# taz.de -- Nancy Fraser über Cancel Culture: „Angriff auf die Meinungsfreiheit“
       
       > Die US-Philosophin Nancy Fraser über die Gründe für ihre Ausladung durch
       > die Uni Köln, den deutschen Umgang mit Israel und Boykotte gegen das
       > Land.
       
 (IMG) Bild: Nancy Fraser ist Philosophin und eine der bekanntesten US-amerikanischen Feministinnen. Hier 2022 in Berlin
       
       taz: Frau Fraser, Sie sollten im Mai an der Universität zu Köln eine
       Gastprofessur antreten. [1][Die wurde jetzt kurzfristig abgesagt]. Wie kam
       es dazu? 
       
       Nancy Fraser: Ich stand seit Monaten im Austausch mit der Universität, um
       meinen Aufenthalt vorzubereiten. Im Juli 2023 wurde ich offiziell
       eingeladen. Vor etwa zehn Tagen erhielt ich dann eine E-Mail, in der es
       hieß, dass der Rektor über eine Erklärung, die ich vergangenen November
       unterschrieben habe, besorgt sei und dass er gerne meine Ansichten über den
       Staat Israel hören würde.
       
       Die Universität sagt, Ihre Antwort habe „keine neuen Erkenntnisse zum
       Sachstand und zu Ihrer Position gegenüber Israel erbracht“. 
       
       Ich hielt diese Anfrage für unangebracht. Aber ich schrieb, zu diesem Thema
       gebe es verschiedene Meinungen und viel Schmerz auf allen Seiten, auch für
       mich als Jüdin. Aber ich hätte gelesen, dass sich der Rektor für einen
       freien und offenen Dialog einsetzt, und darauf könnten wir uns alle
       einigen. Ich hatte gehofft, dass die Angelegenheit damit erledigt wäre.
       Aber schon am nächsten Tag erhielt ich eine Mail vom Rektor selbst, in der
       er mir mitteilte, dass er angesichts meiner Unterstützung des offenen
       Briefs „Philosophy for Palestine“ leider keine andere Wahl habe, als seine
       Einladung zurückzuziehen.
       
       Haben Sie mit dem Rektor der Uni Köln, Joybrato Mukherjee, gesprochen?
       
       Nein, aber ich sehe, dass er mit deutschen Medien spricht und Nebelkerzen
       wirft, um davon abzulenken, dass das ein unverfrorener Angriff auf die
       akademische Freiheit ist, auf die Autonomie der Wissenschaftler, die mich
       als Gastprofessorin ausgewählt haben, und ein Angriff auf die
       Meinungsfreiheit insgesamt. Wie jeder Bürger habe ich das Recht, mich am
       politischen Diskurs zu beteiligen, ohne um meinen Job fürchten zu müssen.
       Wenn ich mich nicht irre, ist dieses Recht auch in Deutschland in der
       Verfassung verankert.
       
       In der [2][„Frankfurter Rundschau“ ist zu lesen], Herr Mukherjee würde
       gerne öffentlich mit Ihnen über die Gründe für seine Ausladung diskutieren.
       Was halten Sie davon? 
       
       Nun, das habe ich auch gelesen, aber ich habe keine solche Einladung
       erhalten, das ist eine Lüge. Und warum sollte ich mit ihm überhaupt über
       die Gründe für meine Kündigung diskutieren? Er hat ein PR-Problem. Aber es
       ist nicht meine Aufgabe, ihm zu helfen, den Schaden zu reparieren, den er
       seinem Ruf zugefügt hat.
       
       Der Rektor wirft Ihnen vor, Sie hätten mit Ihrer Unterschrift unter diesen
       Brief den Angriff der Hamas relativiert, das Existenzrecht Israels infrage
       gestellt und zum Boykott israelischer Institutionen aufgerufen. Was sagen
       Sie dazu? 
       
       Ich bin keine Kriminelle, die angeklagt ist und sich rechtfertigen muss.
       Ich habe nur von meinem Recht als freier Bürger Gebrauch gemacht, meine
       Meinung in Form einer Unterschrift unter einem offenen Brief kundzutun. Ich
       möchte aber erläutern, was wirklich in dem Brief stand, denn es kursieren
       zutiefst diffamierende Behauptungen darüber. Der Brief drückt Solidarität
       mit den Menschen in Palästina aus, und ich würde sagen, dass das heute noch
       dringender ist als damals, als er veröffentlicht wurde. Er stellt die
       aktuelle Krise in den Kontext einer breiteren Geschichte von Gewalt und
       Besatzung, Enteignung und Vertreibung, und er verurteilt ausdrücklich die
       Ermordung von Zivilisten, sowohl in Israel als auch in Palästina. Um das
       Leben aller Menschen, die in der Region leben, zu schützen, müssen die
       Bedingungen, die Gewalt hervorbringen, beendet werden – das steht in dem
       Brief. Kein Wort darüber, dass Israel kein Existenzrecht hätte.
       
