# taz.de -- Antisemitismus auf der documenta fifteen: Größenwahn und Niedertracht
       
       > Die documenta fifteen ist Produkt einer ahistorischen und
       > folkloristischen Kunstauffassung. Aber auch Ausdruck institutioneller
       > Überheblichkeit.
       
 (IMG) Bild: Abgehängt: Hier hing das riesige Banner von Taring Padi in Kassel. Die Debatte geht munter weiter
       
       Das veranschlagte Budget für die documenta fifteen beträgt 42,2 Millionen
       Euro. Keine geringe Summe. Doch sah man sich in Kassel noch nicht einmal in
       der Lage, zentrale Werke bis zur Pressebegehung (15. bis 17. Juni) fertig
       aufzubauen. Und so machten erst Besucher am Wochenende auf die
       antisemitische Ikonographie des Banners von „People’s Justice“ aufmerksam.
       
       Es war eines der größten Werke dieser documenta und stammt von der
       indonesischen Gruppe Taring Padi. Das Wimmelbild enthielt auf dem Kasseler
       Friedrichsplatz bei der documenta-Halle auch eine uniformierte Figur mit
       Schweineschnauze. Auf dem Helm die Aufschrift „Mossad“, darunter ein
       Halstuch mit Davidstern.
       
       Auch eine Karikatur des die ganze Welt ausbeutenden jüdischen Kapitalisten
       durfte auf dem – wie man später erfuhr, 20 Jahre alten (!) – Werk nicht
       fehlen. Dem jüdischen Kapitalisten verpasste man angespitzte Zähne, Zigarre
       und Brille. Von Taring Padi bekam er gleich auch noch SS-Runen auf den Hut
       gemalt: der weltweite kapitalistische Jude als der wahre Faschist.
       
       ## Die faschistische Vorgeschichte
       
       Was hätte Werner Haftmann wohl dazu gesagt? Haftmann, geboren 1912,
       Kunsthistoriker, war nach 1945 documenta-Mitgründer und später Direktor der
       Berliner Nationalgalerie. Er gab sich in der Bundesrepublik als
       unbelasteter NS-Mitläufer aus. In Wirklichkeit war er bereits 1933 der SA
       beigetreten, gehörte der NSDAP an und war an verbrecherischen Aktionen bei
       der Partisanenbekämpfung in Italien während des Zweiten Weltkriegs
       beteiligt.
       
       Einer der einflussreichsten Kulturmanager der Bonner Republik war ein
       Antisemit, der nach 1945 moderne Kunst liebte, aber keine Juden. Eine
       Kurzfassung dieser lange geschönten Nachkriegskarriere skizzierten Heinz
       Bude und Karin Wieland in dem Zeit-Artikel „Kompromisslos und gewaltbereit“
       letztes Jahr. Das Deutsche Historische Museum in Berlin widmete dem Komplex
       2021 eine große Ausstellung.
       
       Und die documenta selbst? In Kassel hielt man es offenbar nicht für
       notwendig, die mit der künstlerischen Leitung beauftragte indonesische
       Kuratorengruppe Ruangrupa mit solch pikanten Kontexten zu konfrontieren.
       Dabei sollte Antifaschismus doch weltweit eine Haltung sein, mit der sich
       arbeiten ließe? Stattdessen lud Ruangrupa palästinensische Aktivisten ein,
       damit diese antiisraelische Propaganda betreiben. Und ähnlich wie Taring
       Padi mit einer perfiden historischen Umkehrung.
       
       In der Collage von Mohammed Al Hawajri lauern hochgerüstete Soldaten dem
       malerischen Idyll friedlicher Bauern auf, Titel: „Guernica Gaza“. Hitlers
       Luftwaffe legte einst das republikanische Guernica im spanischen Baskenland
       in Schutt und Asche. Ein Israel, das sich gegen die Attacken von
       Islamischem Djihad und Hamas aus Gaza zur Wehr setzt, so die Botschaft in
       Kassel, agiere wie Hitlers Militär.
       
