# taz.de -- Kevin Kühnerts Werdegang: Ein echter Sozialdemokrat
       
       > Er soll als Generalsekretär die SPD-Botschaft ins Land tragen. Wie der
       > einstige Scholz-Verhinderer nun den Kanzler promotet – und zu welchem
       > Preis.
       
 (IMG) Bild: Es war einmal ein Linker. Kevin Kühnert, Generalsekretaer der SPD, im Willy-Brandt-Haus in Berlin
       
       BERLIN/BRANDENBURG AN DER HAVEL taz | Der Ausflugsdampfer fährt auf der
       Spree gerade an der Fischerinsel vorbei, da bricht es aus Ruth Boeker
       heraus und über Kevin Kühnert herein: „Also eine Sache würde mich doch noch
       mal interessieren, nämlich das Auftreten der SPD. Die fokussiert sich jetzt
       im Europawahlkampf ja toootal auf Herrn Scholz.“ Pause. „Und der ist ja nun
       wirklich nicht der Bringer.“
       
       Boeker, adrette Bluse, graublonde Haare, redet sich in Fahrt, man merkt,
       die SPD liegt ihr am Herzen. Und die müsste doch gerade jetzt gegen diese
       unsägliche FDP die Konflikte deutlich machen und zeigen, wo die
       Unterschiede liegen. Aber der Scholz: „Wie eingeschlafene Füße!“
       
       Kevin Kühnert hört zu, das Gesicht in die Hand gestützt und lächelt müde.
       Gerade ist es noch um ihn gegangen. Die Menschen aus seinem Berliner
       Wahlkreis Tempelhof-Schöneberg, zu denen auch Ruth Boeker gehört und die
       auf seine Einladung hin einen Tag lang das politische Berlin zu Fuß und per
       Schiff erkunden, haben ihn geradezu mit Komplimenten überhäuft.
       „Bestechend, wie Sie das machen“; „Sehe Sie so gern in Talkshows.“ Aber der
       Scholz, nun ja.
       
       ## Den Kanzler zum Glitzern bringen
       
       „Sie müssen ihn ja nicht verteidigen“, sagt Ruth Boeker beschwichtigend.
       „Muss ich nicht“, murmelt Kühnert. „Kann ich aber.“ Denn das gehört ja zu
       seiner Aufgabenbeschreibung als Generalsekretär der SPD – den politischen
       Gegner auszubremsen und die eigene Partei und den SPD-Kanzler zum Glitzern
       zu bringen. Aber Kühnert ist an diesem Mittwoch Ende April vor allem
       unterwegs, um zuzuhören. Und Ruth Boeker ist schließlich nicht der
       politische Gegner, sie ist das, was sie in der Wahlforschung
       Fokusgruppenmitglied nennen. Eine Frau, die ausspricht, was die Wählerinnen
       denken. Und das, was sie sagt, so fasst es Kühnert nach dem Bootstrip
       zusammen, sei „ultra-repräsentativ.“ „Die Leute wollen weniger Streit in
       der Ampel und gleichzeitig mehr SPD-Profil. Beides gleichzeitig wird
       schwerlich möglich sein.“
       
       Es ist wie die Quadratur des Kreises. Für den Zusammenhalt in der Ampel ist
       der Kanzler zuständig, was bedeutet, beständig sozialdemokratische
       Positionen zu verwässern und Zugeständnisse vor allem an die schwer
       geltungssüchtige FDP zu machen. Für das Profil der SPD und damit für
       hundertprozentige, unverdünnte Sozialdemokratie ist er, Kevin Kühnert,
       zuständig.
       
       2021 wählten ihn die Delegierten auf dem SPD-Parteitag [1][zum ersten Mal
       zum Generalsekretär], im Dezember 2023 bestätigten sie ihn mit über 90
       Prozent im Amt. Er ist Chef von 200 Mitarbeitern des Willy-Brandt-Hauses,
       der Berliner Parteizentrale, wo die SPD kampagnenfähig gemacht wird:
       Geschlossenheit nach innen, Attacke nach außen. Und nun muss Kühnert
       liefern.
       