       Das stellen Sie nicht infrage? 
       
       Ich und die rund vierhundert Menschen, die diese Erklärung unterschrieben
       haben, werden durch solche Behauptungen verleumdet. Der Rektor und die
       Kräfte innerhalb der deutschen Regierung, die ihn unterstützen, sollten mit
       ihren Falschdarstellungen des Briefs konfrontiert werden und für diese
       Verzerrungen zur Rechenschaft gezogen werden. Der Kölner Rektor ist
       übrigens auch [3][der Präsident des DAAD], der den gesamten Austausch der
       deutschen Wissenschaft mit internationalen Wissenschaftlern und Studenten
       organisiert. Wenn es für Stipendien und andere Formen des akademischen
       Austauschs jetzt diese Art von McCarthyhaften Anforderungen geben sollte,
       wäre das sehr beunruhigend.
       
       Wer für einen Boykott ist, der dürfe sich nicht beschweren, wenn er selbst
       boykottiert wird, sagen manche. 
       
       Nun, ich werde nicht boykottiert. Ich werde im Grunde gefeuert von einem
       Job, den zu übernehmen ich vertraglich vereinbart habe. Wer fordert, Israel
       zu boykottieren, will nicht andere Menschen für ihre Meinung bestrafen oder
       andere Menschen feuern, sondern einen Staat sanktionieren, dem er
       Menschenrechtsverletzungen und Schlimmeres vorwirft. Das ist etwas völlig
       anderes und der Vergleich so absurd wie Äpfel und Birnen. Aber es ist
       bezeichnend, mit welchen Argumenten die Leute versuchen, vom eigentlichen
       Skandal abzulenken.
       
       Wie stehen Sie zur [4][Boykottbewegung BDS]? 
       
       Ich habe den Aufruf zu einem wirtschaftlichen Boykott Israels zur
       Beendigung der Besatzung immer unterstützt, hatte aber Zweifel an einem
       akademischen Boykott – nicht aus prinzipiellen Gründen, sondern weil ich
       meinen Kolleginnen und Kollegen an israelischen Universitäten, die gegen
       die Besatzung sind und die sich heute mutig gegen den Krieg im Gazastreifen
       stellen, nicht schaden wollte. Aber ich habe den Boykott der akademischen
       Einrichtungen in Südafrika unterstützt, und ich würde auch nicht an eine
       israelische Universität gehen, um dort einen Vortrag zu halten. Aber das
       ist meine persönliche Entscheidung.
       
       Judith Butler wird in Deutschland angefeindet, eine Preisverleihung für
       [5][Masha Gessen] wurde abgesagt. Die Direktorin des Einstein-Forums Susan
       Neiman sagt, sie will Deutschland verlassen. Ist Ihr Fall symptomatisch? 
       
       Ehrlich gesagt fühle ich mich geehrt, in einer Reihe mit diesen
       bemerkenswerten, prinzipientreuen und mutigen Menschen zu stehen. Aber ich
       weiß auch von palästinensischen Filmemachern, Schriftstellerinnen und
       anderen, die gecancelt wurden. Prominenten wie uns wird mehr Aufmerksamkeit
       geschenkt. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht auch viele andere
       Menschen gibt, die davon betroffen sind.
       
       Sehen Sie die Meinungsfreiheit in Deutschland bedroht? 
       
       Ich bin zu selten in Deutschland, um mir ein Urteil zu erlauben. Aber in
       den Vereinigten Staaten und in vielen anderen Ländern entsteht der
       Eindruck, dass Deutschland von einer Art McCarthy-Fieber befallen ist.
       Kritiker der israelischen Staatspolitik werden des Antisemitismus
       beschuldigt und das Existenzrecht Israels zu leugnen. Die meisten dieser
       Vorwürfe sind völlig aus der Luft gegriffen und werden benutzt, um eine
       rechte politische Agenda voranzutreiben. Das ist sehr traurig. Viele
       Deutsche fühlen verständlicherweise eine besondere Verantwortung gegenüber
       Juden. Aber man darf diese Verantwortung nicht mit der Unterstützung einer
       rechten, hypermilitaristischen, expansiven israelischen Regierung
       gleichsetzen.
       
       Sondern? 
       
