# taz.de -- „Kolonialismus erinnern“ im Berliner HKW: Erkämpfte Räume verteidigen
       
       > Im Haus der Kulturen der Welt wurde das Berliner Konzept „Kolonialismus
       > erinnern“ vorgestellt. Propalästinensische Aktivisten versuchten zu
       > kapern.
       
 (IMG) Bild: Dr. Ibou Diop: Projektleiter der Veranstaltung „Kolonialismus erinnern“ im Haus der Kulturen der Welt, am 25.04.2024 Honorarfreies Pressefoto
       
       Die Opfer des deutschen Kolonialismus aus dem Schatten der Geschichte zu
       befreien, das hat sich das gesamtstädtische Erinnerungskonzept
       „Kolonialismus erinnern“ zum Anliegen gemacht. Unter der Projektleitung des
       Literaturwissenschaftlers Ibou Diop wurde das Grundsatzprogramm für den
       Berliner Senat fünf Jahre lang ausgearbeitet.
       
       Am Prozess beteiligt waren eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher
       Initiativen, darunter Decolonize Berlin e. V., Dekoloniale
       Erinnerungskultur in der Stadt, Adefra e. V. und das Stadtmuseum Berlin.
       Nun wurde das Ergebnis im Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW)
       präsentiert – doch nicht ohne Störung.
       
       Wie bedeutungsvoll der sich anschließende zweitägige Kongress sein werde,
       signalisierte Moderatorin Miriam Camara schon zu Beginn des
       Begrüßungsprogramms: für sie ein „historischer Moment für Berlin,
       Deutschland und auch darüber hinaus“. Worauf dieser Moment fußt, daran ließ
       keiner der Redner einen Zweifel: auf den Errungenschaften derer, deren
       Namen bewusst dem Vergessen preisgegeben wurden, um die Spuren kolonialer
       Gewalt zu verwischen.
       
       „Kolonialismus erinnern“ heißt für Projektleiter Diop deshalb, in Anlehnung
       an [1][den afrokaribischen Autor und Politiker Aimé Césaire,] aus dem Zwang
       auszubrechen, die Gewalt der Vergangenheit zu wiederholen.
       
       ## Stärkung der pluralen Gesellschaft
       
       Kultursenator Joe Chialo (CDU) sieht im geschichtsphilosophischen Projekt
       vor allem ein „solidarisches Erinnern“, das auf die Stärkung der pluralen
       Gesellschaft zielt. Folgt man aber den Worten von [2][HKW-Intendant
       Bonaventure Soh Bejeng Ndikung], klingt das noch nach Zukunftsmusik. „Die
       Kolonialgeschichte hat ihren Weg noch immer nicht in die Schulbücher
       gefunden“, sagte er – das historische Moment schreie nach wirklichem
       Wandel.
       
       Zunächst schrien am Donnerstagnachmittag aber propalästinensische
       Aktivisten: Als „Genozidleugner“ bezeichneten sie Claudia Roth und Joe
       Chialo. Mit Palästinafahnen und Protestplakaten stürmte eine Handvoll von
       ihnen auf die Bühne. Aufgeregt verlasen sie ein Pamphlet und riefen „Viva
       Palestina“.
       
       Während Roth sich stillschweigend in den Schatten der Bühne zurückzog,
       griff Moderatorin Miriam Camara ruhig, aber entschlossen durch. Nach
       einigen vergeblichen Versuchen, in den Dialog mit den monologisierenden
       Protestlern zu treten, erhob sie ihre Stimme: „Das ist ein Raum Schwarzer
       Menschen in Deutschland. Den haben wir uns erkämpft. Hier geht es um
       Kolonialismus, nicht um euch.“
       
       Zur Unterstützung eilten das Awarenessteam und Projektleiter Ibou Diop. Die
       Situation löste sich zunächst auf, es sollten noch vier weitere
       Störversuche folgen. Das Publikum wirkte zunehmend übersättigt, viele
       buhten, einige applaudierten.
       
       ## Herzstück von Roths Kulturpolitik
       
       Als Claudia Roth aus dem Schatten trat, lächelte sie und sagte
       abschließend: „Zur Demokratie gehören Kontroversen.“ Ihre Aufmerksamkeit
       galt nur dem Berliner Erinnerungsprojekt. Das reklamierte sie als Herzstück
       ihrer Kulturpolitik und betonte die Notwendigkeit der verantwortungsvollen
       Aufklärung deutscher Kolonialgeschichte.
       
       Ihr Ziel: „Versöhnung und Verständnis.“ Dafür lobte sie auch die
       parteiübergreifende Initiative des Berliner Senats. Wenig Wohlwollen schlug
       Roths Kulturpolitik letztens von den Unterzeichnern eines an sie
       gerichteten Protestbriefs entgegen. [3][Gedenkstättenleiter und
       Dachverbände üben darin Kritik an Roths kürzlich veröffentlichtem
       „Rahmenkonzept Erinnerungskultur“.] Die Befürchtung: NS-Verbrechen drohten
       so relativiert zu werden.
       
       Kritik wie diese versuchte man auf der Bühne zu verhindern, bevor sie
       aufkam: Nachdem die Störer gescheitert waren und Claudia Roth noch vor
       einem sie adressierenden Beitrag [4][der Autorin Sharon Dodua Otoo]
       gegangen war, suchten Ibou Diop und der Autor Max Czollek in einem
       vorgetragenen Briefwechsel nach Gemeinsamkeiten im Verschiedensein zweier
       Erinnerungskulturen. Die fanden sie im Gefühl der Trauer um die Opfer, aber
       auch im Gefühl der Liebe, der Solidarität zwischen Betroffenen, das dem
       falschen Denken in „Opferkonkurrenzen“ entgegenstehe.
       
       ## Lernort zum Kolonialismus
       
       Im Spektakel aus Protest, Musik, Utopie und geschichtsgroßen Gefühlen
       drohte schließlich unterzugehen, dass es konkrete Forderungen an die
       Politik gibt. Unter anderem: die Schaffung eines zentralen Lern- und
       Gedenkortes Kolonialismus, der Ausbau der Forschung zur
       Kolonialgeschichte, die Umbenennung von Straßen und die Etablierung einer
       Stiftung zur Förderung der Erinnerungsarbeit.
       
       In Berlin solle konkret etwas in der Wilhelmstraße 92 geschehen, gab
       Kultursenator Chialo bekannt. Er könne sich dort einen Lernort zum
       Kolonialismus vorstellen. Momentan betreibt das Stadtmuseum dort den
       Projektraum „Dekoloniale“. Die Adresse ist reichlich vorbelastet: Otto von
       Bismarck hatte hier seine Reichskanzlei. 1884/85 wurde in den Räumen die
       sogenannte Kongokonferenz abgehalten, wo die Aufteilung des afrikanischen
       Kontinents in Kolonien beschlossen wurde.
       
       26 Apr 2024
       
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