       Die [2][Europawahl am 9. Juni], bei der die SPD den Kanzler breitflächig
       neben der eigentlich zur Wahl stehenden Spitzenkandidatin Katarina Barley
       plakatiert, ist die erste, die Kühnert als Generalsekretär von Anfang bis
       Ende orchestriert. Sie ist sein Gesellenstück. Die Bundestagswahl 2025 soll
       sein Meisterstück werden, die Wiederholung des „Wunders von Berlin“, als
       die SPD wie aus dem Nichts nach 16 Jahren Merkel wieder den Kanzler
       stellte. Olaf Scholz.
       
       ## Er ist nicht „komplett relaxt“
       
       Aber wie glaubhaft ist das? Kühnert, der bei der letzten Europawahl noch
       Juso-Vorsitzender war, der „Parteirebell“, der Scholz als Parteichef
       verhinderte und eine No-Groko-Kampagne durchzog, ist heute der oberste
       Scholz-Vermarkter. Wie soll ein bekennender SPD-Linker, der mit knapp 35
       Jahren noch gerade so im Juso-Alter ist, einen 65-jährigen Parteirechten
       bewerben, ohne sich selbst zu verleugnen? Einen Kanzler dazu, der ja
       offenbar selbst auf SPD-affine Wählerinnen so elektrisierend wirkt wie
       Baldrian. Und mit einer SPD im Rücken, die in Umfragen bei 16 Prozent
       liegt.
       
       Kühnert glaubt: Ja, das geht. Eine Woche später, Anfang Mai in seinem Büro,
       im fünften Stock des Willy-Brandt-Hauses. Die Kampagne läuft, die Plakate
       hängen. Die Bestellzahlen seien gut, die Veranstaltungen ordentlich
       besucht, sagt Kühnert. Aber abgerechnet wird am Wahltag. Nervös sei er
       nicht, meint er. Na ja, vielleicht ein bisschen angespannt. „Ich würde
       lügen, wenn ich sagte, ich bin komplett relaxt.“
       
       Der Vertrauensvorschuss ist groß, die Erwartungen an ihn sind hoch. „Wir
       sind zum Plus verdammt, ein Minus wäre eine Katastrophe“, meint Axel
       Schäfer, der Anfang der 80er den Europawahlkampf für Willy Brandt leitete.
       Schäfer findet, dass die SPD europapolitisch im Tal der Tränen ist. Kühnert
       mache zwar einen guten Job, die Partei sei geschlossen wie nie. Aber man
       habe noch nicht die richtige Zuspitzung gefunden, „damit die Leute in
       besonderer Weise motiviert sind, SPD zu wählen“.
       
       ## Vom Prakti an die Parteispitze
       
       Bei der Europawahl 2019 erreichte die SPD 15,8 Prozent, das schlechteste
       Ergebnis in ihrer Geschichte. Was in der Berliner Parteizentrale eine Folge
       von Erschütterungen auslöste. Parteichefin Andrea Nahles schmiss hin, ihre
       Nachfolger mussten sich in einem öffentlichen Casting der Basis als
       Superduo beweisen, in dessen Finale der damalige Finanzminister Scholz
       brüskiert und die bis dato kaum bekannte [3][Saskia Esken zusammen mit
       Norbert Walter-Borjans] Parteichefin wurde. Gepusht von Kühnert, der sich
       damit als einer der einflussreichsten parteiinternen Strategen bewiesen
       hatte.
       
       In der zehnten Klasse nahm er als Schülerpraktikant erstmals Kontakt zur
       SPD auf. Der Prakti sollte zunächst die übriggebliebenen
       Wahlkampfmaterialien der Europawahl 2004 in den Keller des Kreisbüros
       räumen. 2017 wurde er dann mit der eigenen Kampagne berühmt. Für die
       grokogeschädigten Sozialdemokraten war der rhetorisch brillante,
       klassenkämpferisch auftretende Juso-Vorsitzende eine Art Heilsbringer – die
       SPD, sie lebte. Und die Jusos waren wieder ein Machtfaktor in der Partei.
       
