# taz.de -- Postkoloniale Theorie und Antisemitismus: Die dunkle Kehrseite
       
       > Die Postcolonial Studies stehen seit dem 7. Oktober wieder verstärkt in
       > der Kritik. Die Frage ist, wie antisemitisch sie sind. Eine Analyse.
       
 (IMG) Bild: Dekolonialisieren mit Palituch auf der „Decolonize Universities“-Demo, 20. 12. 2023, UdK, Berlin
       
       Die Postcolonial Studies in Gänze des Antisemitismus zu bezichtigen, ist
       ziemlich absurd. Viel zu heterogen und divers sind die Ansätze, die sich
       seit den letzten dreißig bis vierzig Jahren unter diesem Label tummeln. Die
       unter dem Sammelbegriff subsumierten Bücher, Aufsätze und Polemiken
       umfassen literatur- und sozialgeschichtliche, gesellschaftstheoretische und
       aktivistische Ansätze, die aus verschiedenen Weltregionen stammen.
       
       Ihre Perspektiven sind so transnational wie transdisziplinär, umfassen
       Literatur- und Sozialwissenschaften, Geschichte und politische Ökonomie und
       fußen auf unterschiedlichen Mischungen von marxistischen und
       poststrukturalistischen Grundannahmen.
       
       Gemeinsam ist ihnen sicher nicht der Antisemitismus, was sie eint, ist
       vielmehr der Versuch, die koloniale Beschaffenheit von Geopolitik und
       Sprache, Gesellschaft und Wissensproduktion zu erforschen. Das Präfix
       „post-“ bezeichnet dabei nicht einfach die Zeit „nach dem Kolonialismus“,
       sondern es stellt die Frage nach Kontinuitäten kolonialer Herrschaft: in
       der ökonomischen Ausbeutung, wie die Dependenztheorien der 1960er und 70er
       Jahre sie analysiert haben, in der kulturellen Unterordnung, wie die South
       Asian Subaltern Studies um den Historiker Ranajit Guha sie beschrieben
       haben, in der Wissensproduktion, wie Edward Said und Gayatri Chakravorty
       Spivak sie herausgearbeitet haben.
       
       ## Massiv in der Kritik
       
       Die Postcolonial Studies haben wichtige Beiträge zum Verständnis der
       Moderne und ihrer dunklen Kehrseite, des Kolonialismus, geliefert.
       Angesichts des globalen Ausmaßes der europäischen Kolonialgeschichte
       erscheint ein solcher Fokus mehr als angebracht. Umso bitterer, dass die
       Postcolonial Studies ausgerechnet in dem Moment über das wissenschaftliche
       Feld hinaus Bekanntheit erlangen, als sie massiv in der Kritik stehen.
       
       Die Vorwürfe des Antisemitismus wurden schon während der Debatte um einen
       Auftritt des [1][Kameruner postkolonialen Theoretikers Achille Mbembe]
       diskutiert und während der [2][documenta fifteen] erneuert. Sie sind nicht
       gänzlich unbegründet.
       
       Denn es gibt sie, die antisemitischen Aspekte in den Schriften der post-
       und dekolonialistischen Theorie, und sie gehen erstens oft mit einer
       Ausblendung der Shoah einher, sowohl für die Idee der Moderne als auch für
       die Entstehung des Staates Israel. Zweitens wird nicht selten der Terror
       des Islamismus unterschätzt oder gar bagatellisiert.
       
       ## Politisch motivierte Übertragung
       
       Gayatri C. Spivaks langer Aufsatz „Can the Subaltern Speak?“ (1988) gehört
       zu den kanonisierten Texten der Postcolonial Studies. Darin führt sie die
       von Antonio Gramsci aufgeworfene Frage nach den Möglichkeiten der
       Ausgegrenzten fort, sich Gehör zu verschaffen. Sie diskutiert das Beispiel
       der jungen Frau Bhuvaeswari Bhaduri, die sich 1926 sechzehn- oder
       siebzehnjährig das Leben nahm.
       
       Die junge Inderin brachte sich um, stellte aber sicher, dass ihr Suizid
       nicht als Folge „einer verbotenen Leidenschaft“ interpretiert werden
       konnte. So erlangte sie im Tod noch Handlungsmacht. Spivak will die Tat
       politisch gelesen wissen, als Statement zum Widerstand.
       
       In einer Relektüre ihres Textes überträgt sie 2014 ihr Beispiel dann auf
       eine Situation, die sie für die gegenwärtig frappierendste kolonialer
       Herrschaft hält: die Situation in Israel und Palästina. Sie schreibt über
       palästinensische Selbstmordattentäterinnen und plädiert für ein Verständnis
       im doppelten Sinne: Sie möchte verstehen, aber auch Verständnis im Sinne
       von Empathie schaffen. Denn in beiden Fällen ginge es um „das Bedürfnis,
       die Normalität kollektiv zu verändern“.
       
       Dass die Attentäterinnen nicht nur Suizid, sondern auch Morde begehen,
       erscheint Spivak nicht nur nachvollziehbar. Sie eröffnen ihr eine
       Perspektive des antikolonialen Widerstands, die sie für nicht weniger
       interessant hält als das Beispiel von Bhaduri. Morde an Menschen
       wohlgemerkt, die vor allem deshalb umgebracht werden, weil sie Jüdinnen und
       Juden sind. Eine solche Bagatellisierung islamistischen und antisemitischen
       Terrors ist kein Einzelfall.
       
