# taz.de -- Holocaust und Kolonialismus: Die Mythen der Anderen
       
       > Ein Blick auf deutsche Befindlichkeiten von Togo aus: Beobachtungen bei
       > einer Tagung zur Erinnerungskultur an der Universität Lomé.
       
 (IMG) Bild: Alltag in Lomé, Togo, Oktober 2021
       
       Wir werden beobachtet. Wie geht Deutschland mit seiner Geschichte um, mit
       seiner doppelten Gewaltgeschichte? Die Beobachter sind keineswegs nur Essay
       schreibende New Yorker Intellektuelle, sondern – viel leiser, viel weniger
       beachtet – auch afrikanische. Ich komme gerade aus Togo zurück, von einem
       internationalen Kolloquium über politische Macht, kollektives Gedächtnis
       und nachkoloniales Erinnern.
       
       Eingeladen hatte die Germanistik der Universität Lomé, es kamen
       GermanistInnen aus Benin, Kamerun, der Elfenbeinküste, aus Brasilien sowie
       von deutschen Unis. Was ich da zu suchen hatte? Schon springen wir ins
       Erstaunliche: Eine Forschungsgruppe in Lomé diskutierte ein Semester lang
       mein Buch „[1][Den Schmerz der Anderen begreifen]“ und lud mich dann ein,
       zur Eröffnung der Tagung zu sprechen.
       
       Ein Fall von „regards croisés“, sich kreuzenden Blicken: Die Tonlage meines
       Buchs, für ein verunsichertes deutsches Publikum geschrieben, enthielt für
       LeserInnen in Togo auch ethnografische Hinweise. Wie sorgsam Deutschlands
       geschichtspolitische Debatten verfolgt werden, registrierte ich mit einer
       gewissen Beschämung. Schon mir, der Eingeweihten, erscheint manches kaum
       rational vermittelbar. Wie wirkt dies alles auf Menschen aus Cotonou,
       Abidjan oder Yaoundé, die an einer eigenen intellektuellen Kartografie der
       Welt arbeiten?
       
       Sie waren höflich, blieben es auch, als etwas Seltsames geschah. Die Tagung
       kam mit finanzieller Unterstützung des Deutschen Akademischen
       Austauschdiensts zustande, doch der deutsche Botschafter mochte sein
       Grußwort plötzlich nicht mehr halten, der Repräsentant des DAAD erkrankte
       abrupt. Weil im Titel eines Vortrags [2][die Buchstaben BDS] vorkamen, war
       offensichtlich aus dem Mutterland „Alle Mann auf Tauchstation!“ gekabelt
       worden.
       
       ## Differenziertes Geschichtsverständnis
       
       Lieber eine Riege westafrikanischer Professoren brüskieren als bei
       irgendeinem Fuzzi in Deutschland einen Antisemitismus-Alarm auslösen –
       ungewollt ein luzider Beitrag zum Gegenstand der Tagung, zumal in einer
       ehemaligen deutschen Kolonie. Ein Kameruner spöttelte über die „Mythen der
       Anderen“, die es zu dechiffrieren gelte.
       
       Togo ist nicht Südafrika – Gaza und Israel spielten in Lomé kaum eine
       Rolle. Palästina dient dort nicht als Folie, um darauf die Befreiung von
       diversen Abhängigkeiten zu projizieren. Als Gegenpol zum aufgebrachten
       [3][Südafrika, das mit Palästina die Traumata der eigenen Geschichte
       verbindet], mag das stille Togo gleichfalls exzeptionell sein. Oder
       illustrieren beide Extreme womöglich, wie heterogen der Globale Süden
       tatsächlich ist, allein im Spektrum Afrikas?
       
       Von Lomé aus betrachtet wirkten die „Global South United“-Slogans auf
       Berliner Pro-Palästina-Demonstrationen wie Fabrikate romantischer Wünsche.
       Aber auch die gegenteilige, feindselige Pauschalisierung in manchen
       Feuilletons ist ja von Begierden getrieben: Wer alles Postkoloniale als
       antisemitisch stilisiert und den Globalen Süden als judenfeindlich, will
       ins Wanken geratene Hierarchien restaurieren, auf eine sehr deutsche Weise.
       