       „Macht ist etwas Gutes, wenn man sie richtig einsetzt“, meint Lars
       Klingbeil, Co-Vorsitzender der SPD. Und Kühnert, klar, der habe immer
       Verantwortung übernehmen wollen. Das habe er als Juso-Vorsitzender von
       Anfang an gezeigt. Klingbeil war Kühnerts Vorgänger als Generalsekretär.
       Als Klingbeil das Amt 2017 antrat waren sie Gegenspieler – Klingbeil wollte
       die SPD in die Groko führen, Kühnert das verhindern. Doch schnell bildeten
       die beiden – der eine aus dem linken, der andere aus dem rechten
       Parteiflügel – eine zuverlässig funktionierende Achse innerhalb der SPD.
       
       ## Kevin ist gradlinig
       
       Kühnert hätte Klingbeil am liebsten schon 2019 als Parteichef gesehen. 2021
       klappte es. Da schlug Klingbeil Kevin Kühnert als seinen Nachfolger vor.
       „Weil ich mich auf ihn verlassen kann“, sagt Klingbeil und schaut aus dem
       Fenster seines Büros. Im politischen Berlin gäbe es Leute, die hinten rum
       agierten. „Das macht er nicht.“
       
       Ob das Erfolgsrezept von 2021 – von hinten ranpirschen und dann, zack!,
       Erster werden – bei der Europawahl noch hinhaut? Nur ein Fünftel der
       Wählerinnen findet derzeit, dass Scholz seine Arbeit als Kanzler gut macht,
       mit der Arbeit der von ihm geführten Ampel ist nicht einmal die Mehrheit
       der SPD-Wählerinnen zufrieden.
       
       Dass die SPD bis zum 9. Juni auf 30 Prozent klettert, daran glaubt selbst
       Kevin Kühnert nicht.
       
       Es dauerte, bis er mit Scholz warm wurde. Das erste ausführliche Gespräch
       zu zweit im März 2018, Scholz war gerade Finanzminister geworden, muss eine
       ziemliche Tortur gewesen sein. Kühnert erzählt, er sei ins
       Finanzministerium eingeladen worden, wo ihm Scholz eine Stunde lang seine
       Sicht auf die Welt erklärt habe. „So doziert zu werden, das war eher
       unangenehm und hat lange mein Bild geprägt.“
       
       Als sich Scholz 2019 eher aus Pflicht denn aus Lust um das Amt als
       Parteichef bewarb, deklarierte ihn Kühnert zum „Pragmatiker ohne Charme“.
       Kühnerts Bestreben war es fortan, zu verhindern, dass dieser charmefreie
       Pragmatiker Parteichef wird. Was klappte. Kühnert findet es auch heute noch
       richtig, dass Scholz nicht Parteichef wurde. Die Partei habe ein feines
       Gespür für die jeweiligen Rollen bewiesen, als sie Scholz nicht zum
       Vorsitzenden machte, aber sehr wohl zum Kanzlerkandidaten. Diese
       Entscheidung fällte die neue Parteispitze dann aber ohne den Juso-Chef. Was
       diesen wurmte.
       
       ## Mittwochs gibt's Frühstück im Kanzleramt
       
       Die Wende kam im Wahlkampf 2021. Kühnert und Scholz sollten am Abend
       zusammen eine gemeinsame Wahlkampfveranstaltung in der Berliner Ufa-Fabrik
       bestreiten. Es war der Parteizentrale wichtig, dass die Antagonisten
       gemeinsam auftreten. Später Nachmittag, Kühnert klingelte gerade noch an
       Haustüren und verteilte Wahlprospekte, als sein Handy in der Hosentasche
       vibrierte: „Anruf Olaf Scholz“. Kühnert erinnert sich ziemlich genau an
       diesen Tag. Es sei das erste Mal gewesen, dass ihn Scholz anrief, um sich
       direkt mit ihm abzusprechen – nicht sein Sprecher, nicht sein Büro. „Und es
       war das erste Mal, dass ich dachte: Okay, wir machen jetzt wirklich seriös
       Politik zusammen. Es geht um was.“
       
