# taz.de -- Buch über postmoderne Theorie: Von Paris nach Algier
       
       > Der Ideengeschichtler Onur Erdur untersucht in Porträts von Pierre
       > Bourdieu bis Jacques Rancière die kolonialen Wurzeln der französischen
       > Theorie.
       
 (IMG) Bild: Algier 1962, kurz nach Ende des Dekolonisationskrieges
       
       Philosophie, sagt Hegel, ist „ihre Zeit in Gedanken gefasst“. In Gedanken
       gefasst ist in ihr aber auch das subjektive Erfahrungswissen der
       Philosophen, und zwar in verallgemeinert Form, ohne dass man die Spuren
       ihrer Genese noch erkennen könnte. Ein Glück ist es, wenn Ideenhistoriker
       in der Lage sind, solche profane Entstehungskontexte zu rekonstruieren.
       Dann kann man „das Werk“ mit anderen Augen lesen.
       
       Solches ist Onur Erdur, Historiker am Kulturwissenschaftlichen Institut der
       Humboldt Universität zu Berlin, gelungen. Er legt in Schule des Südens die
       kolonialen Wurzeln der sogenannten französischen Theorie frei.
       
       Die philosophischen Strömungen des Poststrukturalismus und
       Dekonstruktivismus faszinierten in den 1980er und 1990er Jahren in
       Deutschland zwei Generationen von Studierenden. Dann ebbte die Faszination
       für Derridada und Lacan ab. Heute aber berufen sich postkoloniale Theorien
       wieder oft auf Foucaults Diskursanalyse, und zwar ausgehend von Edward
       Saids „Orientalismus“-These, nach der der Westen den Orient erst
       konstruiert habe, um ihn zu beherrschen.
       
       Oder die Kritik am Postkolonialismus macht die „französische Theorie“
       gleich mitverantwortlich für manichäische Gegenüberstellungen zwischen „dem
       Westen“ und dem „globalen Süden“ und die Denunzierung der Aufklärung als
       westliches Herrschaftsmittel.
       
       ## Biografisch verbunden
       
       Diese Identifizierung – das zeigt Schule des Südens in beeindruckender
       Weise durch historische Genauigkeit – ist nicht nur vereinfachend, sondern
       zum Teil grotesk falsch. Allerdings ist es tatsächlich frappierend, wie
       viele der französischen Philosophen mit den kolonisierten maghrebinischen
       Ländern biografisch verbunden waren. Der Poststrukturalismus hat nicht nur
       eine postkoloniale Gegenwart, sondern eine koloniale Vergangenheit.
       
       Pierre Bourdieu zum Beispiel leistete in Algerien während des
       Dekolonisationskrieges seinen Militärdienst, und zwar in stiller
       Opposition. Dort wurde er zu einem Linken und betrieb private soziologische
       Studien, aus denen später seine Sozialtheorie des Habitus entstand.
       
       Lyotards Erfahrungen der „hoffnungslosen Widersprüchlichkeit“, in die er zu
       Beginn der 1950er Jahre als privilegierter französischer Lehrer im
       ostalgerischen Constantine geriet, wo er sich für die antikoloniale FLN
       (Front National Libération) engagierte, steht in Korrespondenz zu seiner
       Idee der Postmoderne, die von der Skepsis gegen universale Erzählungen
       geleitet ist, sei es die mission civilisatrice des französischen
       Kolonialismus, sei es der Marxismus, auf den sich die antikolonialen
       Bewegungen oft beriefen.
       
       [1][Roland Barthes] und [2][Michel Foucault] ließen sich vom homoerotischen
       Orientalismus treiben und hatten während ihrer Zeit in Marokko und Tunesien
       doch Erleuchtungen, die koloniale Mythen dekonstruierten oder
       „Heterotopien“, also Gegenräume zur westlichen Zivilisation, entdeckten.
       
       ## Zwischen den Fronten
       
       Die kolonialen Wurzeln der französischen „Theorie-Generation“ der zwischen
       1930 (Pierre Bourdieu) und 1942 (Étienne Balibar) geborenen Intellektuellen
       werden entlang von Einzelessays erschlossen, in denen jeweils eine Person,
       ein Ort und ein theoretisches Kristallisationsmoment der kolonialen
       Situation im Mittelpunkt stehen.
       
       Besonders aufschlussreich sind die Fälle von [3][Jacques Derrida] und
       [4][Hélène Cixous.] Beide wuchsen als jüdische Franzosen in Algerien auf,
       deren Familien während des Weltkriegs von Vichy ausgebürgert wurden und die
       als Juden immer wieder zwischen die Fronten der kolonialen Situation
       gerieten. Während des Algerienkrieges übersiedelten sie schließlich in das
       Land ihrer Muttersprache.
       
       Hier traten die beiden Anfang der 1960er miteinander in Kontakt, ohne dass
       die geteilten Erfahrungen zunächst eine Rolle spielten. Doch Derridas
       historisch-politische Allergie gegen „Herden-Identifizierung“ ist
       zweifelsohne Grundmotiv seiner philosophischen Beschäftigung mit
       „Identität“.
       
       Cixous avancierte zu einer führenden Figur des Differenzfeminismus. Ihre
       „Algèriance“ spiegelte sich in der Idee vom „weiblichen Schreiben gegen das
       phallozentrische System“ wider. Die eine Erfahrung von Anderssein und
       Exklusion half der anderen, sich zu artikulieren.
       
       Die Theorien der französischen Philosophen entstanden weniger in Pariser
       Bibliotheken und Denkstuben als in den Straßen von Algier, Oran und Tunis.
       In Onur Erdurs Buch führt kein Biografismus die Feder, wir lesen keine
       Genealogie in dem Sinne: Der Philosoph hat sein Konzept schon vorher
       erlebt, aber doch wird klar, wie biografisch-historisch-politisch auch
       große Philosophie ist. Diese Reise in die Kolonien der philosophischen
       Avantgarde ist in seiner Argumentation umsichtig und stilistisch sehr
       elegant.
       
       9 May 2024
       
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