       ## Kasseler Neo-Maoismus
       
       [1][Es sind also nicht einzelne Ausrutscher, die hier wehtun.] Es ist die
       Systematik. Unter der kulturalistischen Behauptung, ein „Globaler Norden“
       agiere gegen einen „Globalen Süden“, werden wie früher bei Maoisten und
       Marxisten-Leninisten sämtliche „Nebenwidersprüche“ ausradiert.
       
       Hamas und viele Fraktionen der PLO stehen für repressive paternalistische
       Systeme und korrupte Kriegsökonomien. Doch für alle intern verursachten
       Missstände machen sie einen äußeren Feind verantwortlich: Israel, die USA,
       die Demokratien des Westens. Hamas und PLO sind mit islamistischen
       Bewegungen wie Hisbollah im Libanon sowie staatsterroristischen Regimen wie
       in Syrien oder im Iran eng verbunden.
       
       Diese massakrieren die Oppositionen in ihren Ländern. Von Freiheit der
       Kunst braucht man da erst gar nicht zu sprechen. Und sie haben Israel als
       demokratische Bedrohung im Visier, ähnlich wie Putins Russland die Ukraine.
       
       Sollte man mit Kunstschaffenden aus solch repressiven Gesellschaften
       deswegen nicht zusammenarbeiten? Natürlich schon. Aber mit jenen, die sich
       in ihrer Kunst den repressiven Systemen widersetzen. Kunst kann eine Waffe
       sein, gerade so sie mehrdeutig interpretierbar bleibt. Autokratien bringt
       sie regelmäßig ins Schwitzen.
       
       ## „Wir“ und die Anderen
       
       Es sind auch nicht gänzlich „Andere“ oder „die Fremden“, die man in Kassel
       exotistisch interpretieren kann – wie dies Feuilletonredakteure von SZ, FR,
       Berliner Zeitung, Monopol, HR, ttt, aspekte bis Politik und
       documenta-Gremien im Vorfeld immer wieder taten –, als ob für sie gänzlich
       andere Kriterien gelten würden als „für uns“.
       
       Einen Herkunftskontext zu respektieren bedeutet auch nicht, ihn zu
       affirmieren, um etwa die universelle Gültigkeit der Menschenrechte taktisch
       einzuschränken. Oder um die Aussagen ausländischer Kollektive und
       Individuen kulturalistisch zu relativieren: „das ist dort alles anders“,
       „die meinen das nicht so“. Rassistische und antisemitische Hetze ist in
       Deutschland von der Verfassung her nicht gedeckt, das gilt auch für die
       Kunst.
       
       Die große Frage aber bleibt: [2][Wer wird hier in Kassel mit wem vernetzt
       und mit welcher Absicht?] Warum sind künstlerische Subkulturen aus
       Deutschland so gut wie nicht vertreten und werden nicht in Kontakt gebracht
       mit internationalen Szenen?
       
       Und warum sind die nach Deutschland und Europa ausgewanderten großen
       Migrations- und Flüchtlingsgruppen (Syrer, Türken, Kurden, Iraner,
       Afghanen, Belarussen, Ukrainer, Vietnamesen, Kameruner, Äthiopier,
       Venezolaner und, und) in Kassel zumeist unsichtbar?
       
       Der „globale Süden“ in Deutschland 
       
       Bringen die Millionen vor den postkolonialen Regimen „des Südens“ (oder
       Ostens!) Geflüchteten keine relevante Kunst, keine relevanten Diskurse
       hervor? Oder passen sie schlicht nicht ins ideologische Schema einer
       postkolonialen Kritik, die nach Authentizität im Ausland sucht, um so den
       globalisierten Kapitalismus und den Norden leichter angreifen zu können?
       