       Heute sehen sie sich häufig. Scholz komme regelmäßig zu Gremienssitzungen,
       Kühnert ist mittwochs beim Kabinettsfrühstück um 7.45 Uhr im Kanzleramt.
       Sind sie mittlerweile sogar befreundet? Kühnert zögert. „Ach nee,
       befreundet, das wäre ein zu großer Begriff, und das ist auch gar nicht
       nötig. Aber ich bin mir sehr sicher, dass wir uns wechselseitig mögen.“
       
       Die Szene mit dem Anruf von Scholz ist gut dokumentiert. Ein Filmteam
       begleitete Kühnert drei Jahre lang von 2018 bis 2021. Herausgekommen ist
       eine sechsteilige Dokumentation, [4][abrufbar in der ARD-Mediathek].
       Kühnert hat nur drei Teile geguckt, er ertrage es nicht, sich so lange
       selbst zuzuschauen.
       
       Gefühlt jede zweite Szene der Doku spielt unterwegs und im Auto. Kühnert
       reist viel durchs Land, etwa ein Drittel des Jahres, sagt er. Häufig kommt
       er erst nachts nach Hause, schläft ein paar Stunden und geht im
       Morgengrauen wieder aus dem Haus. „Diesen Wahnsinn hält man nur durch, wenn
       man kinderlos ist“, sagt er. Und wenn man diszipliniert ist: Er raucht
       nicht mehr, trinkt keinen Alkohol und hat ein paar Pfunde abgenommen.
       
       Kühnert ist wie ein Handlungsreisender im Auftrag der SPD: Immer unterwegs,
       stets einen Beutel mit Prospekten dabei, und überall versucht er die
       sozialdemokratische Botschaft zu verkaufen: Gerechtigkeit, Zusammenhalt,
       Arbeit, Wohlstand.
       
       Anfang März ist Kühnert in Brandenburg unterwegs. In Brandenburg an der
       Havel ist er vormittags zum Wirtschaftsdialog mit Unternehmern verabredet.
       Etwa zwei Dutzend Männer sind gekommen und stehen an Tischen, einige in
       Zimmermannskluft. Eine Handvoll Frauen, einige in Kostüm. Die Herren vom
       Bau legen zuerst los: „Die Uffträge gehen deutlich zurück, die Leute bauen
       nicht. Keen Wunder, keen einfacher Arbeiter kann sich ein Haus für
       achthunderttausend leisten.“ Ein anderer beklagt die bürokratische
       Förderung: „Das sind hochkomplexe Anträge, da müssten wir extra jemanden
       für einstellen.“ Die Geschäftsführerin eines Pflegebetriebs weist
       daraufhin, dass sich viele Ältere die Mieten und die Pflege im betreuten
       Wohnen nicht mehr leisten könnten.
       
       Kühnert sitzt als Bundestagsabgeordneter auch im Bauausschuss. Er weiß,
       dass die Ampel kaum geliefert hat. 400.000 Wohnungen pro Jahr hatte die SPD
       versprochen, viel weniger wurden gebaut.
       
       Wie hätte der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert jetzt wohl reagiert? Hätte er
       mit der Faust auf den Tisch gehauen und verlangt, Bauland zu
       vergesellschaften? Hätte er die Enteignung von Wohnungskonzernen gefordert?
       
       ## Von Sozialismus spricht er nicht mehr
       
       Im Juso-Landesverband Berlin hätten sie damals sehr ernsthafte Debatten
       über den Demokratischen Sozialismus geführt, erinnert sich Annika Klose.
       Als die Berliner Bundestagsabgeordnete vor zehn Jahren zu den Berliner
       Jusos stieß, leitete Kühnert den Landesverband. „Und Kevin war es immer
       wichtig, Eigentumsverhältnisse zu thematisieren.“
       
       Doch zu solchen Themen hat man schon längere Zeit nichts mehr von Kühnert
       gehört.
       
