# taz.de -- Streit um die Berlinale: Detonation in Zeitlupe
       
       > Die 74. Berlinale endete mit einem Eklat. Nicht als Knall, sondern
       > täglich eskalierend. Wer äußerte sich wie zur politischen Schlagseite der
       > Gala?
       
 (IMG) Bild: Erhielt Morddrohungen von Rechten: der Filmemacher Yuval Abraham (re.) auf der Preisverleihung der 74. Berlinale
       
       Es scheint kein Ende zu nehmen. Um den Abschluss der 74. Internationalen
       Filmfestspiele Berlin gab es nicht allein eine heftige Auseinandersetzung,
       inzwischen erhielt einer der geehrten Regisseure sogar Morddrohungen. Der
       israelische Filmemacher Yuval Abraham, der auf der Berlinale zusammen mit
       seinem palästinensischen Kollegen Basel Adra für „No Other Land“ die
       Auszeichnung für den besten Dokumentarfilm entgegennahm, hatte in seiner
       Dankesrede gesagt, die „Apartheid“ im Westjordanland müsse aufhören.
       
       Danach habe er Morddrohungen erhalten und ein „rechter Mob“ habe seine
       Familie in ihrem Haus bedroht, schrieb er am Mittwoch auf X. Abraham warf
       deutschen Medien und Politikern vor, für diese Entwicklung verantwortlich
       zu sein, da sie seine Rede als „antisemitisch“ bezeichnet hätten.
       
       Dabei schien am [1][vergangenen Sonnabend zu Beginn der
       Berlinale-Abschlussgala noch alles „nach Plan“ zu laufen]. Die
       Noch-Geschäftsführerin des Filmfestivals, Mariëtte Rissenbeek, erinnerte an
       das Massaker des 7. Oktobers, bevor man zur Preisverleihung schritt.
       
       Bei der kam man aus dem ungläubigen Staunen nicht mehr heraus. Juroren
       hatten „Cease Fire Now“-Stoffteile an ihre Abendgarderobe geheftet,
       Preisträger wie der Regisseur Ben Russell, einer der beiden Regisseure des
       Dokumentarfilms „Direct Action“, trugen, wie eine der mit ihm auf die Bühne
       gekommenen Aktivistinnen aus dem Film, Palästinensertücher zur Schau, und
       Russell sprach in Zusammenhang mit der Situation in Gaza von „Genozid“.
       
       ## Einseitige Parteinahme
       
       Andere, wie die Gewinnerin des Goldenen Bären, die
       [2][französisch-senegalesische Regisseurin Mati Diop, die im Wettbewerb mit
       dem Dokumentarfilm „Dahomey“ vertreten gewesen war], erklärten wiederum
       ihre „Solidarität mit Palästina“. Für all das hatte es Applaus bis hin zu
       Jubel gegeben, sodass am Ende der Eindruck blieb, die Veranstaltung habe
       bevorzugt pro-palästinensischen Stimmen eine Bühne gegeben.
       
       Im Verlauf des Abends hatte nach Rissenbeek schließlich niemand mehr die
       israelischen Geiseln oder gar die israelischen Opfer der Hamas erwähnt.
       Stattdessen herrschte einseitige Parteinahme und nuancenfreie Kritik an
       Israel vor.
       
       Dass jetzt der Begriff des Antisemitismus mit der Veranstaltung in
       Zusammenhang gebracht wird, hat vor allem mit dem Nachspiel vom Sonntag zu
       tun, bei dem [3][auf dem Instagram-Kanal der Berlinale-Sektion „Panorama“
       Posts zu sehen waren] wie der in Deutschland unter Strafe stehende Slogan
       „Free Palestine – From the River to the Sea“. An der offiziellen Mitteilung
       der Berlinale, ihr Kanal sei „gehackt“ worden, bestehen seither Zweifel.
       Das Festival stellte Strafanzeige gegen unbekannt.
       
       ## Kritik an Claudia Roth
       
       Waren die Reaktionen auf die Preisverleihung schon kritisch ausgefallen,
       eskalierte die Auseinandersetzung um den Abschluss der Berlinale danach
       stetig. So warf Israels Botschafter Ron Prosor der deutschen Kulturszene
       auf X vor, „antisemitische und israelfeindliche Äußerungen seien mit
       tosendem Applaus bedacht worden“, und sie rolle den Roten Teppich
       „ausschließlich für Künstler“ aus, denen es um „Israels Delegitimierung“
       gehe.
       
       Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die selbst auf der Preisverleihung
       zugegen war, kritisierte ihrerseits am Montag auf X die Filmemacher, die
       auf der Veranstaltung sprachen, dass sie den „Terrorangriff der Hamas“
       nicht erwähnten. Roth steht dabei selbst in der Kritik. Ihr Parteikollege
       von den Grünen, Volker Beck, hatte ihr zuvor eine zögerliche Haltung
       vorgeworfen. Und sogar Bundeskanzler Olaf Scholz meldete sich am Montag zu
       Wort. An die Adresse der Berlinale gerichtet ließ er mitteilen, „dass eine
       derart einseitige Positionierung so nicht stehengelassen werden kann“.
       