       ## Dekolonisieren mit Chomeini?
       
       Der argentinische Literaturwissenschaftler und dekolonialistische
       Theoretiker Walter D. Mignolo spricht sich in seinem Buch „Epistemischer
       Ungehorsam“ (2006, Dt. 2012) für eine Loslösung vom „westlichen Denken“
       aus. Die europäischen Theorien der Befreiung seien dafür nicht ausreichend,
       sie hätten den Kolonialismus nicht wirklich mitgedacht.
       
       Ist das in vielen Fällen wohl zutreffend, muss die Auswahl der
       Denker:innen, die Mignolo dann als Gewährsleute für seine dekoloniale
       Option heranzitiert, doch irritieren. Dazu gehören nämlich nicht nur linke
       Antikolonialisten wie Aimé Césaire und Frantz Fanon. Zu den Denkern, die
       die „Dekolonialität klar formuliert“ hätten, zählt Mignolo in einer
       Nebenbemerkung auch den iranischen Revolutionsführer Ajatollah Chomeini.
       
       Chomeini ist bekanntlich für die Inhaftierung Zehntausender und die
       Exekution von Tausenden Gegner:innen der Islamischen Revolution
       verantwortlich. Mehrfach hatte er Israel als „Krebsgeschwür“ bezeichnet und
       zu dessen Vernichtung aufgerufen.
       
       ## Wüste Verschwörungstheorien
       
       Ein weiterer dieser „islamischen Denker“, auf die Mignolo sich en passant
       beruft, ist Sayyid Qutb (1906–1966). Der islamistische Theoretiker hatte
       die ägyptische Muslimbrüderschaft stark beeinflusst und in seinem Pamphlet
       „Unser Kampf mit den Juden“ (1950) wüste Verschwörungstheorien verbreitet.
       
       Diese gipfeln in der Behauptung, „Allah hat Hitler gebracht, um sie [die
       Juden] zu beherrschen“. Chomeini und Qutb spielen im Werk Mignolos, das
       muss zu seiner Verteidigung betont werden, ansonsten keine Rolle. Umso mehr
       muss es daher verwundern, dass er deren Schriften neben anderen
       dekolonialen Perspektiven als entscheidend „für die Entwürfe einer globalen
       Zukunft“ einstuft.
       
       Mit Spivak und vielen anderen antiimperialistischen Linken teilt Mignolo
       die Einschätzung vom kolonialen Charakter Israels. Die Entstehung des
       Staates Israel beschreibt er als Effekt der Anbindung säkularer Jüdinnen
       und Juden an euro-amerikanische, politische und ökonomische Praktiken, kurz
       den „imperialen Kapitalismus“. Die Shoah taucht in dieser Erzählung nicht
       auf.
       
       Deutlich weiter geht der puertorikanische Soziologe Ramón Grosfoguel, der
       wie Mignolo ebenfalls der dekolonialistischen Theorie aus Lateinamerika
       zuzurechnen ist. Für ihn sind die Jüdinnen und Juden nicht einfach nur
       weiße Imperialist:innen. Vielmehr stünden die jüdischen Israelis für die
       Kontinuität einer „kolonial rassistischen Ideologie“. Der „Hitlerismus“ sei
       zurück, und zwar dieses Mal, um Palästinenser:innen zu jagen.
       
       ## Relativierung von Terror
       
       Anders als bei Spivak und Mignolo muss man bei Grosfoguel nicht lange
       heruminterpretieren: Er unterstützt die „Boycott, Divestment,
       Sanctions“-Bewegung, hält Israel für einen „rassistischen/kolonialen Staat“
       und behauptet, dieser betreibe seit 1948 eine „ethnische Säuberung“. In
       einem Text vom 1. Februar dieses Jahres, veröffentlicht auf der Seite der
       „Islamic Human Rights Commission“, nennt er Gaza das „Warschauer Ghetto des
       21. Jahrhunderts“ und behauptet, die Hamas habe am 7. Oktober vor allem das
       israelische Militär und nicht Zivilist:innen attackiert.
       
       Selbst Edward Said übrigens, der palästinensische Intellektuelle, der mit
       seiner Studie „Orientalism“ (1978) die Postcolonial Studies mitbegründet
       hatte, hat sich zu solch einer Relativierung islamistischen Terrors nie
       hinreißen lassen. Er bedauerte die Interpretationen seines Werkes, die
       dieses als „eine Art Bekenntnis zu nationalistischem Eifer“ missverstanden
       hätten.
       
       Er wandte sich auch gegen die „vermeintlich antiwestliche Stoßrichtung“,
       die „Orientalism“ in der Rezeption nachgesagt wurde. Allerdings hatte auch
       er in „The Question of Palestine“ (1979) die fragliche Gleichsetzung von
       Jüdinnen und Weißen nahegelegt. Die zionistischen Siedler in Palästina
       hätten sich zu einer Analogie der „weißen Siedler in Afrika“ verwandelt.
       
       Doch Jüdinnen und Juden als Weiße zu klassifizieren, leugnet nicht nur die
       [3][Kontinuität des Antisemitismus]. Es wird auch einem ureigenen Anspruch
       der Postcolonial Studies nicht gerecht, der diese über die Jahrzehnte
       geprägt hat: die niemals statische Heterogenität und Hybridität kollektiver
       Identifizierungen herauszuarbeiten.
       
       4 Mar 2024
       
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 (DIR) Jens Kastner
       
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