       Ziemlich genau fünf Jahre ist es her, als der damalige Juso-Chef mit der
       Zeit [5][über Sozialismus und die Überwindung des Kapitalismus sprach].
       Kühnert regte damals an, BMW auf demokratischem Wege zu kollektivieren. Das
       Interview sorgte mitten im EU-Wahlkampf für riesige Empörung. „Kühnert will
       BMW enteignen“, titelte die Bild. Der Sound war gesetzt. Die SPD-Spitze um
       Andrea Nahles reagierte verschnupft. Einige Tage nach der Veröffentlichung
       traf sich der Parteivorstand zur Vorbesprechung des Wahlkampfauftakts im
       Hinterzimmer einer Gaststätte in Saarbrücken. „Die Atmosphäre war ziemlich
       frostig. Ich wurde mit Nichtachtung gestraft“, erinnert sich Kühnert.
       Einzig Lars Klingbeil sei auf ihn zugegangen. Ob man das Lokal gemeinsam
       betreten wolle, fragte er den Geächteten. Der nahm das Angebot gern an.
       „Ich bin Lars heute noch dankbar dafür.“
       
       Würde er ein solches Interview heute noch geben? „Dieses Interview war und
       ist mir wichtig. Ich werde mich auch nicht nachträglich distanzieren“,
       erklärt Kühnert. Aber? „Politiker sprechen ja nicht als Privatpersonen,
       sondern im Rahmen eines Amts, das uns anvertraut wurde. Und da haben der
       Juso-Chef und der SPD-Generalsekretär andere Spielräume – auch wenn der
       Mensch dahinter derselbe ist.“
       
       ## Ampelkrampf statt Klassenkampf
       
       Anders gesagt: Manchmal muss der Mensch dann eben hinter das Amt
       zurücktreten. Kühnert hat seinen Preis gezahlt. Die SPD war schon immer
       sehr um ihr seriöses Image bemüht, da darf nicht mal eben jemand kommen und
       die Revolution ausrufen. Und es passt auch gar nicht zur Tradition als
       Reformpartei, die lieber den Konsens sucht als Klassenkampf zu führen.
       Schon Kurt Tucholsky verspottete die SPD als Radieschen: „außen rot und
       innen weiß“. So gesehen ist Kühnert vom linken Juso zum echten
       Sozialdemokraten geworden. Ein Weg, den vor ihm schon andere gegangen sind,
       unter anderem Olaf Scholz. Ungewöhnlich bei Kevin Kühnert ist nur, wie
       schnell und geschmeidig es passierte. Und, dass man kaum jemanden findet,
       der ihn dafür kritisiert.
       
       Im Kreise der Brandenburger Unternehmer schreibt Kühnert mit, nickt ab und
       zu. Er sehe ja die hohen Zinsen, aber man könne nicht alles über Förderung
       abfangen. Er verspricht der Frau aus der Pflege demnächst zum Treffen des
       Netzwerks Pflege zu kommen. Ein Handwerksmeister schlägt vor: „Wir sollten
       mal über eine Aufhebung der Schuldenbremse reden.“ Kühnert findet, das sei
       eine gute Idee. „Aber Christian Lindner ist ja nicht mein Leibeigener, es
       ist effektiver, wenn Sie ihm das sagen.“ Seine Hoffnung, dass Lindner sich
       in den nächsten anderthalb Jahren überzeugen lässt, sei eher gering. Kein
       Klassenkampf, stattdessen Ampelkrampf.
       
       Auf der Fahrt zum nächsten Termin bekommt die Büroleiterin einen Anruf von
       der Polizei. Sie dreht sich zu Kühnert um. „In Premnitz stehen welche mit
       Reichskriegs- und Russlandfahnen vor der AWO. Gehen wir drumherum oder
       durch?“ – „Wir gehen da durch“, sagt Kevin Kühnert.
       