       Die jüdische Erfahrung ist sehr reich und sehr tief. Warum empfindet man
       nicht mehr Verantwortung gegenüber der jüdischen Tradition, die von
       Spinoza, Heinrich Heine, Sigmund Freud bis hin zu Albert Einstein reicht?
       Das ist der Teil der jüdischen Tradition, mit dem ich mich persönlich als
       Jüdin identifiziere. Er hat nichts mit israelischem Nationalismus und schon
       gar nichts mit dieser schrecklichen Regierung zu tun, die Palästinenser als
       „Tiere“ bezeichnet. Es gibt in Deutschland ein großes Missverständnis
       darüber, was es bedeutet, der deutschen Verantwortung gegenüber Juden
       gerecht zu werden.
       
       Sehen Sie Parallelen zu aktuellen Campus-Debatten in den USA? 
       
       Die Parallele besteht darin, dass der Vorwurf des Antisemitismus als Waffe
       eingesetzt wird, und es steht außer Frage, dass die Ergebnisse sich am Ende
       ähneln: Die freie Meinungsäußerung und die politische Debatte werden
       abgewürgt. Unsere Universitäten, vor allem unsere berühmten
       Ivy-League-Universitäten, werden aber weitgehend privat finanziert. Was wir
       hier erleben, ist ein Aufstand eines Teils der großen Geldgeber, die
       versuchen, die akademische Freiheit der Fachbereiche, der Studierenden, der
       Verwaltungen, der Universitätspräsidenten, der Dozenten und anderer
       Mitarbeiter einzuschränken. Dass Leute, die reich sind und Geld spenden,
       versuchen, Einfluss darauf zu nehmen, was an den Universitäten gelehrt
       wird, das hat es früher schon gegeben. Aber jetzt hat es einen neue Stufe
       der Dreistigkeit erreicht: Sie tun es ganz offen und ohne Scham.
       
       Sehen Sie an US-Universitäten kein Antisemitismus-Problem? 
       
       Es steht außer Zweifel, dass es in den Vereinigten Staaten und an vielen
       anderen Orten Antisemitismus gibt. Zu sagen, dass er als Waffe eingesetzt
       wird, bedeutet nicht, das anzuzweifeln. Aber ich würde sagen, dass es
       arabische, muslimische oder palästinensische Studenten und Kritiker der
       Gaza-Invasion auch nicht einfach haben. Und auf der anderen Seite gibt es
       in den Vereinigten Staaten eine wichtige Kraft, welche die israelische
       Politik der Zerstörung in Gaza ohne Vorbehalte unterstützt, und das sind
       die christlichen Evangelikalen. Sie glauben, dass der Messias erst dann
       kommen wird, wenn alle Juden im Staat Israel versammelt sind und Israel vom
       Fluss bis zum Meer reicht. Dann werden die Christen in den Himmel
       aufsteigen und die Juden, die nach Israel gegangen sind, werden in der
       Hölle brennen, zusammen mit den Muslimen und allen anderen.
       
       Wie stark prägen solche Stimmen den Diskurs? 
       
       Was sich in den Vereinigten Staaten geändert hat, ist, dass es mehr
       Sendezeit für palästinensische Stimmen und Stimmen der Solidarität mit den
       Palästinensern gibt. Wir hatten viele Jahre lang eine sehr einseitige
       öffentliche Sphäre. Das ändert sich jetzt, und ich glaube, dass das die
       israelische Rechte in Angst und Schrecken versetzt. Denn sie ist es nicht
       gewohnt, ihre Position in der Öffentlichkeit verteidigen zu müssen. Jetzt
       muss sie es.
       
       Zurück zu Ihrer Gastprofessur: Welche Folgen hat die Absage für Sie? 
       
       Im Moment habe ich keine Zeit, meiner eigentlichen Arbeit nachzugehen, weil
       ich zu sehr damit beschäftigt bin, E-Mails zu schreiben und Interviews zu
       geben. Ich erhalte viel Unterstützung und habe verschiedene Angebote, die
       abgesagte Albertus-Magnus-Vorlesung woanders zu halten.
       
       Vielleicht müssen Sie Ihren Flug also nicht stornieren? 
       
       Ich denke schon. Und ich erwarte, dass ich dafür entschädigt werde.
       
       Erwägen Sie rechtliche Schritte gegen die Uni Köln? 
       
       Derzeit bevorzuge ich es, eine öffentliche Debatte zu führen. Aber wir
       werden sehen. Es kann durchaus sein, dass ich mich irgendwann dazu
       entschließen werde.
       
       9 Apr 2024
       
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