# taz.de -- 75 Jahre Grundgesetz: Grundsätze für eine Welt im Wandel
       
       > Seit 1949 versucht das Grundgesetz allgemeingültige Regeln für ein
       > Zusammenleben zu formulieren. Eine Analyse der wichtigsten Kapitel.
       
 (IMG) Bild: Ein echtes Original: Eine Mitarbeiterin des Parlamentsarchivs zeigt Seiten des Grundgesetzes vom 23. Mai 1949
       
       Die Welt war eine andere, als das Grundgesetz 1949 entstand. Der Zweite
       Weltkrieg und die faschistische Naziherrschaft waren gerade erst Geschichte
       geworden. Deutschland lag noch in Trümmern. Die Gesellschaft dachte sehr
       traditionell. Es folgten: das Wirtschaftswunder, die Einbindung in Europa
       und in die die Nato, eine gesellschaftliche Liberalisierung, starke
       Zuwanderung, das Internet und die Klimakrise. Sehr vieles hat sich seit
       1949 sehr grundsätzlich verändert. Macht das Grundgesetz da noch die
       richtigen Vorgaben?
       
       Eine Verfassung soll jene Grundregeln des Staates enthalten, die auch einen
       Regierungswechsel überdauern. Deshalb kann das Grundgesetz nur mit
       Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat geändert werden. Das heißt:
       Mehrheit und Opposition müssen sich einig sein, dass eine Änderung
       erforderlich ist. Seit 1949 ist dies 67-mal erfolgt.
       
       Doch auch das Bundesverfassungsgericht kann das Grundgesetz modernisieren,
       indem es die oft vagen Normen neu interpretiert. Das ist kein
       Machtmissbrauch, sondern funktional. Schließlich stehen auch die mit
       Zweidrittelmehrheit gewählten Verfassungsrichter über dem politischen
       Alltagsgeschäft.
       
       In der Praxis geht es drunter und drüber, wie ein Blick auf die Entwicklung
       in elf wichtigen Politikfeldern im Grundgesetz zeigt. Mal wird [1][das
       Grundgesetz] fortschrittlicher, mal wird es konservativer. Mal agiert der
       Bundestag, mal das Verfassungsgericht. Es ist alles im Fluss.
       
       ## Datenschutz
       
       1949 spielte die elektronische Datenverarbeitung noch keine Rolle,
       dementsprechend gab es im Grundgesetz auch keine Vorgaben zum Datenschutz.
       Ohne dass das Grundgesetz geändert wurde, hat das Bundesverfassungsgericht
       1983 in seinem Urteil zur Volkszählung ein Grundrecht auf Datenschutz
       eingeführt. Offiziell heißt es „Recht auf informationelle
       Selbstbestimmung“. Die Erfassung, Speicherung und Verwendung persönlicher
       Daten erfordert seitdem stets eine gesetzliche Regelung. Diese Gesetze
       prüft das Bundesverfassungsgericht jeweils auf ihre Verhältnismäßigkeit und
       beanstandet sie oft. So verlangte das BVerfG 2006, dass eine präventive
       Rasterfahndung, bei der Datenbestände abgeglichen werden, nur bei einer
       konkreten Gefahr und nicht bei einer allgemeinen Bedrohungslage genutzt
       werden darf.
       
       ## 
       
       ## Demokratie
       
       Die Grundrechte auf Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit stehen seit
       1949 unverändert im Grundgesetz. Sie wurden aber durch die Rechtsprechung
       des Bundesverfassungsgerichts immer wichtiger. In unzähligen Entscheidungen
       hat Karlsruhe die Rechte von Außenseitern und Extremisten gegen
       unverhältnismäßige Eingriffe geschützt. So entschied das Gericht 1995, dass
       die Pazifisten-Parole „Soldaten sind Mörder“ grundsätzlich nicht bestraft
       werden darf.
       
       Im Staatsrecht stärkt das Bundesverfassungsgericht tendenziell das
       Parlament gegen die Regierung und die Opposition gegen die Mehrheit, um
       Offenheit und Transparenz des politischen Prozesses zu sichern.
       