       Der Wagen parkt ein paar Meter hinter dem gelben Flachbau, auf dem AWO
       steht. Kühnert klemmt sich seinen Beutel unter den Arm und stiefelt auf den
       Eingang zu. „Da kommta“, schallt es ihm entgegen, und ein ohrenbetäubendes
       Trommeln und Trillern hebt an. Kühnert gelangt ohne Probleme in den Saal,
       wo schon etwa 50 Leute sitzen. Eine der Trommlerinnen drängt sich hinter
       ihm hinein. „Die Trommel müssen Se aber abgeben“, weist ein Ordner sie
       streng an. Die Frau gibt die Trommel ab und setzt sich.
       
       „Man muss nicht jeden Kompromiss gut finden“, sagt Kühnert drinnen. „Aber
       wir müssen aufpassen, dass wir nicht irgendwann an einen Punkt kommen, wo
       man Nichteinverständnis nur noch mit Trillerpfeife und Galgen deutlich
       macht. Wir müssen im Gespräch bleiben.“ Es sind Sätze, die er oft sagt.
       
       Kühnert hat ein gutes Gespür für Menschen und Situationen. Im Gespräch
       blickt er dem Gegenüber ins Gesicht und konzentriert sich, als gäbe es
       jetzt und hier nichts Wichtigeres als zuzuhören. Er passt sich sprachlich
       an, Jüngere duzt er. Und bemüht sich, den Menschen nicht zu sehr nach dem
       Mund zu reden.
       
       Ein älterer Mann lobt die Entscheidung des Kanzlers, keine Taurus-Raketen
       zu liefern. Kein Einzelfall. Dafür, dass der Kanzler jede neue
       Waffengattung für die Ukraine erst nach länglicher Bedenkzeit genehmigt,
       wird er zwar von Journalisten und Politikerinnen gegeißelt, bei der
       Bevölkerung kommt es gut an. Aus „Zaudern“ wird „Bedacht“.
       
       Kühnert, der als Jugendlicher den Wehrdienst verweigerte, als
       Bundestagsabgeordneter im Sommer 2022 aber wie fast die gesamte Fraktion
       für das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen zur Aufrüstung der Bundeswehr
       stimmte, gibt dem Mann recht. „Ich lobe den Kanzler ja nur dort, wo ich es
       wirklich teile“, sagt er. Aber Scholz sei es gelungen, eine breite
       Unterstützung für die Ukraine zu wahren. „Sowohl bei denjenigen, die
       finden, das wird mir jetzt alles zu viel mit den ganzen Waffen, als auch
       bei denjenigen, die sagen, die Ukraine bräuchte mehr.“ Die Menschen nicken,
       viele klatschen.
       
       ## Gegen die Vermögensabgabe
       
       In einem Jugendzentrum in Neuruppin ist Kühnert dann am späten Nachmittag
       mit Jugendlichen verabredet. Etwa 100 Teenager sitzen vor der Bühne, das
       Format heißt „Popcorn und Politik“, es riecht süßlich. Er beantwortet ihre
       Fragen nach seinem abgebrochenen Studium, spricht darüber, wie er als
       Schüler in die Politik kam, hebt hervor, dass nun jede und jeder schon mit
       16 Jahren über das EU-Parlament mitbestimmen darf, und nimmt Komplimente
       für die Legalisierung von „Bubatz“ entgegen. „Aber wir haben Cannabis
       natürlich nicht freigegeben, damit möglichst viele Leute kiffen“,
       beschwichtigt er. Der Saal stöhnt auf. Manchmal wirkt Kühnert wie ein sehr
       gesetzter 34-Jähriger.
       
       Er sei einst seinetwegen bei den Jusos eingetreten, sagt ein junger Mann.
       Und er finde, auch als Generalsekretär mache Kühnert einen guten Job. „Auch
       wenn wir uns schon erhofft haben, dass er manche Dinge stärker infrage
       stellt: Die Finanzen, den Haushalt, die Schuldenbremse.“ Er ist einer der
       wenigen, die Kühnert auf Nachfrage auch kritisieren, will aber nicht
       namentlich zitiert werden.
       
