Werte, die immer dann beschworen
       werden, wenn sie gerade passend erscheinen – wie oft etwa wurde gesagt,
       dass die Ukraine für „unsere“ Werte kämpft? Und was ist mit „unseren“
       Werten nun, da es um andere Opfer geht, um einen anderen Krieg?
       
       Wie gesagt, die Lügen und die Heuchelei sind keine
       menschheitsgeschichtlichen Erfindungen der letzten fünf Monate; aber es ist
       nun mal so, dass in den vergangenen Jahren des Kulturkampfes der Diskurs
       von Werten, Freiheit, vom Westen mehr als sonst wie eine Rute benutzt
       wurde, um anderen eins mitzugeben – solange es eben um die eigene Sache
       ging.
       
       ## Den Tod nicht einfach hinnehmen
       
       All die hohlen Bücher über [5][Cancel Culture] und die Freiheit der Rede
       und der Kunst – wo sind denn die Autor*innen heute, wenn reihenweise
       Menschen ausgeladen werden, wenn viele und nicht zu Unrecht den Eindruck
       haben, dass Meinungen zensiert werden, dass damit die Grundlage der
       Demokratie aus der Mitte heraus gefährdet wird? All die Forderungen, dass
       etwa Menschen, die nach Deutschland kommen, sich zu „unseren“ Werten
       bekennen müssen.
       
       Wie sind diese Werte zu finden in den Ruinen von Gaza, wie kann man einen
       universellen Zynismus zur Grundlage eines opportunistischen Wertesystems
       machen? Noch mal: Für mich sind die Schrecken des 7. Oktobers nicht zu
       trennen von dem, was danach passierte; und sie sind doch zu trennen, weil
       nicht jeder, der von Leid betroffen ist, das Leid der anderen sehen kann
       und will. Universalismus ist eine unmögliche Idee, das ist die Provokation.
       
       Und es ist natürlich absurd, wenn dann ausgerechnet eine [6][Lesung der
       universalistischen Denkerin Hannah Arendt] von in diesem Fall
       propalästinensischen Protesten gestört wird, wie gerade geschehen im
       Hamburger Bahnhof in Berlin. Aber es ist auch nur ein Bestandteil einer
       Wirklichkeit, die sehr grundsätzlich aus den Fugen geraten ist.
       
       Die eigentliche Erschütterung findet woanders statt, und es ist sehr
       durchschaubar, wenn sich viele vor allem auf die Reaktionen konzentrieren,
       die Auswirkungen, die man diskursiv leichter verhandeln kann als die
       Gründe. Der Universalismus ist schon viele Tode gestorben, jeden Tag an den
       europäischen Außengrenzen, in Gaza, in den [7][Lagern der Uiguren], mit
       jedem Krieg und jeder Hungersnot und letztlich als Wesen des Systems
       selbst, das auf dem Universalismus der pekuniären Art beruht, dem Kapital.
       
       Nicht jeder Tod kann verhindert werden; aber wenn der Tod so hingenommen
       wird, wie gerade in Gaza, und wenn die Konsequenzen bis weit in diese
       Gesellschaft hineinwirken, dann zerfasert das bisschen Konsens, das es
       braucht, damit die universellen Werte, wenn überhaupt, verbindend sein
       können.
       
       15 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://history.yale.edu/people/samuel-moyn
 (DIR) [2] https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-26550
 (DIR) [3] /Israels-Krieg-in-Gaza/!5981361
 (DIR) [4] /Sexualisierte-Gewalt-durch-Islamisten/!5977286
 (DIR) [5] /Cancel-Culture-und-Wokeness/!5882236
 (DIR) [6] /Kubanische-Kuenstlerin-zu-Hannah-Arendt/!5989599
 (DIR) [7] /Uiguren-in-Umerziehungslagern/!5827774
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Georg Diez
       
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