# taz.de -- Retrospektive Sarah Lucas: Wo ist denn das starke Geschlecht?
       
       > Als wild galten die Young British Artist, zu denen Sarah Lucas gehört.
       > Eine Retrospektive in Mannheim betont ihre sozialkritische Perspektive.
       
 (IMG) Bild: Bunny auf der Motorhaube: Sarah Lucas: „SIX CENT SOIXANTE SIX“, 2023
       
       Was früher ein Aufreger war, erscheint 25 Jahre später in einem weniger
       grellen Licht. Als die Britin [1][Sarah Lukas 1999 in Berlin ausstellte],
       war das Medienecho groß. „Sex rules UK“ titelte die taz, „Nur echt mit
       Zigarette“ die FAZ und das Stadtmagazin Zitty unverblümt „Wenn Männer
       wichsen“.
       
       Bekannt geworden mit den Young British Artists, setzte die Künstlerin
       damals auf krasse Bilder voller Anspielungen auf männliche Dominanz. Wer
       jetzt ihre Werkschau in der Mannheimer Kunsthalle mit dem Titel „Sarah
       Lucas. Sense of Human“ besucht, lernt nicht nur die Vielfalt ihrer
       Ausdrucksformen kennen, sondern entdeckt auch die Zwischentöne ihrer
       absurden Gesten.
       
       Die Kuratorin Luisa Heese spricht von „einer der spannendsten Positionen
       der Skulptur der Gegenwart“. Die Ausstellung handele vom Menschen, von
       Normen, von Zuschreibungen, von „Maskulinitäten als soziale Konstruktion“.
       Die Künstlerin selbst macht weit weniger Aufhebens um ihre Person. Sie lebt
       heute auf dem Land in Suffolk und sinnierte kürzlich in einem Gespräch mit
       der britischen Tageszeitung Guardian über kostenlose Busfahrten, die ihr
       seit ihrem 60. Geburtstag zuteilwürden.
       
       Die schmale, mit leiser Stimme sprechende Künstlerin hat ihren Biss jedoch
       nicht verloren. Auch wenn sie selbst mit Distanz auf ihre frühen Werke
       blickt. Ikonisch wurde eine ihrer fotografischen Selbstporträts von 1996,
       das als Postkarte eine immense Verbreitung fand. „Selfportrait with fried
       eggs“ zeigt eine Person mit zerrissenen Jeans und olivgrünem Shirt
       breitbeinig in einem Armstuhl sitzend – mit zwei gebratenen Spiegeleiern
       auf den Brüsten.
       
       ## Die Provokation in der Vergangenheit wird zur Fototapete
       
       Diese „toughe“ Pose habe dazu geführt, dass sie auch als „toughe“ Person
       galt, sagt Sarah Lucas. Dabei sei das damals nichts Besonderes gewesen. Im
       Interview mit Johanna Adorján, das im Katalog zur Ausstellung nachzulesen
       ist, sagt sie: „Als Frau musste man sich darüber im Klaren sein, dass man
       nachts allein unterwegs verletzlich ist. Gefährdet. Ich hatte immer Doc
       Martens an. Das Androgyne hat mir sowieso gefallen.“
       
       Die Tochter eines Milchmanns kam eher zufällig zur Kunst. Sie studierte in
       London am Goldsmiths College, wo sie jene Künstler kennenlernte, mit denen
       sie unter dem Label „Young British Artists“ berühmt werden sollte. Das war
       der Titel der Ausstellung, die, kuratiert von Damien Hirst, 1988 für Furore
       sorgte und eine Gruppe unangepasster junger Leute ins Zentrum der
       Aufmerksamkeit katapultierte.
       
       Sarah Lucas selbst gelang der Durchbruch erst Mitte der neunziger Jahre. In
       dem sie sich männliche Posen aneignete und in surrealer Manier mit einem
       gerupften Huhn, einem schimmernden Lachs oder einem Totenkopf inszenierte,
       schuf sie rätselhafte, metaphorisch aufgeladene Bilder. In Mannheim zeigt
       die Künstlerin diese frühen Werke reinszeniert als monumentale Fototapeten.
       Lucas ergeht sich nicht in Männer-Bashing, sondern spiegelt das Verhalten
       und den eingeschränkten Blickwinkel des sogenannten starken Geschlechts.
       
       Heute gehört Sarah Lucas zu den führenden Künstlern Großbritanniens. Im
       vergangenen Jahr widmete ihr die Tate Britain in London eine große Schau,
       2015 repräsentierte sie das Land auf der Biennale von Venedig. [2][Ihr Werk
       wird von einflussreichen Galerien wie Sadie Coles] (London), Barbara
       Gladstone (New York) und CFA Contemporary Fine Arts (Berlin) vertreten.
       
       ## Sessel abgefackelt zur Eröffnung
       
       Die Berliner Galeristen Bruno Brunnet und Nicole Hackert (CFA) entdeckten
       Sarah Lucas zu Beginn der neunziger Jahre, als die Stadt noch im Jetlag des
       Mauerfalls lag. Brunnet erzählt im Katalog von der Zeit, als die Paris Bar
       unangefochten der place to be war. Für ihre erste Ausstellung 1996 in ihren
       neuen Räumen in Mitte steckten sie vor der Tür einen alten Sessel in Brand,
       nur wenige Minuten, damit er verkohlt aussah.
       
       Sarah hatte ihn zuvor in Berlin-Charlottenburg auf einem Balkon entdeckt
       und dem Besitzer abgekauft. Auf der Sitzfläche thront ein aus Zigaretten
       geformter Integralhelm. In der Mannheimer Ausstellung erinnert die Skulptur
       „Is Suicide Genetic?“ an die Ära kettenrauchender Motorradfahrer.
       
       Seit den nuller Jahren dominieren ihre grotesken „Bunnys“ ihre Produktion.
       Dabei handelt es sich um Figuren aus ausgestopften Strumpfhosen. Bündel aus
       gebastelten Genitalien und Beinen ohne Kopf lümmeln auf Stühlen, die von
       einer sexualisierten Gesellschaft erzählen. Reale Stühle und Sessel dienen
       ihren Figuren als Sockel.
       
       Es ist immer etwas Alltägliches in ihren Arbeiten, das das Überdrehte
       erdet. Für ihren Biennale-Auftritt 2015 im britischen Pavillon formte sie
       die Körper von Freundinnen von den Brüsten abwärts in liegender Pose ab.
       Einer dieser Torsi liegt auf einer Kühltruhe, im After eine Zigarette.
       
       Pop ist allgegenwärtig in ihrem Werk. Zeppelin-Skulpturen, wohl benannt
       nach der Rockgruppe Led Zeppelin, hängen wie ein stummer Soundtrack von der
       Decke. Es gibt Exemplare aus Beton, beklebt mit Coca-Cola-Logos oder
       hautfarben mit Unterarm in deutlicher Auf-und-ab-Bewegung. Ein Penis sei
       aber nicht zu sehen, bemerkt Sarah Lucas im erwähnten Interview. Die
       Interpretation überlässt sie den Betrachtern. „Die Bunnys haben durchaus
       Persönlichkeit“, bemerkt sie beim Rundgang durch die Mannheimer
       Ausstellung. „Finden Sie nicht?“
       
       17 Jun 2024
       
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