       Die Frage, wie viel vom linken Rebellen eigentlich noch in Kühnert steckt,
       drängt sich immer mal wieder auf.
       
       Als ein Delegierter auf dem Parteitag im Dezember den Antrag für eine
       Vermögensabgabe stellt, hält Kühnert die Gegenrede. „Natürlich bin ich als
       Linker der grundsätzlichen Überzeugung, dass mehr Vermögensgerechtigkeit
       nötig ist“, sagt er im Mai in seinem Büro. Aber man hätte sich eben im
       Vorfeld in langen Diskussionen auf ein anderes Konzept geeinigt. Eines, das
       vor allem auf eine Reform der Erbschaftssteuer setzt. „Mir war wichtig,
       dass wir am Ende nicht mit einem Bauchladen rausgehen: Die SPD benennt alle
       Steuern, die ihr so einfallen.“ Schon als Juso habe er sich immer an
       parteiinterne Prozesse gehalten. „Es geht am Ende um Mehrheit und
       Akzeptanz.“
       
       ## Selbst der Kanzler hat ihn links überholt
       
       Der Antrag bekommt auf dem Parteitag eine Mehrheit. Die Delegierten wollen,
       dass die SPD nicht nur Vermögen von verstorbenen, sondern auch das der
       lebenden Millionär:innen zugunsten der Allgemeinheit abschöpft.
       
       „Wenn man Kevin zuhört, hört man bis heute die linke Juso-Schule heraus“,
       findet Annika Klose. Aber jetzt vertrete er eben die gesamte SPD, dazu mit
       einem Kanzler Olaf Scholz und nicht nur einen superlinken Jugendverband.
       Sie habe ein Grundvertrauen in Kühnert. „Einfach weil ich ihn schon so
       lange kenne. Er hatte immer ein gutes Gespür dafür, was durchsetzbar ist
       und was nicht.“
       
       Dieser Tage hat selbst der Kanzler Kühnert links überholt. Scholz forderte
       eine schrittweise Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Euro, Kühnert wandte
       sich gegen eine solche politische Festlegung, verwies auf die
       Mindestlohnkommission. Die hatte den Mindestlohn zuletzt um 41 Cent erhöht
       und das Arbeitnehmerlager dabei glatt übergangen.
       
       Es ist längst dunkel, als der Dienstwagen im März mit Kühnert aus
       Brandenburg wieder zurück nach Berlin braust. „Ist das Mc Donald’s da
       vorn?“, fragt er die Büroleiterin. „Schwingt da Hoffnung mit?“, fragt sie
       zurück. Sie halten an. Die erste richtige Mahlzeit an diesem Tag. „Ich muss
       mich ab und zu ermahnen, mich nicht in die Sachzwanglogik reindrängen zu
       lassen“, sagt Kühnert. Er trägt sich seit einiger Zeit größere Blöcke in
       den Kalender ein – zum Nachdenken. Und auf längeren Reisen hat er seine
       Wanderschuhe dabei. Wenn Zeit ist, geht er eine Runde allein spazieren.
       
       Seine Gedanken kreisen bereits jetzt um die Bundestagswahl und natürlich um
       das Duell der voraussichtlichen Kanzlerkandidaten von Union und SPD, Olaf
       Scholz und Friedrich Merz. Der CDU-Vorsitzende hat auf dem Parteitag
       betont, man denke die Gesellschaft vom Individuum her, nicht vom Kollektiv.
       Die Rede habe er mit ehrlicher Freude gehört, sagt Kühnert. „Man muss die
       beiden nicht schrill überzeichnen. Da sind einfach Unterschiede in
       Persönlichkeit, Welt- und Menschenbild, die in unterschiedliche politische
       Konzepte münden.“ Der eine setze auf Deregulierung, der andere auf einen
       starken Staat. „Diese Auseinandersetzung reizt mich jetzt schon“, sagt
       Kühnert. Noch rund 470 Tage bis zur Bundestagswahl.
       
       25 May 2024
       
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