       [3][Den größten Schaden an dem reaktionären Kunst- und völkischen
       Politikverständnis] der hinter Ruangrupa agierenden und international
       vernetzten deutschen Kulturfunktionäre nehmen [4][all jene Künstler, die in
       Kassel keinesfalls nur schlechte Werke zeigen.]
       
       Denn schon treten Altvordere wie Bazon Brock auf den Plan, rufen angesichts
       dieser documenta das Ende der Kunst und den Übergang zur Unfreiheit aus,
       indem sie einen antagonistischen Widerspruch zwischen Individuum und
       Kollektiv behaupten.
       
       Kollektivität und Individualität schließen sich jedoch nicht aus, genauso
       wenig wie Freiheit und eine radikale Kunst, die sich autoritären Zwängen
       und politischen Funktionalisierungen widersetzt. Aber da, wo die
       Individualität zugunsten einer anonymen Kollektivität ausgelöscht wird, die
       individuelle Urheberschaft unsichtbar und enteignet wird, erfolgt
       tatsächlich, wie jetzt in Kassel zu beobachten, der Übergang in eine
       totalitäre Haltungs- und Verantwortungslosigkeit.
       
       ## Hito Steyerl und Hannah Arendt
       
       Auch Hito Steyerls Beitrag im Kasseler Ottoneum wie der von einigen anderen
       wie dem Instituto de Artivismo Hannah Arendt in der documenta-Halle oder
       aus Kolumbien und Mali werden nun in dem Desaster aus Israelkritik,
       Gegenaufklärung und Unprofessionalität eher untergehen.
       
       Dabei hat Steyerl in einem Text im Vorfeld der documenta fifteen den
       Kasseler Größenwahn (Weltausstellung!) bei gleichzeitiger
       Selbstbezüglichkeit bereits treffend charakterisiert.
       
       Sie habe gelernt, schreibt sie, „dass in der postkolonialen Theorie alles
       situiert und kontextualisiert werden muss, außer es findet in Deutschland
       statt“. Denn hierzulande ersetze eine „möglichst abstrakte Anrufung des
       Globalen“ weitgehend die „Auseinandersetzung mit Deutschlands Gegenwart und
       Vergangenheit“.
       
       ## Kasseler Märchenwelt
       
       Kassel verfügt über viele schöne Museen. Athen hat die Akropolis, Kassel
       die neue zur Eventlocation ausgebaute Grimmwelt. Diese thront mit
       modernster Architektur ausgestattet auf dem Weinberg, ist ein
       Besuchermagnet. Und auch einer der Schauplätze der documenta fifteen.
       
       Nebenan im Fürstengarten steht abseits der Publikumsströme ein kleines
       steinernes Rondell. Hinter hohen Büschen erweist es sich als das Kasseler
       „Ehrenmal für die Opfer des Faschismus“. Es wirkt schmucklos und in die
       Jahre gekommen. Durch das Gitter ist ein kupferner Dornenkranz am Boden zu
       erspähen. Hinein kommt man nicht. „Schlüssel beim Pförtner im Rathaus
       abholen“, steht auf dem Metallschild.
       
       Kulturstaatsministerin Claudia Roth hat angekündigt, sie werde nun in
       Kassel alles auf den Prüfstand stellen. Bundesmittel würden künftig nur
       fließen, sofern der Bund bei Ausführung und Kontrolle der kommenden
       documenta 16 in fünf Jahren wieder entscheidend in den Gremien vertreten
       sei.
       
       Roth muss jetzt tatsächlich energisch gegensteuern, soll durch den
       postkolonialen Populismus die antifaschistische Verfasstheit der
       Bundesrepublik in staatlichen Kultur-, Wissens- und Kunstinstitutionen
       nicht weiter ausgehöhlt werden. Wie man am Beispiel Kassel und der
       documenta fifteen sieht, drängt es. Und es ist in jeder Hinsicht noch
       deutlich Luft nach oben. Auch für eine Kunst, die sich nicht der Politik
       unterwerfen darf.
       
       25 Jun 2022
       
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