# taz.de -- Kunst und Freud: Heimelig ist fast unheimlich
       
       > Sigmund Freud beschäftigte sich mit Kunst, und die Kunst beschäftigt sich
       > mit ihm. Das zeigt die Ausstellung „Das Unheimliche“ im Freud-Museum
       > Wien.
       
 (IMG) Bild: In den privaten Räumlichkeiten von Sigmund Freud: „Misfits“ von Markus Schinwald, im Hintergrund Heidi Buchers „Häutungen“
       
       Die Berggasse im 9. Wiener Gemeindebezirk Alsergrund ist eine stille
       Straße. Sie liegt in einer Wohngegend, die vom boomenden Wiener
       Massentourismus noch verschont ist. In der Nummer 19 lebte und arbeitete
       Sigmund Freud 47 Jahre lang, bevor er 1938 vor den Nationalsozialisten
       fliehen musste.
       
       Das 1971 an seinem alten Wirkungsort eröffnete Sigmund-Freud-Museum ist
       schon lange kein Geheimtipp mehr und kann sich über wachsende
       Besucher*innenzahlen freuen. Zumal es nach umfangreicher Sanierung
       und Erweiterung im Jahr 2020 wiedereröffnet wurde und neben der gründlich
       durchlüfteten und nun sehr übersichtlich präsentierten Dauerausstellung im
       Mezzanin des großbürgerlichen Hauses in den authentischen Wohn- und
       Arbeitsräumen von Freud auch Raum für wechselnde Kunstausstellungen bietet.
       
       Ein Gedanke, der naheliegt, war Sigmund Freud doch selbst auch
       Kunstsammler, der 1896 eine Kopie von Michelangelos Skulptur „Sterbender
       Sklave“ erwarb und damit den Grundstein für seine Antikensammlung legte.
       Sie umfasste vor allem altägyptische und altgriechische Objekte, die er
       auch in seinen Behandlungsräumen zeigte. Zur gleichen Zeit, als Freud
       anfing, Kunst zu sammeln, begann er übrigens auch, Träume zu sammeln. Ein
       Grund mehr, an diesem Ort auch Kunst zu zeigen.
       
       Das Interesse an Freud wachse kontinuierlich, berichtet Direktorin Monika
       Pessler – und hat für den Run auf den Psychoanalytiker eine einfache
       Erklärung: „Die globalen Krisen, die Kriege, die Leute suchen nach
       Antworten. Das meistverkaufte Buch im Shop derzeit ist 'Warum Krieg?“‚
       Freuds Briefwechsel mit Albert Einstein.“
       
       Die auratische Verstärkung des Authentischen 
       
       Vielfältigste Antworten der Kunst auf Sigmund Freuds grundstürzende
       Theorien präsentiert derzeit die sehenswerte Ausstellung „Das Unheimliche.
       Sigmund Freud und die Kunst“, die in Kooperation mit der Kunsthalle
       Tübingen entstanden ist und in Wien in verkleinerter Version zu sehen ist.
       Dafür profitiert die Schau von der auratischen Verstärkung des
       Authentischen, das der [1][Geburtsort der Psychoanalyse] ungebrochen
       ausstrahlt.
       
       Nur von der Straße einsehbar ist der Schauraum, der eine irritierende
       Installation von Stephanie Pflaum auch jedem zufälligen Spaziergänger
       präsentiert: „Haut“ ist eine aktuelle Arbeit der österreichischen
       Künstlerin und wurde eigens für den Schauraum kreiert. Dort ist hinter Glas
       eine verführerisch drapierte, luxuriöse Robe mit verschwenderisch
       verzierten Stoffen zu sehen. Bei genauem Hinsehen erkennt man menschliche
       Zähne, gereiht wie Perlen, unter Schleierstoff durchblutete Organe, haarige
       Versatzstücke und winzige Embryonen. Unheimlich.
       
       Drinnen geht eine weitere Arbeit dem sensiblen Thema „Haut“ nach, nämlich
       die Experimente der [2][Konzeptkünstlerin Heidi Bucher,] die in den 1970er
       Jahren Objekte und Möbel bis hin zu ganzen Zimmer-Interieurs mit einer
       Latexschicht überzog, die sie später wieder abzog. Die Ergebnisse der
       ausgestellten „Häutungen“ stellen auch Bezüge zu Freuds ehemaligem Wohnraum
       her. 1990 schuf Bucher auch „Abzüge“ des Schweizer Sanatoriums Bellevue, in
       dem unter anderem Freuds prominente Patientin Anna O. behandelt wurde.
       
       Aus jüngerer Zeit stammen zwei Videoarbeiten von Hans Op de Beeck, „Night
       Time“ (2015), und „Childhood Kingdom“ (2023) von Kay Walkowiak, die im
       Videoraum im Loop mit den Home-Movies der Familie Freud gezeigt werden, ein
       nachdenklicher Dialog zwischen Traum und Wirklichkeit.
       
       Wie aus einem Horrorfilm 
       
       Eine der eindrucksvollsten Arbeiten ist [3][ein Fototableau von Gregory
       Crewdson] aus der Serie „Twilight“ von 2001/2002, eine hyperrealistisch
       inszenierte Szene wie aus einem subtilen Horrorfilm, eine
       Familienaufstellung der unheimlichen Art: In einer düsteren Küche ist der
       Tisch gedeckt, Vater und Sohn sitzen einander am Esstisch gegenüber, die
       Atmosphäre ist zum Zerreißen gespannt, die jüngere Tochter blickt dagegen
       verstört ins Leere.
       
       Niemand schaut zur geöffneten Tür, durch sie hat die Mutter nackt durch
       einen Scherbenhaufen schlurfend das Zimmer betreten. Im Hintergrund ein
       Messie-Szenario, gestapeltes Geschirr, Essensreste, Müll. In der Luft
       liegen unausgesprochene Konflikte. Die nackte Mutter, ihr früh gealterter
       Körper, ihre offensichtliche Unsichtbarkeit drängt eine psychoanalytische
       Deutung förmlich auf – Verschweigen, Gewalt, ödipale Verstrickungen. Ein
       beklemmendes Bild.
       
       Der Titel der Ausstellung „Das Unheimliche. Sigmund Freud und die Kunst“
       leitet sich ab aus einem Text von Freud selber, in dem er bereits 1919 auf
       die Fähigkeiten der Künste verwies, dem Unheimlichen Ausdruck zu verleihen.
       Darin berief er sich zwar vor allem auf die Dichtung. Aber die „Fiktion des
       Unheimlichen“ erschien ihm sogar noch reichhaltiger als das Erlebte. Das
       Unheimliche ist, wie der Analytiker feststellt, eben gerade nichts „Neues
       oder Fremdes, sondern (…) Vertrautes“. Das Unheimliche wohnt also in
       Wahrheit im Heimeligen.
       
       4 Aug 2024
       
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