       Schärfere Kritik kam von Berlins Regierendem Bürgermeister Kai Wegner, der
       am Montag meinte, der Berlinale sei international „schwerer Schaden“
       entstanden: „Ich erwarte Aufklärung, zumal es dabei auch um strafrechtlich
       relevante Vorgänge geht“, so Wegner.
       
       Bundesjustizminister Marco Buschmann wiederholte am Mittwoch die
       Einschätzung, das Festival habe „schweren Schaden genommen, weil dort
       Antisemitismus viel zu unwidersprochen geblieben ist“. Er drohte sogar mit
       strafrechtlichen Konsequenzen. Damit bezog er sich allerdings auf den
       strafrechtlich relevanten Post, nicht auf die Berlinale-Gala, was
       zusätzlich zur Verwirrung beitrug. Der Einwand der Symbolpolitik gegen ihn
       erscheint gerechtfertigt.
       
       ## Erhöhte Alarmbereitschaft
       
       In der Zwischenzeit gab es, so was gehört zum Geschäft,
       Rücktrittsforderungen an Claudia Roth, insbesondere Bayerns
       Staatskanzleichef Florian Herrmann von der CSU hielt diese Intervention
       anscheinend für geboten. An dieser Forderung bemängelte denn auch der
       Präsident des Zentralrates der Juden, Josef Schuster, einen „faden
       Beigeschmack“. Mit seiner Frage, ob Roth „überhaupt einen Einfluss auf die
       Kulturpolitik in diesem Land“ habe, machte er ihr andererseits nicht
       unbedingt ein Kompliment für ihre Arbeit.
       
       Dass es in dieser Debatte nahezu um alles zu gehen scheint, hat bloß zum
       Teil mit einer erregungswilligen Öffentlichkeit zu tun. Nach den
       Erfahrungen mit antisemitischer Kunst auf der documenta fifteen ist die
       Alarmbereitschaft, wie sie sich jetzt gegenüber der 74. Berlinale zeigt,
       auch ein Zeichen dafür, dass große Teile des öffentlichen Lebens allein
       schon dem Eindruck entgegentreten wollen, bei Kulturveranstaltungen in
       Deutschland sehe man politisch nicht so genau hin. Und sei es „bloß“ eine
       unausgewogene Parteinahme.
       
       Selbst wenn man zu dem Ergebnis kommt, dass auf der Preisverleihung keine
       antisemitischen Worte fielen, kann man immer noch den Vorwurf erheben, die
       Gala sei mit einer Einseitigkeit aufgefallen, die politisch verheerend ist.
       
       ## Wunsch nach Widerspruch
       
       Ob man das Ergebnis hätte verhindern können, wird in Zweifel gezogen. Wie
       Meron Mendel, der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, in der Sache
       meinte: „Versuche, das alles von der Politik zu regulieren, funktionieren
       nicht.“ Sogar die Möglichkeiten der Berlinale, von sich aus während der
       Gala zu intervenieren, beurteilte Mendel skeptisch: „Solche Vorstellungen
       sind realitätsfern und hätten die Situation keineswegs besser gemacht.“
       
       Politiker wie Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda widersprechen. Er hätte
       sich „bei der Veranstaltung der Berlinale von den Beteiligten klaren
       Widerspruch gewünscht“. Auch die Vorsitzende des
       Bundestags-Kulturausschusses, Katrin Budde, findet: „Die Leitung, die
       Moderation, Jurymitglieder, andere Preisträger hätten die Möglichkeit
       gehabt.“
       
       Ob der Schluss Buddes, dass sich daran zeige, „wie stark der Antisemitismus
       und die Israelfeindlichkeit in Teilen der Kulturszene verankert ist“, sich
       durch die Ereignisse rechtfertigen lässt, mag erörterungsbedürftig sein.
       Doch kann man festhalten, dass dieses Unbehagen spätestens durch die
       documenta fifteen reichlich Nahrung erhalten hat und mit einem
       Gewährenlassen wie bei der Berlinale jetzt nichts erkennbar geschehen ist,
       um etwas daran zu ändern.
       
       Dass der Publizist Michel Friedman die Berlinale zum Anlass nahm, um in der
       SZ zu schreiben: „In der Kulturszene setzt sich schon seit Langem
       Aggressivität gegen den Staat Israel durch, und antisemitische Tendenzen
       werden immer radikaler“, muss man daher als Warnung ernst nehmen. Am Ende
       ist das letzte Wort zur Berlinale nicht entscheidend. Eine
       Auseinandersetzung um Antisemitismus in der Kultur ist es aber sehr wohl.
       Dass sie bei der Preisverleihung ausblieb, ist einer der Gründe, weshalb
       weiter so heftig um sie gestritten wird.
       
       1 Mar 2024
       
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