       Zivilisatorischer Dünkel kleidet sich heute in die Rede, nur der Holocaust
       sei ein Zivilisationsbruch; das lag für meine afrikanischen
       GesprächspartnerInnen auf der Hand. Sie drückten Empathie für die jüdische
       Leidensgeschichte aus, akzeptierten damit jedoch kein Geschichtsbild, das
       die Tragödien des Kontinents auf hintere Plätze verweist. Einige hatten zu
       den Verflechtungen zwischen Nationalsozialismus und Kolonialismus
       gearbeitet; ihnen war bewusst, wie toxisch die deutsche Debatte dazu ist.
       
       ## Nostalgie für die deutsche Kolonialzeit
       
       Gleichwohl zeigen sich eben in den Biografien von Männern, die ihre
       Erfahrungen als Kolonialbeamte in Togo anschließend in den Dienst des
       NS-Machtapparats stellten, personelle und ideologische Kontinuitäten. Sie
       zu erforschen, hieß es in Lomé, parallelisiere keineswegs die Verbrechen.
       Jenseits der Universität ist Togo für das Bemühen um ein gerechteres
       Weltgedächtnis ein schwieriges Pflaster.
       
       In der Bevölkerung fungiert eine gewisse Nostalgie für die deutsche
       Kolonialzeit als imaginäre Plattform, um die fortdauernde Abhängigkeit von
       Frankreich, der zweiten Kolonialmacht, zu beklagen. Historische Gräueltaten
       der Deutschen werden bislang auch in Schulbüchern eher beschwiegen, doch
       tritt allmählich die Realität ans Licht: Strafexpeditionen, Deportationen,
       [4][Raub von Schädeln], Experimente an Kranken.
       
       Aufklärend an dieser Front wirken nicht Historiker, [5][sondern
       Germanisten]: Sie können die Kolonialakten lesen, identifizieren Geraubtes
       in deutschen Museen und Depots. Bald sollen erstmals menschliche Gebeine zu
       Gemeinschaften in Nordtogo zurückkehren. Der Kampf richtet sich also nicht
       nur gegen eine deutsche Larmoyanz, die vom Bild der vermeintlichen
       Musterkolonie ungern lassen möchte, sondern ebenso gegen einheimische
       Widerstände.
       
       Togo ist eine Art Familiendiktatur, der profitable Beziehungen nach Europa
       wichtiger sind als irgendein postkolonialer Impuls. Und viele junge
       Menschen wollen nur weg, träumen von Migration und lernen massenhaft
       Deutsch als vermeintliches Ticket in ein besseres Leben. Der Dekan der
       philosophischen Fakultät, der mich eingeladen hatte, sieht das mit Trauer.
       Postkoloniale Abhängigkeit zu überwinden bedeutet aus seiner Sicht:
       Lebensumstände zu schaffen, die jungen Leuten das Bleiben ermöglichen.
       
       Wir saßen vor meiner Abreise lange in einer Bank, auf Euros wartend, in die
       ich meine Barschaft zurückwechseln wollte. Der westafrikanische Franc ist
       außerhalb der regionalen Währungszone nicht konvertierbar. Ein koloniales
       Spielgeld zugunsten französischer Interessen, eine tägliche Demütigung. Sie
       wird von den Menschen, die ich kennenlernte, ertragen, nicht akzeptiert.
       
       9 Mar 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=cYbd9YhxEMg
 (DIR) [2] /Kommentar-BDS-Votum-im-Bundestag/!5596313
 (DIR) [3] /Voelkermordklage-gegen-Israel-in-Den-Haag/!5982867
 (DIR) [4] /Umgang-mit-menschlichen-Ueberresten/!5956616
 (DIR) [5] /Germanist-aus-Togo-ueber-Rassismus/!5978996
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Charlotte Wiedemann
       
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