       ## Einwanderung
       
       „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, heißt es seit 1949 in Artikel 20.
       Das Bundesverfassungsgericht versteht darunter das „deutsche Volk“ und
       kippte 1990 das in Hamburg und Schleswig-Holstein eingeführte
       Ausländerwahlrecht. Ausländer seien kein Teil des deutschen Volkes und
       dürften daher auch nicht wählen. Anders als Rechtsextremisten akzeptiert
       das BVerfG immerhin eingebürgerte Deutsche als vollwertige Mitglieder des
       Deutschen Volkes.
       
       Zwei Jahre später, 1992, wurde das Grundgesetz geändert, sodass nun
       zumindest EU-Bürger bei deutschen Kommunalwahlen mitwählen dürfen. Dies war
       eine Vorgabe des EU-Rechts im Maastrichter Vertrag.
       
       Über ein allgemeines Ausländerwahlrecht wird nicht mehr viel diskutiert,
       weil es deutlich leichter geworden ist, deutscher Staatsbürger zu werden.
       So hat der Bundestag Anfang 2024 beschlossen, dass schon nach fünf Jahren
       legalen Aufenthalts in Deutschland eine Einbürgerung möglich ist und dass
       doppelte Staatsbürgerschaften grundsätzlich akzeptiert werden.
       
       ## Europa
       
       Schon in der Präambel des Grundgesetzes von 1949 hieß es, die Deutschen
       wollten als „gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden
       in der Welt dienen“.
       
       1992 hat das Grundgesetz mit Artikel 23 ausdrückliche Europa-Regelungen
       erhalten. So ist für die Übertragung neuer Kompetenzen auf die EU nun eine
       Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat erforderlich.
       
       Immer noch ungeklärt ist das Verhältnis von EU-Recht und deutschem Recht.
       Die EU vertritt die Position, dass EU-Recht immer Vorrang vor nationalem
       Recht haben müsse, weil die EU sonst nicht funktionieren würde. Das
       Bundesverfassungsgericht lehnt einen solchen Automatismus ab und behält
       sich ein Prüfungsrecht vor.
       
       ## Flüchtlinge
       
       „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, heißt es seit 1949 im
       Grundgesetz. Doch 1993 wurde diese Garantie in einem neuen Artikel 16a
       ergänzt und faktisch abgeschafft. Auf das Grundrecht auf Asyl kann sich
       nicht mehr berufen, wer aus einem sicheren Drittstaat (einem anderen
       EU-Staat, Norwegen oder der Schweiz) einreist.
       
       Faktisch beruht die Garantie des [2][Asylrechts inzwischen vor allem auf
       EU-Recht], das aber weiter geht als das alte deutsche Grundrecht, denn im
       EU-Recht werden auch Bürgerkriegs-Flüchtlinge geschützt.
       
       ## Frauen
       
       „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, heißt es seit 1949 im
       Grundgesetz. Doch um Chaos im Familienrecht zu vermeiden, sollte der Satz
       erst ab 1953 in Kraft treten. Bis 1953 hatte die konservative
       Adenauer-Regierung das Familienrecht aber noch nicht angepasst; der Ehemann
       war immer noch Oberhaupt der Familie und hatte in Erziehungsfragen das
       letzte Wort. Da entschied das Bundesverfassungsgericht, dass ab nun der
       Gleichberechtigungs-Satz des Grundgesetzes direkt anwendbar ist.
       
       1993 wurde der Satz um die Aufforderung ergänzt: „Der Staat fördert die
       tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und
       wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Damit können zum
       Beispiel Frauenquoten bei der Einstellung gerechtfertigt werden.
       
       Als frauenrechtlich umstritten gilt die Rechtsprechung des
       Bundesverfassungsgerichts zum Abtreibungsrecht. Aus der Schutzpflicht für
       das werdende Leben schloss das Gericht, dass eine Schwangere grundsätzlich
       die Pflicht hat, den Fötus auszutragen und zu gebären. Der
       Schwangerschaftsabbruch müsse grundsätzlich strafbar sein. 1976 und 1993
       hat das Gericht deshalb Gesetze beanstandet, die Abtreibungen innerhalb
       bestimmter Fristen für rechtmäßig erklärten.
       
       2024 hat sich eine Regierungskomission [3][gegen die grundsätzliche
       Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs] in den ersten zwölf Wochen
       ausgesprochen. Völkerrechtlich werde die reproduktive Selbstbestimmung der
       Frau zunehmend anerkannt, deshalb müsse auch das Grundgesetz neu ausgelegt
       werden.
       
       ## Haushalt und Schulden
       
       Ursprünglich erlaubte das Grundgesetz Kreditaufnahmen nur bei
       „außerordentlichem Bedarf“. Mit zunehmender Ausweitung der Staatsaufgaben
       galt dies als zu eng. 1969 wurde deshalb im Grundgesetz eine
       Schuldenaufnahme bis zur Höhe der Investitionsausgaben erlaubt, bei einer
       Störung des gesamt-wirtschaftlichen Gleichgewichts sogar darüber hinaus.
       
       2007 kritisierte das Bundesverfassungsgericht diese Regelung, weil sich so
       die ungezügelte Staatsverschuldung nicht eindämmen lasse. Bundestag und
       Bundesrat nahmen die Aufforderung aus Karlsruhe ernst und führten 2009 eine
       Schuldenbremse im Grundgesetz ein. Die Aufnahme von Schulden ist nun im
       Kern nur noch bei „außergewöhnlichen Notsituationen“ möglich, etwa bei
       einer Pandemie.
       
       Ende 2023 legte das Bundesverfassungsgericht diese Schuldenregelung streng
       aus und beanstandete damit einen Trick der Ampelkoalition. Schulden können
       nicht mehr in Notlagen für mehrere Jahre auf Vorrat verbucht werden,
       vielmehr muss die Notlage in jedem Jahr neu festgestellt werden.
       
       Angesichts des aktuell gewaltigen Finanzbedarfs für Klimaschutz,
       Infrastruktur und Bundeswehr wird über eine Flexibilisierung der
       Schuldenbremse diskutiert. Dafür spricht sich zum Beispiel der Rat der
       Wirtschaftsweisen aus.
       
       ## Homosexualität
       
       1957 billigte das Bundesverfassungsgericht die Strafbarkeit von
       Homosexualität. Dies gilt heute als eines der größten Fehlurteile des
       Gerichts. Die Strafbarkeit wurde dann vom Bundestag zwischen 1969 und 1994
       in mehreren Etappen abgeschafft.
       
       Auch bei der Gleichstellung homosexueller Partnerschaften war das BVerfG
       zunächst kein Motor der Entwicklung. Die eingetragene Partnerschaft wurde
       2000 von der rot-grünen Koalition eingeführt. Dagegen klagten die Länder
       Bayern, Sachsen und Thüringen. Das BVerfG lehnte die Klage 2002 ab – mit
       knappen fünf zu drei Richterstimmen. Der Schutz von Ehe und Familie sei
       nicht beeinträchtigt.
       
       Erst ab 2009 forderte das Bundesverfassungsgericht die Gleichbehandlung von
       gleichgeschlechtlichen Paaren zum Beispiel im Steuerrecht. Die „Ehe für
       alle“ führte der Bundestag 2017 ohne Aufforderung aus Karlsruhe ein. Nun
       klagte auch niemand mehr dagegen.
       
       ## Militär
       
       Als das Grundgesetz 1949 entstand, war Deutschland entmilitarisiert, hatte
       keine Armee. Jahrelang wurde politisch über eine Wiederbewaffnung
       diskutiert. Erst 1955 wurde die Bundeswehr gegründet und die Bundesrepublik
       in die Nato aufgenommen. Im Grundgesetz wurde dies 1956 nachvollzogen. „Der
       Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf“, heißt es jetzt in Artikel
       87a.
       
       Ebenfalls sehr umstritten waren 1969 die sogenannten Notstandsgesetze. Im
       Grundgesetz ist jetzt auch der Einsatz der Bundeswehr im Inland erlaubt,
       unter anderem zur Bekämpfung militärisch bewaffneter Aufständischer.
       
       Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks billigte das Bundesverfassungsgericht
       1994 eine neue Rolle der Bundeswehr. Diese kann bei Auslandseinsätzen zur
       Friedenssicherung eingesetzt werden. Karlsruhe stellt aber zwei Bedingungen
       auf: Zum einen muss der Einsatz von UNO oder Nato getragen sein;
       Alleingänge der Bundeswehr sind nicht zulässig. Außerdem muss der Bundestag
       Auslandseinsätzen der Bundeswehr stets vorab zustimmen.
       
       ## Sozialstaat
       
       Anders als sozialistische Verfassungen kennt das Grundgesetz keine sozialen
       Grundrechte, wie das Recht auf Arbeit oder das Recht auf eine Wohnung.
       Immerhin ist Deutschland in Artikel 20 als Sozialstaat definiert. Dies ist
       aber nur eine nicht einklagbare Staatszielbestimmung.
       
       2010 hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Hartz-IV-Urteil das „Recht
       auf ein menschenwürdiges Existenzminimum“ entwickelt. Die Höhe hat das
       Gericht aber nicht festgesetzt, sondern nur ein nachvollziehbares Verfahren
       gefordert. 2012 hat das BVerfG das Asylbewerberleistungsgesetz als „evident
       unzureichend“ beanstandet und eine starke Erhöhung der Leistungen
       gefordert.
       
       2019 hat das BVerfG die Hartz-IV-Sanktionen beanstandet. Als Reaktion auf
       Pflichtverletzungen dürfen die Leistungen nur maximal um 30 Prozent gekürzt
       werden, so die Richter. Eine Streichung sei nur zulässig, wenn die Aufnahme
       zumutbarer Arbeit verweigert wird.
       
       ## Umwelt
       
       1949 war Umweltschutz noch kein Thema. Nach langen Diskussionen wurde erst
       1994 der „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen“ mit einem neuen Artikel
       20a als nicht einklagbares Staatsziel ins Grundgesetz aufgenommen.
       Praktische Bedeutung hatte dies nicht.
       
       Welche Wirkung der [4][Klima-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts] von
       2021 im Ergebnis haben wird, ist noch offen. Die Richter forderten nur eine
       Fortschreibung der Klimaschutzziele – die Umfänge der CO2-Reduktionen – ab
       2030. Sie erhoben aber Klimaschutz zum Staatsziel, wiesen Deutschland ein
       begrenztes CO2-Budget zu und erleichterten weitere Klimaklagen.
       
       22 May 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.gesetze-im-internet.de/gg/GG.pdf
 (DIR) [2] /Gefluechtete-auf-Lesbos/!6003464
 (DIR) [3] /Abtreibungen-in-Deutschland/!6001744
 (DIR) [4] /Bundesregierung-verurteilt/!6011208
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christian Rath
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Grundgesetz
 (DIR) Bundesrepublik Deutschland
 (DIR) Konrad Adenauer
 (DIR) Demokratie
 (DIR) Bundestag
 (DIR) Einbürgerung
 (DIR) Schwerpunkt Grundgesetz
 (DIR) Schwerpunkt Grundgesetz
 (DIR) Kolumne Starke Gefühle
 (DIR) Schwerpunkt Grundgesetz
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Karlsruhe beanstandet Wahlrechtsreform: Sitze, Stimmen und Hürden
       
       Das Bundesverfassungsgericht beanstandet ein wichtiges Detail des neuen
       Bundestagswahlrechts. Die CSU und ihre Wähler würden womöglich
       benachteiligt.
       
 (DIR) Neues Einbürgerungsgesetz: Mehr Anträge, lange Bearbeitung
       
       Bei den Behörden stapeln sich die Einbürgerungsanträge. Mit dem neuen
       Einbürgerungsgesetz könnte sich die Situation noch verschärfen.
       
 (DIR) Staatsakt zu 75 Jahren Grundgesetz: „Es kommen raue, härtere Jahre“
       
       Beim Staatsakt für das Grundgesetz warnt Bundespräsident Steinmeier vor
       Gefahren für die Demokratie – und fordert eine Debatte über die
       Wehrpflicht.
       
 (DIR) 75 Jahre Grundgesetz: Diktatur des Proletariats
       
       Die Verfassung der DDR musste von Stalin abgenickt werden. Nach der Wende
       wurde die Chance auf ein gemeinsames Grundgesetz vertan.
       
 (DIR) 75 Jahre Grundgesetz: Verfassungsschutz von unten
       
       Das Grundgesetz feiert Geburtstag. Unser Autor ist Fan und fordert
       zugleich, es vor sprachlicher wie juristischer Verdrehung zu schützen.
       
 (DIR) Politische Bildung: Die Baustellen der Demokratie
       
       Das einzige Institut für Didaktik der Demokratie an der Leibniz-Universität
       in Hannover erforscht Methoden und Aufgaben politischer Bildung heute.